Kino zwischen Zensur und Marginalität
Das lateinamerikanische Filmfestival Pantalla Latina legt dieses Jahr den Fokus auf Kuba. Zu sehen gibt es unter anderem drei Filme, die mit Unterstützung offizieller Stellen realisiert, danach aber verboten wurden.
Beim Schreiben dieses Textes gehen Bilder der in totale Finsternis getauchten kubanischen Hauptstadt um die Welt. Doch nicht nur Havanna, sondern ganz Kuba ist vom Zusammenbruch der Stromversorgung betroffen. Bei Erscheinen dieses Textes dürfte es dann wohl – zumindest stundenweise – in einigen Teilen Kubas wieder Strom geben. «Mit höchster Priorität arbeitet man an der Lösung des Problems», und: «Schritt für Schritt wird man die Versorgung wieder hochfahren». Das liess Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel am 19. Oktober treuherzig in der Parteizeitung «Granma» verkünden. Worauf am nächsten Tag, nach etwas Geflacker, die Lichter erneut ausgingen.
Das Szenario dürfte sich in nächster Zeit wiederholen. Dabei gehören Stromunterbrüche schon seit Jahren, spätestens seit der Pandemie, zum Alltag der Menschen in Kuba. Aber dass die ganze Insel so flächendeckend wie unvermittelt und während mehr als einem Tag ohne Elektrizität blieb, das hat es so in Kuba noch nie gegeben. Man kann es auch als Symbol sehen für den Zustand der krisengeschüttelten Karibikinsel 65 Jahre nach dem Sieg der einst mit so vielen Erwartungen verbundenen Revolution.
Die Blütezeit ist vorbei
Was das Kino Kubas betrifft, gehörten seine Filme vor allem in den 1990er- und den frühen Nuller-Jahren zu den weltweit meistbeachteten und erfolgreichsten ganz Lateinamerikas. Werke wie Fresa y chocolate von Tomás Gutierrez Alea und Juan Carlos Tabío, La vida es silbar von Fernando Pérez oder Lista de espera von Juan Carlos Tabío erreichten Publikumszahlen wie Blockbuster. Doch das ist Geschichte, Alea und Tabio sind tot, einzig Fernando Pérez, der demnächst seinen 80. Geburtstag feiert, ist weiterhin aktiv. Einer seiner Filme, Últimos días en La Habana, war der bis dahin letzte aus Kuba, der erfolgreich in hiesigen Kinos lief. Doch auch das ist schon sieben Jahre her, seither kamen nur noch sporadisch und kaum beachtet kubanische Filme in Schweizer Kinos.
Im vergangenen Sommer stand dann mit Landrián endlich wieder einmal ein neuer kubanischer Film auf der einheimischen Kinoagenda. Das Thema des Dokumentarfilms von Ernesto Daranas – einem Regisseur, der 2014 mit dem Sozialdrama Conducta international Erfolg feierte – ist bezeichnenderweise eines, das im Kino des revolutionären Kuba immer mal wieder präsent war: die Zensur.
Pantalla Latina 2024: 14. bis 23. November, Kino Scala 2, St.Gallen
Landrián, mit dem das St.Galler Filmfestival Pantalla Latina dieses Jahr seinen Kuba-Schwerpunkt eröffnet, reflektiert Leben und Werk von Nicolás Guillén Landrián. Der so geniale wie visionäre kubanische Cineast sorgte in den 1960er-Jahren mit einigen Dokumentarfilmen über das Alltagsleben in Kuba für Furore, wurde dann aber wegen seiner frechen und unverblümten Art, dieses Leben zu zeigen, von der Zensur zum Schweigen gebracht. Es war wohl vor allem der Bekanntheit von Ernesto Daranas zu verdanken, dass sein Film über diesen grossen vergessenen Filmkünstler Landrián immerhin am Filmfestival von Havanna öffentlich gezeigt werden konnte.
Drei verbotene Filme
Andere kubanische Filmschaffende hatten in dieser Hinsicht weniger Glück. Im Programm von Pantalla Latina 2024 finden sich nämlich gleich drei Filme, die in Kuba von kubanischen Regisseuren und mit Unterstützung offizieller Stellen realisiert, dann aber verboten wurden: Santa y Andrés (2016) und Vicenta B. (2022), beide vom mittlerweile im spanischen Exil lebenden Regisseur Carlos Lechuga, sowie der Dokumentarfilm La Habana de Fito von Juan Pin Vilar.
Bei den Filmen von Carlos Lechuga lief es konkret so, dass sie, nach ihrer Weltpremiere am renommierten Filmfestival von Toronto, ihre Kuba-Premiere am Filmfestival Havanna hätten erleben sollen, dann aber in letzter Minute aus dem Programm gekippt wurden. Bei Santa y Andrés, einer im Kuba der 1980er-Jahre angesiedelten Tragikomödie um Repression gegen einen homosexuellen Literaten, ging es so weit, dass der Film bereits im gedruckten Festivalkatalog aufgeführt war. Dann aber hiess es, man könne zehn Tage nach dem Tod von Fidel Castro einen Film mit einem so negativen Kuba-Bild nicht zeigen.
Santa y Andrés
Bei Vicenta B., einem bildstarken Drama um eine Spiritistin im krisengeschüttelten Kuba des Jahres 2022, rechtfertigte man das Verbot des Films mit der Begründung, der Regisseur habe sich in den sozialen Medien beleidigend über Repräsentanten des kubanischen Kulturministeriums geäussert.
Noch aufschluss- und folgenreicher als diese beiden Zensurfälle ist jener von La Habana de Fito. Der Regisseur Juan Pin Vilar porträtiert in diesem formal eher konventionellen Dokumentarfilm den Argentinier Fito Paez, einen in ganz Lateinamerika bekannten Rockmusiker. Als Sänger, Songwriter und Multiinstrumentalist hat der 1962 geborene Paez seit den 1980er-Jahren eine so innige Beziehung zu Kuba und seiner Musikszene wie kaum ein anderer ausländischer Musiker.
Paez konnte beispielsweise 1996 als erster Ausländer überhaupt auf Havannas legendärem Revolutionsplatz ein Konzert geben – von Zehntausenden bejubelt. Bei dieser Gelegenheit wurde er auch von Fidel Castro empfangen und stand von da an regelmässig mit einigen von Kubas bekanntesten Musik-Acts auf den grössten Konzertbühnen der Insel, darunter Pablo Milanes, die Gruppe Los Van Van oder der Flötist und Bandleader José Luis Cortés.
Die Mythen der Revolution entkräftet
Juan Pin Vilar zeigt viele mitreissende Ausschnitte dieser Auftritte und kontrastiert diese Archivaufnahmen mit dem, was das Zentrum von La Habana de Fito bildet: ein Gespräch des Regisseurs mit Paez auf einer Dachterrasse im Zentrum Havannas samt berauschendem Ausblick auf das Häusermeer und den Atlantik. Darin äussert sich Paez eindrücklich über seine Liebe zu Kuba, zu seinen Menschen, zu seiner Revolution. An einer Stelle sagt er beispielsweise: «Es hat für mich so viele Mythen gegeben, etwa jene von Fidel, der Revolution und des US-Embargos – letzteres, etwas, das sehr real ist und auch viel Leid verursacht hat.»
Dann aber schildert Paez, wie die Mythen einem brutalen Reality Check unterzogen wurden. Zum einen durch eine zufällige Begegnung mit der Witwe des Revolutionshelden Camilo Cienfuegos. Die Frau habe ihm glaubhaft dargelegt, dass die Ursache für den mysteriösen Tod ihres Mannes 1960 kein tragischer Unfall gewesen sei, wie offiziell verbreitet, sondern vielmehr der gezielte Abschuss des Kleinflugzeugs, in dem er sich befand.
Die andere Begebenheit handelt von drei jungen Männern, die im April 2003 ein Fährschiff in der Bucht von Havanna entführt hatten, um so nach Miami zu gelangen. Nur drei Tage nach ihrer Verhaftung durch die kubanische Küstenwache wurden sie in einem summarischen Prozess zum Tod verurteilt und sechs Tage später erschossen.
Der Film blendet bei Paez’ Schilderungen dieses Ereignisses die Titelseite der Parteizeitung «Granma» vom Folgetag der Erschiessung mit einer Verlautbarung Fidel Castros ein: «Die revolutionäre Führung Kubas war sich des politischen Preises der Massnahmen bewusst, die anzuwenden sie sich gezwungen sah. Niemand soll denken, dass das nicht gut analysiert worden wäre, in all seinen Aspekten.» Fito Paez sagt dazu: «Wenn man das in so roher, brutaler Weise vermittelt bekommt, diesen absurden Tod der drei Unglücklichen, ja, das hat mich in einer sehr negativen Weise reagieren lassen.»
Die kubanische Kulturszene protestiert
Die Weltpremiere von La Habana de Fito war schliesslich im April 2023 im Rahmen eines kleinen Festivals in einem Filmtheater der kubanischen Hauptstadt vorgesehen, wurde dann aber vom Kulturministerium ausdrücklich und ohne Begründung verboten. Doch nicht nur das: Zwei Monate später wurde ein vom Regisseur nicht autorisierter Rohschnitt des Films im kubanischen Staatsfernsehen gezeigt – ohne vorherige Ankündigung und «eingebettet» in die «Einordnungen» von drei Chefideologen des Kulturministeriums. Die drei verbeamteten Kritiker ereiferten sich über so manches an dem Film, besondere Aufmerksamkeit aber liessen sie den zwei erwähnten, am stärksten der offiziellen Lesart widersprechenden Episoden zukommen: jener über den Tod von Camilo Cienfuegos und jener über die Erschiessung der drei Bootsentführer. «Fito ist über die kubanische Realität schlecht informiert», waren sich die drei einig.
Diese plumpe Manipulation, verbunden mit einer flagranten Verletzung des Urheberrechts, schreckte die kubanische Filmszene in nie gesehener Weise auf: Unter Federführung einiger der bekanntesten Cineasten des Landes, allen voran Fernando Pérez und Ernesto Daranas, wurde ein an die Regierung gerichtetes Protestschreiben aufgesetzt. Innert Kürze unterzeichneten es Hunderte kubanischer Kulturschaffender. Und kurz darauf formierten sich die Cineasten unter ihnen zu einer bis heute aktiven Vereinigung: der Assamblea de Cineastas Cubanos (ACC), einem Verband, der explizit ein unabhängiges Gegengewicht zum bürokratischen Apparat des Filminstituts ICAIC und des Kulturministeriums sein will und gegen die Zensur ankämpft. Vor Beginn des Filmfestivals von Havanna im Dezember 2023 forderte die ACC dann, La Habana de Fito ins Programm aufzunehmen – vergeblich.
Von Argentinien aus sandte Fito Paez daraufhin als Gruss und Aufmunterung ein Video an die ACC und wandte sich darin auch explizit an Kubas Regierung: «Es ist 64 Jahre her, meine Herren. Das ist es, es ist vorbei. Genug davon, der US-‹Blockade› die Schuld zu geben. Sie sollten nach anderen, intelligenteren Wegen suchen, damit die Menschen nicht weiterhin an Hunger oder auf dem offenen Meer sterben. Manchmal versagen Systeme und man bleibt in der Klemme hängen. Es ist kein einziges Menschenleben wert, wenn irgendjemand aus Eitelkeit sich an eine Idee klammert. Sie denken, Sie seien Kuba, aber die kubanische Bürokratie ist nicht Kuba. Seit wann repräsentieren ideologische Flaggen das Leben der Menschen? Es ist nichts weiter als Eitelkeit und Blutvergiessen in der Geschichte, nichts weiter.»
Der Kuba-Fokus am Pantalla Latina
Als «einzigartige Insel Zentralamerikas» und «magisches Land» bezeichnet das Programmheft des 16. Filmfestivals Pantalla Latina in St.Gallen sein diesjähriges Schwerpunktland Kuba in geografisch und inhaltlich diskutabler Weise. Wie bereits die letztjährige Ausgabe, geht auch dieses Festival verteilt über zwei Wochenenden im Kino Scala 2 über die Bühne. Insgesamt werden 16 Spiel- und 13 Kurzfilme aus Lateinamerika gezeigt. Kubanisches Filmschaffen gibt es an den zwei Samstagen.
Am 16. November zwischen 14 und 20.30 Uhr sind gleich fünf kubanische Filme hintereinander zu sehen (Landrián, En la caliente, La Habana de Fito, Santa y Andrés, La mujer salvaje). Das Festival endet am Samstagabend, 23. November, mit Che, Memorias de un año secreto und Vicenta B.. Dazwischen findet die Verleihung des Publikumspreises für den besten Kurzfilm statt – die Kurzfilme werden am 14. November gezeigt.
Auch dieses Jahr sind wieder mehrere Filmschaffende und Protagonist:innen zu Gast bei Pantalla Latina. Zur Vorführung von Vicenta B. am 23. November ist Regisseur Carlos Lechuga für ein Filmgespräch vor Ort. Lola Amores, die Protagonistin von Lechugas Film Santa y Andrés wird am 16. November bei der Filmvorführung anwesend sein und anschliessend auch bei jener von La mujer salvaje, in dem sie ebenfalls die Hauptrolle spielt. Gemeinsam mit dem Regisseur und Drehbuchautor Alán González präsentiert sie den Film. González seinerseits ist bereits am ersten Festivalabend, dem 14. November, mit seiner neuesten Regiearbeit, dem Kurzfilm Azul Pandora, zu Gast.