, 1. September 2020
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«Klimaschutz ist nicht irgendein Randthema»

Die St.Galler Stadtbevölkerung stimmt am 27. September über den Klimaartikel in der Gemeindeordnung ab. Bis 2050 soll die Stadt klimaneutral und vollständig dekarbonisiert sein. Was das heisst und wie das gehen soll, erklärt Stadtrat Peter Jans im Interview.

Braucht keinen Parkplatz in der Innenstadt: Stadtrat Peter Jans, Direktor Technische Betriebe. (Bild: hrt)

Zumindest auf strategischer Ebene ist Klimaschutz auch in der Stadt St.Gallen angekommen. Jetzt soll er auch in der städtischen Gemeindeordnung (Verfassung) verankert werden. Wegen Corona wurde die Abstimmung vom 17. Mai auf den 27. September verschoben. Im Stadtparlament gab es nur gerade eine Gegenstimme zur Vorlage. Gehts in der Stadt also endlich vorwärts mit konsequentem Klimaschutz? Saiten hat bei Stadtrat Peter Jans, Direktor Technische Betriebe, nachgefragt.

Saiten: Die Grafik im Abstimmungsbüchlein zeigt einen rückläufigen CO2-pro-Kopf-Ausstoss in der Stadt St.Gallen seit 2005. Ist also alles in Ordnung?

Peter Jans: Zuerst muss man festhalten, dass hier die CO2-Äquivalentzahlen ohne Flüge, ohne Konsum und ohne «graue Emissionen» berechnet wurden. Die abgebildeten Werte sind effektiv rückläufig. Um 2005 wurde mit knapp 5 Tonnen CO2 pro Person der Peak erreicht. Die Prognose fürs 2020 mit rund 3,8 Tonnen ist plausibel. Gemäss aktuellsten Zahlen werden wir sogar nur 3,6 Tonnen erreichen.

Warum sinkt der CO2-Ausstoss?

Im Gebäudebereich ist viel passiert. Wir haben die Fernwärme ausgebaut, Häuser wurden energetisch saniert und Neubauten benötigen nur noch einen Bruchteil der Energie. Dass wir bis 2050 auf Null kommen, braucht aber schon noch grosse Anstrengungen.

Bleiben wir kurz bei den Zahlen: Wie werden diese berechnet?

Die Zahlen stammen zum grössten Teil aus der städtischen Energiebuchhaltung. Hier sind wir im Vergleich zu anderen Schweizerstädten sehr gut dokumentiert. Die Wärme-, Strom- und Gaszahlen lesen die St.Galler Stadtwerke ab, sie sind also effektiv gemessen. Den Ölverbrauch schätzen wir. Die etwas über 10’000 Häuser der Stadt werden entsprechend ihrem Alter, dem Gebäudevolumen und der Energiebezugsfläche eingestuft. In der Summe ergibt das eine ziemlich genaue Schätzung. Beim Verkehr wissen wir zudem viel über gefahrene Kilometer, durchschnittlicher Flottenverbrauch und Alter der Fahrzeuge. Wir haben keine CO2-Zertifikate gekauft, die Zahlen sind also nicht geschönt. Sie widergeben den tatsächlichen Ausstoss vor Ort.

Der Ausstoss vor Ort lässt aber ausser Acht, dass der effektive Pro-Kopf-Ausstoss dreimal höher ist als die Zahlen im Abstimmungsbüchlein.

Es besteht international ein Konsens, dass man sich bei den CO2-Zahlen am «Territorialprinzip» orientiert, sprich: wir messen, was wir vor Ort ausstossen. Wir können auch nur vor Ort direkt Einfluss nehmen auf den CO2-Ausstoss.

In der Gemeindeordnung soll der Satz stehen: «Die Stadt verfolgt das Ziel, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden.» Ein unbedingter Wille, dass dieses Ziel auch erreicht wird, tönt aber anders. Hat man so vorsichtig formuliert, damit das Stadtparlament dem Artikel zustimmt?

Diese Formulierung ist vor allem juristisch begründet. Wir dürfen nichts in die Gemeindeordnung schreiben, wenn wir nicht zu 100 Prozent garantieren können, dass wir das Ziel erreichen. Und weil die Erreichung des Ziels eben auch von vielen Faktoren abhängt, die Stadtrat und Stadtparlament nicht beeinflussen können, gibt es eben auch keine Garantie. Der jetzige Stadtrat – und nach meiner Einschätzung auch das Parlament – haben aber den Willen, das Ziel zu erreichen. Im Verkehrsreglement steht auch: «Die Stadt ist bestrebt», mit dem Ausbau des Angebotes für ÖV, Velo- und Fussverkehr «das Wachstum des Gesamtverkehrsaufkommens abzudecken». Ich persönlich formuliere gerne verbindliche Ziele. Aber die Formulierung ist letztlich nicht entscheidend. Das Ziel bleibt dasselbe.

Unter «klimaneutral» versteht der Stadtrat «Netto Null» und damit 0 Tonnen CO2-Ausstoss vor Ort bis 2050. Erklärtes Ziel ist die «vollständige Dekarbonisierung». Wie soll das gehen?

Es ist ein durchaus ehrgeizigies aber kein unerreichbares Ziel. Wir müssen bei den drei grössten Brocken ansetzen: Wärme, Mobilität, Industrie. Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir weg von Öl und Erdgas?

Was kann die Stadt konkret unternehmen?

Wir müssen noch mehr in Fernwärme investieren. Auch Erdsonden und gasbetriebene Nahwärmeverbunde sind Teil der Lösung. Das bedingt aber auch, dass Gas bis 2050 klimaneutral ist. Erneuerbares Biogas ist begrenzt, die Preise könnten explodieren, wenn die Nachfrage plötzlich extrem zunimmt. Es braucht also synthetisches Gas, das klimaneutral produziert wird.

Gas wird auch für die Fernwärme benötigt.

Ja, in den Kältemonaten wird zusätzlich mit Gas geheizt. Das macht aber auch Sinn, weil so enorm viel mehr Gebäude ganzjährig mit Fernwärme beheizt werden können und dafür nur vergleichsweise wenig zusätzliches Gas benötigt wird. Bei den Erdsonden stellt sich ebenso die Frage nach genügend vorhandenem sauberem Strom. Wir sind also in vielerlei Hinsicht auch vom technologischen Fortschritt abhängig.

Was muss im Stadtverkehr passieren?

Das aktuelle Mobilitätskonzept sieht vor, dass ab 2035 keine neuen Verbrennungsmotoren in Betrieb genommen werden. Das ist nicht utopisch. Die Entwicklung der Elektromotoren lässt sich nicht aufhalten.

Ist eine autofreie Innenstadt denkbar?

Man kann eine Innenstadt auch mit Fahrzeugen fluten, die nicht mit fossilen Energien betrieben sind. Die Dekarbonisierung löst das Platzproblem nicht. Wir müssen die Umstellung der Antriebstechnik vorantreiben und gleichzeitig das Volumen verringern. Mehr ÖV, mehr Velos, mehr Sharing, City Logistik. Unsere Altstadt ist ja bald autofrei. Aber dass die Innenstadt beispielsweise vom Theater bis zur Leonhardsbrücke autofrei wird, kann ich mir nicht vorstellen. Mit den heutigen Verhaltensweisen der Menschen wird man das nicht durchsetzen können.

Wie kommt die Stadt gegen den politischen Druck jener Kreise an, die sich gegen Klimaschutzmassnahmen sträuben – etwa der Hauseigentümerverband?

Diese Opposition richtet sich gegen Vorschriften oder Verbote und wird damit also vor allem beim Kanton wahrgenommen, weil dieser Vorschriften erlassen kann. Wir als Stadt arbeiten vor allem mit Anreizen und Förderung wie beispielweise bei der Fernwärme. Wir arbeiten stark mit dem Gewerbe zusammen, die Opposition nehme ich hier nicht wahr.

Also nochmals die Frage: Ist vor dem Hintergrund des eingeschränkten Handlungsspielraums der Stadt «Netto Null» überhaupt realistisch?

Entscheidend wird die CO2-Bepreisung sein, die derzeit auf Bundesebene ausgehandelt wird. Je teurer der Ausstoss wird, desto rascher die Entwicklung hin zu erneuerbaren Energieträgern. Auch bei Gebäuden dürfte ein schrittweiser Abbau folgen und fossile Heizungen faktisch irgendwann verboten sein. Wir leben nicht auf einer Insel.

Wie will die Stadt das Problem der «grauen», also des nicht vor Ort produzierten CO2-Ausstosses angehen?

Hier kann die Stadt vor allem eine Vorbildfunktion einnehmen. Etwa im öffentlichen Beschaffungswesen haben wir noch Luft nach oben. Das geht von Fahrzeugen über Mobiliar bis runter zum Putzmittel und WC-Papier. Wir müssen auch mehr auf Photovoltaik setzen, auch wenn diese – bei der Produktion der Panele – im Moment nocht nicht CO2-neutral ist. Allgemein muss ein Umdenken stattfinden: nachhaltiger Konsum, Stoffkreisläufe, etc.

Gegner sprechen dann schnell von «Umerziehung».

Aufklärung und Umerziehung: Das ist eine Gratwanderung. Der Staat kann nicht alles, es braucht auch die Zivilgesellschaft, die Bewegungen. Ich hoffe sehr, dass die Kimajugend keine vorübergehende Erscheinung ist.

Die Stadt will mit dem neuen Artikel in der Gemeindeordnung nicht nur klimaneutral werden, sondern auch Massnahmen treffen, die die Bevölkerung vor den Auswirkungen des Klimawandels schützen sollen. Wo bestehen für St.Gallen die grössten Gefahren?

Das Wetter wird extremer: Ausgeprägtere, längerdauernde Hitze- und Regenperioden.

Was kann die Stadt dagegen tun?

Um die zunehmenden Hitze einzudämmen, müssen wir Schatten schaffen. Es braucht mehr Bäume, mehr Grünflächen. Aber der Platz ist begrenzt. Es gibt Konflikte, was Vorrang hat: mehr Velowege oder mehr Grün? Es gibt aber auch Dächer und Fassaden, die man begrünen könnte. Hier sind gute Kombinationen von PV-Anlagen und Grünbereichen notwendig. Entscheidend ist, dass man solche Überlegungen automatisch in künftige Planungen einbezieht. Um die starken Regenfälle abzufedern, braucht es beispielsweise Bachöffnungen oder etwa das geplante Rückhaltesystem im ehemaligen Kino Rex. Die ganze Klimathematik ist die grösste Herausforderung unserer Zeit. Das ist nicht irgend ein Randthema.

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