, 8. Oktober 2014
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Kultur als Vaseline und Schmiermittel

Die erfreuliche Universität widmet sich im Oktober der Frankfurter Schule. Nach Adorno-Horkheimer und Hosbawm fehlt noch Marcuse. Zuvor gastiert aber der «eindimensionale Mensch» im Palace.

Dies sei gleich vorweggenommen: Adornos und Horkheimers These ist gewissermassen überholt. Da es sich dabei aber um einen der wichtigsten theoretischen Beiträge des letzten Jahrhunderts handelt, macht es natürlich trotzdem Sinn, den inzwischen 70-jährigen Text zur Kulturindustrie wieder auszugraben.

Durchsetzt von Trauer und Enttäuschung über den Verlust der «guten Kunst» wird den beiden Autoren eine gewisse elitäre Haltung attestiert. Die Chancen von Popkultur werden klar verkannt: dass bei Massenphänomenen im Jahre 1945 eher an Faschismus statt an Rock’n’Roll oder Punk gedacht wurde, muss aber dabei auch bedacht werden.

Dem bündigen Close-Reading einiger wichtigen Passagen von Lorik Visoka folgt eine längere Diskussion über Fragen nach emanzipatorischen Kulturformen, Konsumgesellschaft und Autonomie. Bei einzelnen Voten fühlte man sich in die ’68er zurückversetzt. Der Kulturbegriff an sich wurde aber nicht geklärt: mal feuilletonmässig klassisch eingegrenzt, mal anti-elitär kritisch und dann doch wieder etwas breiter gefasst, bleibt die Grundlage für eine solche Diskussion also mehrdeutig.

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Paolo Virno, 2014

Die Momentaufnahme der kritischen Theoretiker wird aber aus einem anderen Grund wieder vermehrt beachtet: was Adorno und Horkheimer in diesem begrenzten Bereich feststellten und kritisierten, geht heute weit über die «Kulturindustrie» hinaus. Während Adorno/Horkheimer sich vor allem für die «allgemeine Fordisierung der Kulturindustrie» interessieren, spricht man heute von einer grundsätzlich neuen Produktionsweise. So erklärt beispielsweie der Operaist zweiter Generation, Paolo Virno, in seiner Kritik an der Frankfurter Schule, wie, während «die materielle Produktion […] an das hochgradig automatisierte System der Maschinen delegiert wird», die lebendige Arbeit vermehrt «virtuos-sprachlichen Tätigkeiten» ähnelt.

Demnach ist die Kulturindustrie-These nicht für bare Münze zu nehmen, jedoch aus Sicht heutiger Diskurse um immatrielle Arbeit in gewisser Weise sogar prophetisch: Eher beiläufig ahnt die Frankfurter Schule wesentliche Elemente des postfordistischen Kapitalismus voraus. «Vaseline und Schmiermittel» ist, wie der italienische Schriftsteller Luciano Bianciardi gewisse virtuose Tätigkeiten bezeichnet im Unterschied zu Landwirtschaft und Fabrikarbeit, längst kein vulgäres Phänomen am Rande mehr. Dass es keinen Sinn macht, dies zu verteufeln, wird im Palace mehr als klar.

Dass viele Theoretikerinnen und Theoretiker heutzutage zu grossen Teilen nur dank dem kontemporären Kunstfeld überhaupt beachtet werden, ist Fakt. Dass es Kulturschuppen wie das Palace (Kulturindustrie) braucht, um wieder einmal über kritische Theorie zu diskutieren, ist gemessen an Adorno/Horkheimers These hingegen in gewisser Weise recht sarkastisch – erfreulich ist jedoch, dass es trotzdem geschieht. Zu empfehlen sind daher auch die weiteren Veranstaltungen der erfreulichen Universität in diesem Monat:

am 14. Oktober, 20.15 Uhr, liest Kaspar Surber Texte von Eric J. Hobsbawm.
am 21. Oktober, 20.15 Uhr, liest Rolf Bossart Herbert Marcuses Text «Über den affirmativen Charakter der Kultur».
Ausschlaggebend für die kritische Reihe im Palace ist das Konzerttheater «Der eindimensionale Mensch wird 50», das am 18. Oktober dort gastiert.
Weitere Infos: palace.sg

Lesenswert:

  • Theodor W. Adorno & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969
  • Paolo Virno: Grammatik der Multitude, Wien 2005

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