, 27. Juli 2015
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Leben im Bunker: Aggressionen und Depressionen

In einer Zivilschutzanlage unter dem GBS-Schulhaus will der Kanton notfallmässig bis zu 100 Asylbewerber beherbergen und betreuen. Asylbeobachter kritisieren die unterirdische Unterbringung.

Der Kanton eröffnet in der Stadt St.Gallen notfallmässig eine Asylunterkunft. Dies, weil die sechs kantonalen Zentren für Asylsuchende derzeit «völlig überlastet» seien, wie die Staatskanzlei in einer Mitteilung schreibt.

Die Notfallunterkunft ist in der Zivilschutzanlage im Kellergeschoss des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums (GBS) im Tal der Demut geplant und soll voraussichtlich Ende August öffnen. Ihr Betrieb ist auf ein halbes Jahr befristet.

In der Zivilschutzanlage werden 50 bis 100 Frauen und Männer unterkommen. Während des Tages sollen sie in provisorischen Containern arbeiten und leben. «Wir wollen nicht, dass Asylsuchende 24 Stunden unterirdisch verbringen. Das wäre nicht menschenwürdig», sagt dazu Jürg Eberle, Leiter des kantonalen Migrationsamtes. In den Containern sollen die Asylsuchenden etwa essen und den Deutschunterricht besuchen.

Leben im Bunker fördert Depressionen

Der Entscheid für die St.Galler Zivilschutzanlage ist verständlich: Sie ist billig im Betrieb, praktisch sofort verfügbar und hat die nötige Infrastruktur wie WCs und Duschen. Angenehm ist das Leben im Bunker allerdings nicht: Die Menschen  leben über Monate auf engstem Raum aufeinander. Es kann zu Spannungen kommen, ausserdem können Schädlinge wie Läuse, Wanzen oder Krätze ein Problem sein.

«Man sollte Flüchtlinge nicht unterirdisch unterbringen», sagt auf Anfrage auch Ursula Surber, Präsidentin des Vereins Solidaritätshaus St.Gallen. Viele Asylsuchende seien durch ihre Flucht stark traumatisiert. Bunkerähnliche Anlagen verstärkten die Gefahr von Depressionen und Aggressionen.

Zivilschützer betreuen die Asylsuchenden

Betreut werden die Asylsuchenden in der GBS-Anlage von Zivilschützern – eine Massnahme, die nur in Notlagen angwendet werden darf. «Es sind Zivilschützer, die für die Betreuung von Menschen ausgebildet werden. Etwa bei Übungen im Altersheim», sagt Eberle. Spezielle Kurse für den Asyleinsatz gebe es aber nicht. Einzig der Leiter der Unterkunft werde eine Fachperson aus dem Asylbereich sein. In der Nacht und an den Wochenenden ist eine private Sicherheitsfirma für die Betreuung zuständig.

«Um Asylbewerber zu betreuen bräuchte es sicher eine spezielle Ausbildung», sagt Ann-Seline Fankhauser, Geschäftsleiterin der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz. Einerseits gebe es eine sprachliche und kulturelle Barriere. Hinzu komme, dass viele Asylbewerber traumatisiert seien. «Beim Zusammenleben auf engstem Raum kann es so schnell zu einer explosiven Mischung kommen. Dabei wäre es wichtig, dass die Betreuer wissen, wie sie in heiklen Situationen reagieren sollten», sagt Fankhauser.

Auch sie nennt die Unterbringung in einer Zivilschutzanlage «grundsätzlich problematisch». Der Kanton und die Gemeinden hätten es versäumt, genügend Wohnraum zu suchen. «Es ist nicht so, dass die hohe Zahl der Asylgesuche nun eine Überraschung ist. Aufgrund der Entwicklungen war schon lange voraussehbar, dass die Zahl der Gesuche in den Sommermonaten wohl erneut steigen wird.»

Wie die St.Galler Staatskanzlei schreibt, wurden dem Kanton vom Bund von Januar bis April 2015 im Schnitt weniger als zehn Asylsuchende pro Woche zugewiesen. Mittlerweile sind es 40 bis 50. Das Staatssekretariat für Migration schätzt, dass diese Zahlen noch bis mindestens November gleich bleiben werden.

In den kantonalen Zentren verbringen die Flüchtlingen jeweils vier bis sechs Monate, danach werden sie auf die Gemeinden verteilt.

Nachwirkungen der Blocher-Ära

Die aktuelle Notlage ist auch der Politik vergangener Jahre geschuldet: Solidaritätshaus-Präsidentin Surber erinnert daran, dass es in der Stadt schon einmal eine bessere, definitive und «oberirdische» Lösung gegeben hat: das Durchgangszentrum Felsengarten an der Felsenstrasse. «Das hat man zerschlagen in der Zeit, als Blocher Bundesrat war. Damit gingen Infrastruktur und Personal mit Knowhow verloren, aus politischen Gründen.»

Das Doppelhaus Felsengarten (Felsenstrasse 31 und 33), ursprünglich als Alters- und Pflegeheim genutzt, war 1989 von der Stadt erworben worden. Im einen Hausteil zog die Wahrnehmungsschule ein, im andern baute die Stadt im Auftrag des Kantons ein Durchgangszentrum für Asylsuchende mit rund 100 Plätzen auf.

Ende Oktober 2004 wurde es vom Kanton aus Spargründen geschlossen, die Asylzahlen waren damals rückläufig; ein Jahr später ging das Haus im Baurecht an eine Wohnbaugenossenschaft über. Das Durchgangszentrum scheint, abgesehen von einer Drogenrazzia 2003, ohne grössere Probleme funktioniert zu haben.

Für die heutige Situation würde sich Surber von den staatlichen Behörden mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit wünschen, insbesondere mit den Kirchen und Flüchtlingsorganisationen. So könnte die Suche nach Asylunterkünften besser gelingen. Immerhin sei es vermutlich weniger umstritten, im städtischen Umfeld eine provisorische Unterkunft zu führen als auf dem Land.

Titelbild: Das GBS-Schulhaus im St.Galler Tal der Demut. Im Untergeschoss werden ab August bis zu 100 Asylbewerber leben.

2 Kommentare zu Leben im Bunker: Aggressionen und Depressionen

  • Etrit Hasler sagt:

    Eine Bankrotterklärung des St.Galler Migrationsamtes – fünfzehn Jahre, nachdem schweizweit die Erfahrung gemacht wurde, dass die unterirdische Unterbringung von Flüchtlingen in Zivilschutzbunkern menschenunwürdig und unsinnig ist, versucht man das in St.Gallen noch einmal. Ich habe damals in der Asylorganisation in Genf in Zivilschutzbunkern gearbeitet und habe diesen Horror miterlebt: Die Luft ist so trocken, dass alle dauernd heiser sind und über Kopfschmerzen klagen, die Platzverhältnisse sind unerträglich eng und nach spätestens drei Monaten weisen die Bunker irreparable Schäden auf – nicht weil die Flüchtlinge schlecht damit umgehen, sondern weil die Bausubstanz marode ist. Von der Tatsache noch ganz abgesehen, dass es einfach nur irre ist, eventuell traumatisierte Menschen über Nacht einzusperren (was bei den meisten Zivilschutzanlagen immer noch Vorschrift ist) – zum Schutz der Anlage!?!).

    Anders gesagt: Wir können es unseren Gefängnisinsassen nicht zumuten, in unterirdischen Bunkern eingesperrt zu sein – aber wir muten es Menschen zu, deren Verbrechen darin besteht, dass sie (noch) keine gültige Aufenthaltsbewilligung haben? Dieser Entscheid ist unmenschlich, kurzsichtig und inakzeptabel und ich erwarte insbesondere vom sozialdemokratischen Departementsleiter Fredy Fässler, dass menschenwürdige Alternativen gesucht werden.

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