, 20. August 2020
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Krüppel? Nein, Superheld!

Noch immer werden viele Menschen im Rollstuhl von der gehenden Bevölkerung kaum oder gar nicht wahrgenommen. In seinem neuen Buch schreibt der St.Galler Schriftsteller Christoph Keller über diese Problematik – und hat Stadträtin Maria Pappa zu einer «Stadtberollung» eingeladen.

Samstagmorgen, 10 Uhr an der Goethestrasse in St.Gallen. Schriftsteller Christoph Keller wohnt in einem schönen Quartier am Fusse Rotmontens. Ebenfalls anwesend ist Stadträtin Maria Pappa, zuständig für die Direktion Planung und Bau der Stadt St.Gallen.

Keller (1963) erhielt bereits in Jugendjahren die Diagnose Spinale Muskelatrophie. Er hat SMA 3, «Die fröhlichste von allen», wie er in seinem neuen Buch Jeder Krüppel ein Superheld schreibt. Und weiter: «SMA ist nicht leicht zu verstehen. SMA verlangsamt dich. SMA hört nie auf, dich zu verlangsamen. SMA hebt Muskelfunktionen auf. SMA schmerzt nicht. (Die Nebenwirkungen schon.) SMA ist großzügig, SMA ist grausam. SMA ist die Geschichte vom Verlust deiner Muskelkraft.»

Längere Zeit hatte Keller zwei Existenzen: Einerseits im Rollstuhl aber auch gehend, da er trotz Befund seine Muskeln noch einige Zeit benutzen konnte. Heute kann Keller nicht mehr gehen, er ist auf den Rollstuhl angewiesen. Nach mehreren Jahren in den USA ist er nun zurück in seiner Heimatstadt St.Gallen und kämpft nach wie vor gegen die existierenden Barrieren, für freie Bahn – auch im Rollstuhl. «Ich wünsche mir grösseres Bewusstsein aus der Politik. Und natürlich erhoffe ich mir künftig, dass auch die Gehenden mit einem anderen Blickwinkel durch die Stadt laufen.» «Normale» nennt Keller die Gehenden ungern. «Denn das würde suggerieren, dass ich nicht normal bin und das stimmt ja nicht.»

«Darf eigentlich nicht passieren»

«Siehst du, diese Rampe ist toll. So sollte es überall sein», sagt Keller an diesem sonnigen Vormittag zu Maria Pappa. Ein-, zweimal rollt er die Rampe vom Trottoir auf die Goethestrasse hoch und wieder runter. Doch bald schon zeigen sich die ersten Probleme. Die Baustelle ist wohl einer der grössten Feinde von mobilitätseingeschränkten Menschen. «Hier muss ich rückwärts runter, sonst falle ich aus dem Rollstuhl», sagt Keller lapidar. Hier wurde ausserdem eine neue Rampe gebaut, eine mit zwei Stufen. Somit muss Keller zwei Mal drei Zentimeter überwinden.

Christoph Keller demonstriert die Schwierigkeit beim rückwärtsrollen.

Stadträtin Maria Pappa zeigt Verständnis: «So etwas darf eigentlich nicht passieren. Ich werde schauen, wie diese Situation mit der Procap (Die grösste Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Behinderung in der Schweiz) und Obvita (Organisation des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins) im Vorfeld abgemacht war.» Die Strassen seien genormt und genau solche Situationen würden besprochen und Massnahmen ergriffen. «Sehbehinderte und Gehbehinderte haben andere Ansprüche an eine solche Rampe. Das ist die Schwierigkeit.»

In den USA dürfen Behinderte klagen

Auch das Thema Politik kommt auf. Warum sitzen so wenige Menschen im Rollstuhl oder mit anderen Behinderungen in der parlamentarischen Vertretung des Volkes, in den Kantonsräten und Stadtparlamenten? Eine abschliessende Antwort darauf gibt es nicht. Er fühle sich manchmal auch ausgeschlossen, sagt Keller: «Es fängt bei den Strukturen an, die eine Stadt bietet oder eben nicht bietet.» Oft müsse er viel Zeit aufwenden, um überhaupt irgendwo reinzukommen. So auch letztens bei einer Veranstaltung in der Kantonsbibliothek Vadiana. Für Keller beginnt da der Zwist. Barrierefreiheit vs. Denkmalschutz: «Was ist wichtiger? Steine oder Menschenleben?» Auch Pappa gibt zu: «Dort haben wir tatsächlich viele Schwierigkeiten.»

Seit 2004 gibt es in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz. Gemäss Bundesrat ist das oberste Ziel des Gesetzes die Schaffung von «Rahmenbedingungen, welche die Unabhängigkeit Behinderter von der Hilfe durch Drittpersonen erlauben und damit vom Gefühl befreien, von anderen Personen abhängig zu sein». Doch Keller findet das Gesetz eher harmlos, «zahnlos», wie er sagt, denn: «Man darf in der Schweiz nicht gegen Missstände klagen. In den USA gibt es den Americans with Disabilities Act, der es mobilitätseingeschränkten Menschen erlaubt, vor Gericht ihr Recht einzufordern.» Dieses Gesetz aus dem Jahr 1990 sei zwar scharf, es zeige aber auch auf, dass es den Menschen wichtig ist, echte Gleichstellung herzustellen.

Christoph Keller: Jeder Krüppel ein Superheld – Splitter aus einem Leben in der Exklusion. Limmat Verlag, Zürich 2020, 216 Seiten, CHF 28.–

Fast eine Stunde im Museum herumgeirrt

Kellers neues Buch Jeder Krüppel ein Superheld erscheint heute. Die Wortwahl lässt aufhorchen, da insbesondere gehende Menschen eine Gehbehinderung als eine Art Last sehen. Keller jedoch hat eine andere Sichtweise: «Wir müssen mit einer ganz anderen Voraussetzung versuchen, normal zu sein. Wenn man so herabreduziert wird, muss man zum Superheld werden, um das ‹normale› Niveau wieder zu erreichen.»

Das Buch hat es in sich. In einem Kapitel schildert Keller, wie er einmal fast eine ganze Stunde im «Met», dem «Metropolitan Museum of Art» in New York herumirrt. Offenbar fühlt sich niemand so wirklich zuständig, ihm den korrekten Weg für Gehbehinderte zur Asiatischen Ausstellung zu zeigen. Mal wissen die Mitarbeitenden schlicht nicht, wo sich der barrierefreie Weg durchschlängelt. Der Lift für Gehbehinderte führt dann aber in ein Stockwerk, in dem es wieder Stufen gibt. Nach über 50 Minuten und einer wahrhaftigen Odyssee durch das Museum kommt er endlich bei der Asiatischen Kunst an. Es sollte eigentlich einfacher gehen. Keller quittiert in seinem Buch: «Für die vielen, die es wie ich mit einer Behinderung zu tun haben, ist dies das verfluchteste aller Wörter. Sollte, sollte, ja, sollte!»

Keller, der Kafka-Freund

Sein neues Buch trägt den Nebentitel «Splitter aus einem Leben in der Exklusion». Seine eigenen, autobiographischen Eindrücke und Erlebnisse werden immer wieder durch kurze Gedankenblitze («schon bemerkt? die leute sagen nicht mehr: sei willkommen. sie sagen: kein problem. früher waren wir willkommen. jetzt sind wir kein problem.») und durch eine fiktive Erzählung eines jungen Liebespärchens unterbrochen.

Lesung mit Christoph Keller, 26.Oktober, 20 Uhr, Kellerbühne St.Gallen

kellerbuehne.ch

Auch diese handelt von Exklusion. Der Mann in der Beziehung bemerkt plötzlich eine kleine Hautveränderung an seinem Bauch und schickt sich an, diese zu überprüfen. Der Arzt versichert ihm, dass es dabei um nichts handelt. Wie falsch er liegt, zeigt das kafkaeske Gefühl, dass den Leser überkommt, als plötzlich etwas aus dem Nabel des Mannes huscht und seitdem auf ihm lebt. Die Ähnlichkeit zum beengenden und beängstigenden Schreibwesen Franz Kafkas ist unüberlesbar. Überdies spickt Keller sein Werk auch immer wieder mit Fotografien von mehr oder weniger unüberwindbaren Hindernissen auf Trottoirs in New York.

Profis in der Comedia Buchhandlung

Langsam arbeiten wir uns die Strasse in Richtung Stadt hinab. Immer wieder weist Keller auf Rampen und Orte hin, die er für Gehbehinderte nicht für ideal hält. Stadträtin Pappa fotografiert jedes Hindernis, jede Barriere, die Keller aufzeigt. Neben dem Casino St.Gallen arbeiten wir uns weiter in Richtung Schützengarten.

Dort müssen wir die Strasse überqueren, weil Keller mit Rollstuhl nicht durch die Passarelle Torstrasse/St.Jakob-Strasse kommt. Die Rampe ist allerdings ziemlich steil, sodass Keller rückwärts hinabrollen muss. Auch wenn er die Fussgängerampel gedrückt hat, ist es nicht angenehm, so über die Strasse zu müssen. «Die Autofahrer wissen nicht, was ich will, wenn ich rückwärts vor der Rampe stehe». Noch mühseliger wird das ganze, wenn die Rampe nicht direkt bei der Ampel stehe. Dann könne es durchaus gefährlich werden. Doch er lobt auch die rücksichtsvollen Autofahrer, die sich Mühe geben, ihn ohne Probleme über die Strasse zu lassen.

Unter dieser Strasse gibt es eine Unterführung. Christoph Keller kann sie allerdings nicht benutzen.

Als in der Goliathgasse die Pflastersteine beginnen, sagt Keller: «Das mag ich, das ist wie eine kleine Massage, wenn man drüber rollt. Allerdings nicht zu lang.» Im gleichen Atemzug fügt er aber auch an, dass viele Menschen im Rollstuhl Pflastersteine gar nicht mögen. Der Rollstuhl macht eben nicht alle Gehbehinderten «gleich».

Der nächste Halt ist die Comedia Buchhandlung im Herzen der Innenstadt, nahe dem Marktplatz. «Die haben so eine gute Rampe hier», sagt Keller. Auch so ein Punkt, den er oft kritisiert. Viele Restaurants oder Lokale hätten zwar eine Rampe, die Mitarbeitenden wüssten aber oft nicht, wo sich diese genau befindet und wie man sie korrekt anbringt. Das fühle sich an, als ob man nicht genug beachtet wird.

Kellers Lieblingsbuchhandlung: Die Comedia in St.Gallen.

Die beiden Buchhändlerinnen in der Comedia sind allerdings Profis, wenn es um Inklusion geht. Sie sehen Keller vor dem Laden, als er ihnen zuwinkt. Innert Sekunden stellen Sie eine metallene Rampe über die zwei Stufen, die für Keller ansonsten unüberwindbar wären und schon rollt er hinein. Seine Lieblings-Buchhandlung. Augenscheinlich nicht nur wegen des Angebots an Büchern.

Rollend über die Rampen am Marktplatz.

Weiter fährt unsere kleine Entourage über den Marktplatz. «Ich sage immer, man hätte doch schon im Jahr 1750 mit der Gleichstellung anfangen sollen, dann wäre heute vielleicht alles okay.» Maria Pappa lacht, gibt aber zu bedenken: «Es gibt auch heute noch neue Bauten, bei denen man sich überlegen konnte, was da hätte besser gemacht werden sollen.» Als Beispiel führt sie an, dass nun die Strassen den Bussen angepasst werden, anstatt umgekehrt: «Beim Bahnhof und Marktplatz mussten sich betagte Menschen umgewöhnen, dass direkt bei der Haltekante nicht mehr der Übergang ist, weil dieser nun zu hoch ist. Die Haltekante wird erst weiter vorne oder hinten wieder ebenerdig.»

Abschluss beim besten Lift der Stadt

Über die Marktgasse geht es weiter bis hin zum Gallusplatz, der in der Morgensonne noch schöner daherkommt. Als letzte Haltestelle möchte Keller uns den besten Lift in der Stadt zeigen, jenen bei der Kellerbühne.

Christoph Keller und Maria Pappa auf dem Weg zum Gallusplatz.

Thomas Schwarz, technischer Leiter des St.Galler Kleintheaters, wartet bereits auf uns und ruft per Schlüsselumdrehung den Lift. Plötzlich fängt sich der Boden an anzuheben und schwebt immer höher auf den Platz, eine gelbe Warnlampe blinkt, ein Warnton erklingt. Der Lift (Baujahr 2008) ist auf dem Dach mit Pflastersteinen versehen, sodass man ihn glatt übersehen könnte, wenn man nicht weiss, dass es ihn gibt.

Nach einer kurzen Fahrt mit Maria Pappa im Lift erscheinen die beiden wieder aus dem Boden und die Stadtberollung ist zu Ende. Im Restaurant «Drahtseilbähnli» lässt man den Vormittag bei Kaffee und Eistee noch einmal revue passieren.

Laut Keller der Beste der Stadt: Der Lift bei der Kellerbühne.

Bei Stadträtin Maria Pappa hat der erste Teil der Führung viel Eindruck hinterlassen. «Es kann nicht sein, dass wir trotz ständigem Austausch mit Behindertenorganisationen noch immer manchmal Situationen erleben, die so nicht vorkommen dürfen.» Namentlich, dass Rollstuhlfahrer teils immer noch rückwärts in die Strasse hinein fahren müssen, weil es anders nicht geht. «Ich werde das bestimmt zurückmelden in der Direktion und hoffe, dass wir eine andere, eine bessere Lösung finden.»

Zufrieden mit seiner Stadtberollung ist auch Keller: «Ich habe ein sehr gutes Gefühl. Mir ist es gelungen, mich an oberster Stelle einzubringen, in Wort und Bild.» Er spüre überdies eine grosse Offenheit und wünscht sich, dass der Dialog nun weitergeht und man sich nicht erst in fünf Jahren wieder trifft. «Ich hoffe, ich konnte etwas erschaffen, das man in Zukunft wie ein schönes Gärtlein giessen und pflegen kann.»

3 Kommentare zu Krüppel? Nein, Superheld!

  • Peter Honegger sagt:

    Guter Artikel.
    Zwei Persönlichkeiten in interessantem Austausch.
    Passt.

    Ich freu mich auf die Lesung.

  • Ruth Frehner sagt:

    Sehr geehrter Herr Honegger, sehr geehrte Frau Pappa
    Der Titel ist ein Supertreffer. Und das Thema ebenfalls. Was für Rollstuhlfahrer gilt, das wird in Zukunft auch für die Mikro-Mobilität ein Thema werden. Viele, ich auch, bevorzugen ihr Auto lieber vor der Stadt zu parken und sich innerhalb des Stadtraums fortzubewegen. Da spielen für uns, genau wie für die Rollstuhlfahrer, die BARRIEREFREIHEITEN der Trottoirübergänge eine enorme Rolle. Will heissen, sie behindern uns genau wie die Rollstuhlfahrer enorm. Der grosse gepflästerte und deshalb holprige Teil der Innenstadt ist zwar schön, schmälert aber die Option Mikromobilität stark. Rollstuhlbreite glatte Flächen durchgehend durch die ganze Stadt wären zukunftsträchtig und würden St.Gallen zur Ehre gereichen. Mit freundlichen Grüssen, Ruth Frehner

  • Ruth Frehner sagt:

    Nachtrag: innerhalb des Stadtraums bewege ich mich mit einem Trottinett/Scooter fort. Das ist leise und für Gehbehinderte einfach perfekt.

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