Kindermord und Kunstblut

Milo Raus Medeas Children (Bild: pd/Michiel Devijver)

Was ist man bereit, unter dem Deckmantel der Kunst auszuhalten? Das Theaterstück Medeas Children von Milo Rau testet in der einzigen St.Galler Aufführung die Grenzen des Publikums.

Blut aus Hals­schlag­adern, live auf der Büh­ne. Dass Mi­lo Raus Thea­ter­stück Me­de­as Child­ren kei­ne leicht ver­dau­li­che Kost sein wür­de, dürf­te al­len klar ge­we­sen sein: Trig­ger-War­nun­gen auf der Web­site, auf den Stu­fen des Thea­ters. Das Stück ist mit FSK 16 ver­se­hen, es spie­len aber fast aus­schliess­lich Kin­der zwi­schen acht und 14 Jah­ren mit.

Der St.Gal­ler Re­gis­seur ist be­kannt für ra­di­ka­le Stof­fe und po­li­ti­sche Zu­spit­zung. Me­de­as Child­ren ist da kei­ne Aus­nah­me: Die Ge­schich­te der my­thi­schen Me­dea trifft hier auf den rea­len Fall ei­ner bel­gi­schen Mut­ter, im Stück heisst sie Aman­di­ne Mo­reau, die 2007 ih­re fünf Kin­der er­mor­de­te.

Der Schul­ter­schluss zwi­schen My­thos und re­al be­gan­ge­nem Ver­bre­chen ist eben­so kal­ku­liert wie ver­stö­rend. Da­bei steht wohl vor al­lem die Fra­ge im Zen­trum, was das Pu­bli­kum al­les aus­hält, so­lan­ge es als Kunst ver­packt ist. Und wie sich zeigt, ist das so ei­ni­ges.

Es be­ginnt mit dem En­de

Das Stück be­ginnt mit dem «Af­ter­talk», zu dem Thea­ter­coach Pe­ter Sey­nae­ve, der ein­zi­ge Er­wach­se­ne, das Pu­bli­kum herz­lichst be­grüsst. Lo­cker un­ter­hält er sich mit den sie­ben Kin­der­dar­stel­ler:in­nen (An­na Mat­thys, Em­ma Van de Cas­te­e­le, Ja­de Vers­luys, Ga­briël El Houa­ri, San­ne De Wae­le, Vik Nei­rinck), die im Halb­kreis auf der Büh­ne sit­zen. War­um die Kin­der hier bei die­sem Stück mit­ma­chen, fragt er. Na­tür­lich weils Spass macht!

Was hier so echt und un­mit­tel­bar wirkt, ist schon Teil des Stü­ckes. Ein dra­ma­tur­gi­scher Kunst­griff, der dem Pu­bli­kum ver­si­chert, dass es den Kin­dern gut geht. Und das muss man hier auch ein­fach glau­ben, weil das, was kommt, sonst un­er­träg­lich wä­re.

Vom «Af­ter­talk» wech­seln die Kin­der mit spie­le­ri­scher Leich­tig­keit in die ei­gent­li­che Hand­lung des Stücks hin­ein. Und es ent­fal­tet sich die Ge­schich­te der Me­dea, par­al­lel da­zu die bel­gi­sche Tra­gö­die. Ei­ne Lein­wand mit Film­pro­jek­ti­on bil­det die Ku­lis­se des Thea­ter­stücks. Bald wer­den die Kin­der selbst zur Ku­lis­se: Ih­re Ge­sich­ter er­schei­nen auf der Lein­wand, je­des Zu­cken in Nah­auf­nah­me. Et­wa wenn Ga­briël mit Trä­nen in den Au­gen aus der Per­spek­ti­ve von Mo­re­aus Mann vom Ver­lust sei­ner Kin­der er­zählt.

Mor­den in Nah­auf­nah­me

Im­mer wie­der keh­ren die Sze­nen zu­rück zum «Af­ter­talk». Hier spre­chen die Kin­der über das ge­ra­de Ge­spiel­te. Sie re­flek­tie­ren, brin­gen das Pu­bli­kum mit alt­klu­gen Aus­sa­gen zum La­chen, mit tief­grün­di­gen zum Ver­stum­men. Die Kin­der spie­len gut, un­heim­lich gut. Die­se Sou­ve­rä­ni­tät ent­las­tet das Pu­bli­kum, sug­ge­riert Zu­stim­mung. Und dar­an klam­mert man sich: Es ist al­les nur ein Spiel, den Kin­dern geht es gut.

Moment der Reflexion (Bild: pd/Michiel Devijver)

Dann es­ka­liert die Ge­walt. Und zwar mit er­schüt­tern­der Kon­se­quenz. Es ge­schieht, was von An­fang an klar war: Die Mut­ter, ge­spielt von Ja­de, er­mor­det ih­re Kin­der. Er­bar­mungs­los wird das hy­per­rea­lis­ti­sche Schlach­ten als Film­pro­jek­ti­on ge­zeigt. Mit li­ter­wei­se Kunst­blut, das aus pul­sie­ren­den Hals­schlag­adern rinnt – na­tür­lich al­les in Nah­auf­nah­me. Be­glei­tet wird das Grau­en von den gel­len­den Schrei­en der Kin­der, die ei­nem tief in die Kno­chen fah­ren. 

Der ers­te Mord dau­ert un­glaub­lich lan­ge. Die Stil­le im Saal wäh­rend der Sze­ne ist er­drü­ckend. Man hofft, der zwei­te Mord mö­ge schnel­ler ge­hen. Doch es gibt kei­ne Be­schleu­ni­gung. Nach ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit ist das grau­sa­me Tö­ten be­en­det. Auf der Büh­ne lie­gen fünf blut­über­ström­te Kin­der­lei­chen. In die Schock­star­re des Pu­bli­kums hin­ein ruft der Thea­ter­coach Pe­ter: «Schnitt». Die Kin­der be­we­gen sich. Er­lö­sung. Es ist wirk­lich al­les nur ge­spielt.

Al­les in Ord­nung?

Me­de­as Child­ren ist ei­ne Zu­mu­tung. Das Stück kon­fron­tiert das Pu­bli­kum nicht nur mit der Dar­stel­lung von Ge­walt, son­dern auch mit dem noch viel schwe­rer er­träg­li­chen Im­puls, sie zu recht­fer­ti­gen. Und es zeigt sich, dass sich im Na­men der Kunst so ei­ni­ges an Ge­walt recht­fer­ti­gen lässt und das Pu­bli­kum auch ger­ne be­reit ist, die­se Ge­walt aus­zu­hal­ten. Auch dann, wenn zur Un­ter­hal­tung von Er­wach­se­nen ein Kind an­de­re Kin­der auf der Büh­ne er­mor­det.

Haupt­sa­che ist, dem Pu­bli­kum wird kon­ti­nu­ier­lich ver­si­chert: Al­les ist in Ord­nung, den Kin­dern geht es gut, al­les ist nur ge­spielt. Rich­tig zy­nisch ist das, weil ge­nau die­se Ver­si­che­rung Teil des Stü­ckes ist und da­mit nicht mehr als ei­ne mo­ra­li­sche Pla­ce­bo-Pil­le, die nur wirkt, so­lan­ge man dar­an glaubt.

In St.Gal­len wur­de das Stück le­dig­lich ein­mal auf­ge­führt, ob­wohl ur­sprüng­lich zwei Aben­de ge­plant wa­ren. Über die Grün­de darf spe­ku­liert wer­den. Am Ran­de der Thea­ter-Pres­se­kon­fe­renz zur kom­men­den Spiel­zeit hiess es, dass es Gast­spie­le grund­sätz­lich schwer hät­ten. Mi­lo Rau, der an dem Abend per­sön­lich nicht vor Ort sein konn­te, schrieb auf An­fra­ge, er wis­se es auch nicht ge­nau. Aber er ver­mu­te, es hän­ge da­mit zu­sam­men, «dass ei­ne der Schau­spie­ler:in­nen krank ge­wor­den ist und wir des­halb nur mit ei­nem Cast spie­len kön­nen – und die Zeit, die Kin­der pro Wo­che auf der Büh­ne sein kön­nen, ist lei­der sehr be­grenzt».

So oder so: Ge­reicht hat es am Sams­tag trotz­dem für ei­ne Stan­ding Ova­ti­on, auch wenn man sich schon fra­gen darf, was man da ei­gent­lich ge­nau be­klatscht.