, 9. September 2021
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Kollektiv zum Neustart

«Das Bedürfnis nach Konzerten, Ausstellungen, Theater- und Tanzaufführungen, Lesungen und Performances ist gross.» So steht es schwarz auf weiss auf der Einladung. Wie stark der Kulturhunger nach der Pandemie tatsächlich ist, wird sich diesen Samstag am St.Galler Neustart-Festival zeigen.

Szene aus dem Lockdown-Stück "Now" des Panorama Dance Theaters. (Bild: pd)

Sie waren (und sind teils noch immer) die Haupt-Leidtragenden der Pandemie: Musiker, Tänzerinnen, Theaterleute, Performerinnen, Comedians, all die Profis der darstellenden Künste, für die vor anderthalb Jahren auf einen Schlag der Vorhang gefallen ist. Ihnen zu einem «Neustart» zu verhelfen, ist Sinn und Zweck des Festivals, das diesen Samstag stattfindet.

Karl Schimke, Tuba-Spieler im Sinfonieorchester und Stadtparlamentarier, hatte dafür die symbolträchtige Idee, aus Abfall Kunst zu machen. Genau gesagt: die Abfallgutscheine, welche die Stadt allen Bewohner:innen spendiert hat, in einen Kulturtopf zu werfen statt einzulösen. Das Geld floss, die Stadt legte nochmal kräftig drauf, die IG Kultur Ost zog mit, «Neustart» tat sich mit der Museumsnacht zusammen (und damit auch mit der Werbeagentur Farner, die seit Jahren die Projektleitung der Museumsnacht innehat – was nicht rundherum auf Applaus stiess).

Das Ergebnis kündigt sich imposant an: Von vormittags 11 Uhr bis 1 Uhr nachts sind an fast 200 Veranstaltungen und 45 Spielorten mehr als 300 Künstlerinnen und Künstler beteiligt. Dazu bieten zahlreiche Institutionen zusätzliche eigene Programme.

Viel Puzzlearbeit – «aber am Ende ist es aufgegangen.»
Ann-Katrin Cooper

Das bedeutete Schwerarbeit für die beiden «Programmierer» des Festivals, Karl Schimke und die Präsidentin der IG Kultur Ost, Ann-Katrin Cooper. «Ein riesiges Puzzlespiel» nennt Cooper die Planungsarbeit, ein Jonglieren mit Zeiten, Platzbedürfnissen, Technik-Anforderungen, künstlerischen Ansprüchen und anderen Kriterien.

Gute Gelegenheit also, sich ein Bild vom Zustand der Kultur nach der Pandemie zu machen – einerseits künstlerisch konkret, andrerseits grundsätzlich. Für Ann-Katrin Cooper ist der Gemeinschaftsgedanke zentral am Neustart-Festival. «Vielerorts gehen neue Gräben auf. Wer ist wo ausgeschlossen, wer wird wohin eingeladen, wer bleibt aussen vor?» Neustart wolle dagegen zeigen, dass es möglich sei, gemeinsam und trotz allen Pandemie-Widrigkeiten Kultur zu veranstalten.

Heraus aus den Kellern

Wie also tönt es aus den Bandkellern nach der Zwangspause? Im «Flow», dem Rock-Pop-Zentrum der St.Galler Musikschule am Rand der Kreuzbleiche, greifen am Samstag Urgesteine von Posh bis Tüchel in die Tasten und Saiten. Im Feuerwehrmuseum «Depot 61» an der Burgstrasse sind die Elias Bernet Band und andere dabei. Die Lokremise jazzt und rockt mit Miriam & The Quinces, der Michael Neff Group, mit Noumuso oder Fraine.

Den Neustart wagen auch andere Unverwüstliche wie Malcolm Green, Peter Lenzin, Déjan um die Sängerin Joana Elena, Esik und seine «Übliche Verdächtige», das Duo Weniger Egli oder Lord Kesseli – letzterer, nomen est omen, um Mitternacht im Kesselhaus Josephsohn im Sitterwerk.

Wie Konzert und Theater St.Gallen über die Lockdown-Runden gekommen sind, ist in der Tonhalle, im Umbau und in der Lokremise zu sehen und zu hören, mit Konzerten und Probeneinblicken in die Oper Breaking The Waves oder in das Schauspielprojekt Julia und Romeo.

Szenenbild aus Nelly Bütikofers Stück Wir könnten fliegen, wollten wir, das am Neustart-Festival Premiere hat. (Bild: pd/Christian Glaus)

Im Zentrum stehen aber die freischaffenden Theaterleute. Das Panorama Dance Theatre zeigt in der Lokremise sein Programm Anticipation. Nelly Bütikofer legt gleich die Premiere ihres neuen Tanz-Chor-Stücks auf den Neustart-Termin: Wir könnten fliegen, wollten wir ist zu sehen in der Offenen Kirche. Tiltanic improvisiert im Depot 61, Megliodia zeigt im Kirchhoferhaus musikalisch, «wie Fürsten festen», im Parfin de siècle spielt Charlotte Mäder ein Stück vom «ewigen Kind».

Orte neu zum Klingen bringen

Die Museen bieten ihre Normal- oder Spezialprogramme an, vom Seifenmuseum bis zu Lagerhaus. Und lassen sich darüber hinaus ungewohnt zum Klingen und in Bewegung bringen. In der Kunsthalle etwa spielen das Quartett StimmSaiten und ein Oktett mit Streicher:innen des Sinfonieorchesters. Im Historischen und Völkerkundemuseum kommt Wortkunst von der St.Galler Bühne bis Manuel Stahlberger zu Ehren, im Kunstmuseum spielt «Cellistonaut» Stefan Baumann oder performt Manor-Preisträgerin Martina Morger.

Die Literatur war zwar etwas weniger Pandemie-gebeutelt, sucht aber auch wieder neu ihr Publikum. Und dies vielstimmig. In der Grabenhalle liest das Duo Vetsch/Plassard Gedichte, in der Denkbar stellen Christoph Keller und Jan Heller Levi US-Texte vor, Isabel Rohner liest einen nächtlichen Krimi in der Wyborada, Mark Twain kommt in der Galerie vor der Klostermauer zu Wort, und ebenfalls dort ist Vernissage des vierten Bands Schüchtern hingeschaut mit Stimmen junger Autor:innen. Im Printclub an der Feldlistrasse tönt es Innerrhodisch mit Rosie Hörler, während in der Stiftsbibliothek, wo sonst Latein das Sagen hat, kurdische und türkische Texte von Geflüchteten zu hören.

Sa 11. September 11 bis 01 Uhr,
diverse Orte in St.Gallen.
Testcenter im Hof der Stiftsbibliothek, Sa 10-16 Uhr.

neustartfestival.ch

Ein queer-feministisches Performance-Programm spielt sich rund um den Frauenpavillon im Stadtpark ab. Im Haus zur Ameise wird illustriert, im Gewächshaus im Botanischen Garten mit Wind gebastelt. Als musikalische «Oase» empfiehlt sich das Museum of Emptiness mit Klängen der Sängerinnen Nathalie Maerten und Lyam Gossolt.

Der Neustart bringt auch neue Orte ins Scheinwerferlicht. In den Lagerhäusern findet sich «opus278»; der Raum der GSI Architekten nennt sich nach dem Fazioli-Flügel und bietet ein Klassik- und Jazzprogramm. Ebenfalls im Lagerhaus machen das Atelier Chapeau und David Schneebergers Atelier ihre Türen auf, an der Feldlistrasse der Printclub, im Linsebühl ein Tattoo-Studio.

Und das Name-Dropping könnte noch lange weitergehen.

Gegen das Gärtchendenken

Künstlerinnen und Institutionen Hand in Hand, Kooperation statt Gärtchendenken, Konzerte in der Galerie, Kleinkunst im Museum, Auftritte kreuz und quer durch die Sparten: Barbara Affolter, Co-Leiterin der städtischen Kulturförderung und Mitglied des Neustart-OKs, freut das «wahnsinnig bunte» Programm, das der Kultur in ihrer ganzen Vielfalt endlich wieder Sichtbarkeit gebe. Alles in allem zeige das Festival: «He! St.Gallen hat als Kulturstadt so viel zu bieten!».

«Unglaubliche Solidarität»:
Karl Schimke

Das sieht auch Initiant Karl Schimke so: Das Neustart-Festival sei zum einen wichtig als «fast explosionsartiger Punkt», wo an einem Tag zu erleben sei, was die Stadt an Kultur biete. Und zum andern als «unglaubliches Zeichen der Solidarität» der Gesellschaft mit den Künstlerinnen und Künstlern – spürbar von der Gutscheinaktion über die Gelder von Stadt, Kanton und Stiftungen bis zur Bereitschaft der Häuser, ihr Personal und ihre Räume für das freie Kulturschaffen zur Verfügung zu stellen.

Wird das Publikum kommen? Barbara Affolter hofft auf mindestens so viele Besucherinnen und Besucher wie die rund 5000 jeweils an der Museumsnacht. Dank der grossen Zahl an Spielorten werde sich das Publikum gut verteilen, dank der GGG-Regel sind auch die Schutzkonzepte klar, eine zusätzliche Maskenempfehlung oder je nach Haus auch Maskenpflicht sei möglich.

«St.Gallen hat als Kulturstadt so viel zu bieten»: Barbara Affolter

Nach ihrem Eindruck komme beim Kulturpublikum nach und nach auch «das Gefühl zurück, dass es normal ist, sich zu treffen», sagt Affolter. Optimistisch ist auch Karl Schimke: Die 3G-Regel sei inzwischen weitherum akzeptiert und verspreche «wieder eine etwas befreitere Atmosphäre» für Kulturanlässe. Und Ann-Katrin Cooper ergänzt: «Wir kommen nicht darum herum, Wege zu finden, um Kultur zu veranstalten und sich zu begegnen über Kultur. Dafür ist das Festival ein Signal: Man muss etwas wagen, sonst passiert nichts.»

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