, 8. Februar 2022
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Kollektives Bandgestöber

AuGeil feiert am 11. Februar im St.Galler Palace seinen fünften Geburtstag. Das Thurgauer Label hat die Kantonsgrenzen längst überwunden und seine Ohren mittlerweile in der ganzen Schweiz. Besuch in Frauenfeld, wo der Elan gross, aber die Bühnen klein sind.

Von links nach rechts: Rémy Sax, Tobias Rüetschi, Carmen Bosshart und Louis Keller. (Bild: co)

«Die Schweiz ist für uns auch nur eine Region», sagt Rémy Sax und lacht. «Das haben wir mal so beschlossen, hier ist ja alles recht klein.» Als das Label AuGeil Records von ihm und einer Handvoll Freunden 2016 gegründet wurde, damals eher aus Plausch, war das noch anders. Die Bands kamen hauptsächlich aus Frauenfeld und dem Thurgauer Umland. Mittlerweile sind bei AuGeil auch Acts aus der übrigen Schweiz, darunter P. Noir aus Basel, The Shattered Mind Machine aus Zürich oder das Fribourger Duo Crème Solaire. Insgesamt sind es bald 20. Drei davon – Büro, Gamma Kite und Prozpera – spielen am 11. Februar im St.Galler Palace, so es die Pandemie denn zulässt. Es ist das verspätete Geburtstagsfest zum Fünfjährigen.

Wir sitzen am grossen Tisch in der Frauenfelder WG von Rémy Sax (1994), Kunststudent, Buchhändler und Mitgründer von AuGeil. Neben ihm sitzen Louis Keller (1998), Musikstudent und ebenfalls im AuGeil-Vorstand, Jus-Studentin Carmen Bosshart (2001) und Tobias Rüetschi (1993), Kunststudent und neuerdings Booker im Winterthurer Gaswerk. Musik machen sie alle, teilweise auch zusammen, die Verstrickungen sind vielfältig, der gegenseitige Support gross.

Aus ähnlichen Beweggründen ist damals auch das Label AuGeil entstanden. Im Kern waren es etwa sieben Leute, ein enger Freundeskreis, mit der Idee, die virulente Frauenfelder Musikszene zu pushen. «Von uns für uns» war das Motto. «Wir wollten die Leute anspornen, ihre Sachen aufzunehmen und zu veröffentlichen», sagt Rémy Sax. «Ausserdem wollten wir uns als Künstler:innen glaubwürdiger machen.» Nicht, dass man nicht glaubwürdig wäre ohne Label, aber «es ist schwierig, aus der Ostschweiz und insbesondere aus Frauenfeld herauszukommen».

Klingende Erfolgsgeschichte

Das Winterthurer Radio Stadtfilter hat einmal gesagt, AuGeil sei eine Heimat für «psychedelische Rockmusik in all ihren Schattierungen». Kein Wunder, hat man dort relativ schnell Notiz genommen vom neuen Thurgauer Label. Winti ist Frauenfeld viel näher als St.Gallen, mit dem Zug zehn Minuten. Wobei die Genreschubladen des Labels heute viel weiter geöffnet sind als noch bei der Gründung. Heute gibt es auf AuGeil von Rock über Wave bis Glitch Hop fast alles zu hören. Und eben: Auch die Kantonsgrenzen wurden gesprengt, Schweiz heisst die neue Region, man versteht sich als Sprungbrett und sucht aktiv den Austausch mit anderen Schweizer Labels.

Gamma Kite: am Freitag im Palace.

Dabei waren die AuGeilen Ziele am Anfang eher bescheiden. Ein Sampler pro Jahr sollte released werden. Eine Art Sammelsurium des regionalen Musikschaffens, eine Plattform für junge Bands, um die Vielfalt zu zeigen. Vier sogenannte Geiltapes sind seither erschienen, das fünfte ist unterwegs – eine kleine Erfolgsgeschichte. Hier lässt sich die Geschichte des Labels gut nachhören: Auf dem ersten Tape steckten die Ohren noch in den Frauenfelder Rumpelkammern, heute kommen die Töne aus allen Ecken der Schweiz und haben das Demotape-Stadium in vielen Fällen überwunden – «auch wenn die DIY-Mentalität nach wie vor grossgeschrieben ist und auch unseren Charme ausmacht», wie Louis betont.

Wie ist dieser Zulauf zu erklären? Ein wichtiger Punkt ist sicher die Aufstellung von AuGeil als Verein. «Der Kollektivgedanke wird sehr geschätzt, wir haben keine Chefs oder Gatekeeper, sind nicht profitorientiert und funktionieren sehr niederschwellig», sagt Rémy. «Wenn wir ehrlich sind, wollten wir uns einfach nicht mit lästigen Fragen der Hierarchie oder des Geldes auseinandersetzen», ergänzt Tobias und grinst. «Aus diesem vermeintlichen Nachteil ist letztlich unser Vorteil geworden.»

Heute hat AuGeil knapp 20 Acts unter Vertrag – wobei das dreist übertrieben ist, denn schriftlich gibts hier nichts. Bei AuGeil läuft alles per Handschlag. 150 Franken pro Jahr kostet der Vereinsbeitrag, «ein Nullsummenspiel», wie die Vier erklären. Das Geld fliesse grösstenteils in die Homepage und die Onlinedistribution.

Von handglismet zu «organisierter»

Ganz ohne Strukturen kommt aber auch AuGeil nicht aus, nicht alles ist handgestrickt. «Wir versuchen, im Rahmen der Freiwilligenarbeit professioneller werden», sagt Rémy – «oder zumindest organisierter», korrigiert Louis. «Alles andere würde der Haltung des Labels und den Leuten dahinter nicht gerecht werden.» So gibt es Quartalssitzungen, Promo-Abläufe, einen Social Media-Verantwortlichen und ein Götti- bzw. Gottiprinzip, mit dem sich die Bands gegenseitig unterstützen. Auch die Bandbewerbungen unterliegen stets einem Kollektiventscheid. Hier ist die Motivation entscheidend, nicht unbedingt die musikalische Qualität. Passt die Wellenlänge?

Bei Carmen Bosshart alias Prozpera hat sie gepasst. Sie ist seit 2020 bei AuGeil «unter Vertrag» und im Februar ebenfalls auf der Palace-Bühne zu hören. Lange hat sie nichts vom Thurgauer Label gewusst. Die ersten Stücke hat die Münchwilerin während der Gymi-Zeit geschrieben, später hat sie Bekanntschaft gemacht mit yung porno büsi vom ebenfalls frauenfeldfreundlichen Label die yungen huren dot hiv. Sie war es, die die «Scouts» von AuGeil zu Prozpera gelotst hat. Oder wie Louis sich erinnert: «Wir haben Carmens Konzert gehört und direkt gewusst: Die passt zu uns.»

Ebenfalls auf der Bühne am Freitag: Prozpera

Im Juni 2021 ist Prozperas erste EP bei AuGeil herausgekommen. «Von alleine hätte ich mich wohl nicht so schnell getraut», sagt sie, «aber das Label hat mich angespornt, mir unter die Arme gegriffen und das Mastering übernommen.» Diese niederschwellige Zusammenarbeit habe sie sehr geschätzt, vor allem die konstruktive Kritik. «Für mich war es perfekt, denn ich will nicht von meiner Musik leben müssen, sondern sie einem breiteren Publikum zeigen. In einem professionellen Studio läuft man Gefahr, das Flair zu verlieren. Es kostet verdammt viel, man steht unter Zeitdruck und ist nicht in seiner gewohnten Umgebung. Bei AuGeil ist das anders.»

Freud und Leid der Peripherie

Auf dem Balkon beim Rauchen geht unser Blick über Frauenfeld Richtung See, vorbei am nahegelegenen Kasernen-Areal, das mittlerweile verlassen ist. Die neue Kaserne steht schon längst – was man mit der alten wohl alles anfangen könnte? Die Diskussionen in der Politik laufen. «Hoffentlich quartieren sie da nicht nur Start-Ups ein wie in anderen Städten», sagt Louis. «Man könnte so viel mehr aus diesem Areal machen, es kulturell nutzen, Ateliers, Clubs, Bühnen, Proberäume und sowas bauen.»

Ob sich ein solch grosses Areal in einer Kleinstadt wie dieser überhaupt füllen liesse mit Kunst und Kultur, ist die andere Frage, darin sind sich alle einig. Ihnen würde es reichen, wenn es nur schon eine oder zwei Bühnen mehr gäbe in der Thurgauer Hauptstadt, denn die Auftrittsmöglichkeiten hier sind, vorsichtig gesagt, beschränkt.

Es gibt – oder besser gesagt: gab – das Kaff, das früher eine gutgenutzte Spielwiese für junge Bands aus der Region war. «Ein Ort der Selbstverwirklichung, ohne sich um Repräsentation scheren zu müssen», wie die Vier sagen. Die halbe AuGeil-Clique hat sich da kennengelernt, nicht wenige sind Mitglied im Kaff-Kollektiv. Momentan steht es aber ohne fixes Lokal da. Ein Nachfolgeprojekt am «Unteren Mätteli» ist zwar in Planung, doch es gibt noch keine Baubewilligung und dann ist da noch die Sache mit dem lieben Geld…

Geilfest mit Büro, Gamma Kite und Prozpera: 11. Februar, Palace St.Gallen

augeil.ch
palace.sg

Im benachbarten Kreuzlingen gibt es den Horst Klub mit seiner Garage Rock-Nische, aber sonst gibt es weitherum kaum Auftrittsmöglichkeiten für junge Bands, abgesehen von einigen kleinen Festivals. Das mache es auch für das Label schwierig, die Ohren in der Region offen zu halten. «Uns fehlen definitiv die Bühnen und die Plätze für junge Bands», sagt Rémy. «Und in die Winterthurer oder St.Galler Clubs kommen sie auch nicht so einfach rein – wobei es heute besser ist als noch vor fünf Jahren.»

«Niemand kommt freiwillig in den Thurgau, um unsere umtriebige Szene zu sehen», sagt Carmen und fröstelt. «Die Leute gehen lieber nach St.Gallen, Winti oder Zürich in den Ausgang.» Und Louis, der wegen seines Studiums derzeit in Basel wohnt, konstatiert etwas bitter: «Die Leute wissen ja teilweise nicht einmal, wo Frauenfeld liegt!» Die Stadt habe wohl «ein klassisches Peripherieproblem», schliesst Rémy die Diskussion, als wir wieder ins Haus gehen. «Zu gute Verbindungen nach draussen, um die Leute länger hier zu behalten.»

Trotz allem: Frauenfeld ist «au geil», darin sind sich alle einig. Nicht zuletzt, weil man hier trotz einer gewissen politischen Trägheit auch Spielräume nutzen kann. «Frauenfeld ist vielleicht eine Art Carte Blanche für junge Kulturschaffende», so das Fazit. «Die Stadt stellt sich zwar nicht unbedingt quer, ist aber auch froh, wenn wir einfach mal selber machen – ohne Vorurteile, aber auch ohne Vorbilder. Das ist unser Groove.»

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