, 31. Oktober 2018
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«Man baut immer mehr, immer schneller, mit immer weniger Leuten»

Der Streit in der Baubranche eskaliert immer mehr. Unia-Gewerkschaftssekretärin Danijela Bašić,
 die alle Baustellen in der Region kennt, erklärt, worum es dabei geht. von Sina Bühler

Danijela Bašić ist Sektionsleiterin ad interim der Unia Säntis-Bodensee. (Bild: Andri Bösch)

Saiten: Die Medien nennen den Streit zwischen Gewerkschaften und Baumeisterverband den «Baustellen-Poker». Worum geht es?

Danijela Bašić: Die Erneuerung des Landesmantelvertrags für das Bauhauptgewerbe (LMV) ist fällig. Er wird von den Sozialpartnern alle drei Jahre neu verhandelt. Dabei ist man sich noch nicht nähergekommen, und Ende Jahr läuft der bestehende LMV aus. Darum planen wir jetzt Protestaktionen mit den Bauarbeitern.

Wie laufen diese Verhandlungen ab?


Der Baumeisterverband handelt die Bedingungen des LMV mit den Gewerkschaften aus, das heisst in diesem Fall Unia und Syna. Unsere Delegation besteht aus Profigewerkschaftern und von der Basis gewählten Vertretern der Bauarbeiter. Vor jeder Neuverhandlung machen wir Umfragen auf den Baustellen, fragen, was die Arbeitnehmer verbessern wollen, wo sie Probleme sehen. Das wird ausgewertet und als gemeinsame Forderungen in einem riesigen Verhandlungskatalog zusammengefasst. Der Katalog und die Hauptforderungen werden von der Delegiertenversammlung bewilligt und sind die Verhandlungsbasis von unserer Seite. Wenn die Lösung mit den Arbeitgebern steht, stimmen die Bauarbeiter noch einmal darüber ab, bevor unterschrieben wird.

Und wenn man keine Lösung findet?


Dann sind wir ab Januar im vertragslosen Zustand. Für uns heisst das aber auch: Recht auf Streik. Bis dahin unterstehen wir der Friedenspflicht.

Der vertragslose Zustand heisst aber nicht, dass die Firmen die Löhne der Angestellten sofort senken können.

Nein, der Einzelarbeitsvertrag mit der Firma bleibt gültig. Aber innerhalb von ein paar Monaten kann die Firma die ganze Belegschaft auswechseln oder den Bisherigen einen viel schlechteren Vertrag ausstellen.

Deshalb gibt es jetzt Protestaktionen. Wie sehen diese aus?

Das wird man am 6. November sehen.

Welches sind die konkreten Streitpunkte in den LMV-Verhandlungen?

Die Gewerkschaften fordern eine Lohnerhöhung von 150 Franken und die Sicherung der Rente mit 60 Jahren. Die Baumeister nähern sich diesen Forderungen an, wollen im Gegenzug aber eine komplette Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Alle Angestellten sollen 100 Minusstunden ansammeln können und 200 Plusstunden arbeiten müssen.

Was heisst das konkret?


Das heisst: Im Winter entscheidet der Chef von Tag zu Tag, ob du arbeiten musst oder nicht. Arbeit auf Abruf also. Und im Sommer musst du nicht nur diese Minusstunden kompensieren, die Firma kann dich auch zu 200 Überstunden zwingen.

Wie lange ist der Arbeitstag heute?


Auf dem Bau gibt es einen Jahresstundenkalender, der die Arbeitszeit für schöne und weniger schöne Tage regelt. Aktuell kann man bei dem schönen Herbstwetter noch bis 9 Stunden am Tag arbeiten – bei zwei Mal 15 Minuten bezahlter Pause und einer Stunde unbezahlter Mittagspause.

Die Befürchtung ist nun, dass diese Flexibilisierung den Arbeitstag auf 12 Stunden ausdehnt?

Oder noch mehr! Da gehst du körperlich kaputt und hast überhaupt keine Freizeit mehr. Weder für die Familie noch für die Erholung.

Und im Winter kann man auch nicht weg?


Nein, der Portugiese kann nicht zwei Monate in seine Heimat verreisen – die meisten sind ja allein hier, ihre Familie ist zu Hause geblieben. Dieser Bauarbeiter hat also einfach hierzubleiben und neben dem Telefon zu warten.

Für wen ist der heute gültige LMV gut?


Er ist für alle gut. Für Arbeitgeber, weil sonst jede Firma aus dem Ausland die Löhne unterbieten kann und die flankierenden Massnahmen ungültig würden. Heute müssen sie sich an die Bedingungen des LMV halten, was besonders hier, in Grenznähe, wichtig ist. Und für die Arbeitnehmenden ist er sowieso gut: Sie kennen den Mindestlohn, die Spesen- und Ferienregelung, ihre Rechte bei Krankheit und Unfall.

Es gibt sonst kaum einen Gesamtarbeitsvertrag, den die Angestellten so gut kennen.

Vermutlich nicht. Wir haben einen hohen Organisationsgrad: 70 Prozent der Angestellten im Bauhauptgewerbe sind in einer Gewerkschaft.

Die Baumeister werfen den Gewerkschaften den Missbrauch des Sozialversicherungssystems vor. Weil die Unia vorgeschlagen hat, in den schwachen Wintermonaten die Löhne über die Arbeitslosenversicherung zu zahlen.

Dieses Prinzip steht seit Jahren im LMV und nennt sich «Schlechtwetterversicherung». Wenn die Baustellen stillliegen, können sich Baufirmen bei der Versicherung anmelden – genauso wie die Industrie Kurzarbeit beantragen kann. Und die Arbeitslosenkasse zahlt 80 Prozent des Lohnes aus. Es ist unverständlich, warum die Firmen das nicht schon heute nutzen, es kommt ihnen ja zugute.

Das heisst, es gibt keinen Grund, Minusstunden anzusammeln?

Nein, überhaupt keinen. Heute wäre es eigentlich auch nicht erlaubt. Es passiert trotzdem ständig.

Und wie ist das mit der Rente?


Wenn man 60 wird, hat man bis zur ordentlichen Pensionierung Anspruch auf einen Teil des letzten Verdienstes: zwischen 70 und 80 Prozent und maximal 5640 Franken. Bezahlt von der Stiftung für flexiblen Altersrücktritt FAR. Das war vor 15 Jahren eine riesige Errungenschaft – eine Studie hatte gezeigt, dass fast die Hälfte der Bauarbeiter entweder gar nicht oder nur als Invalide das gesetzliche Rentenalter erreicht. Früher wurden diese Kosten auf die Steuerzahler überwälzt, heute zahlt es die Branche.

Das ist vermutlich nicht besser geworden.


Nein, die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen haben sich noch verschärft. Es wird von den Bauarbeitern immer mehr erwartet: Man baut immer mehr, immer schneller, mit immer weniger Leuten. Meine grösste Baustelle in der Stadt St.Gallen hat 34 Leute! Vor 20 Jahren wären es 70 Leute gewesen, und sie hätten doppelt so viel Zeit gehabt. Die Rente mit 60 ist noch viel notwendiger geworden.

Haben mit dem Druck auch die Unfälle zugenommen?


Ich kenne keine Statistiken, aber wir hatten alleine im Gebiet St.Gallen-Thurgau drei Todesfälle dieses Jahr. Alles passiert in der Hektik: Der Kranführer, der keinen Überblick hat und pressieren muss, lässt einen Betonkübel fallen; Leute, die von der Leiter zehn Meter ins Loch fallen… Der Ton auf den Baustellen ist ohnehin schon hart, durch den Zeitdruck wird er noch rauer. Auch der Polier steht unter Druck und gibt das weiter.

Die Baufirmen müssten auf die Bremse stehen.


Ja klar. Sie nehmen den Auftrag ja an und behaupten, sie könnten ihn in der vorgesehenen Zeit erledigen. Wir sehen das grad auf dem Stadler-Areal in St.Margrethen. Eine Riesenbaustelle, die erst gerade gestartet hat. Abgabetermin ist der 20. Mai 2019 – realistisch wäre mindestens ein Jahr Bauzeit.

Warum startet man dann so spät?


Man wusste lang nicht, wer den Auftrag bekommt, weil man über die Preise gestritten hat. Das ist immer so. Der Günstigste gewinnt immer. Und günstig ist er nur, weil er unrealistische Versprechen abgibt.

Ist das wirklich nötig?


Absolut nicht. Wir sind mitten in einem Bauboom. Es müssten nur alle Firmen am gleichen Strick ziehen und sagen: Die Zeiten, die ihr von uns verlangt, sind absurd.

Ein weiteres Problem in den Forderungen des Baumeisterverbands habt ihr mit den Praktikanten. Wer macht auf dem Bau überhaupt ein Praktikum?

Wir befürchten: Entsandte, also Arbeitnehmende aus einem EU-Land, die nur kurz in der Schweiz sind. Und es gibt immer mehr Anfragen von Migranten, in den Beruf einzusteigen.

Das waren früher die Hilfsarbeiter.


Heute noch! Praktikanten sind eine Kategorie, die es eigentlich gar nicht gibt. Die Lohnklasse C im LMV deckt die Handlanger ab, was im Übrigen den grössten Teil der Leute auf dem Bau ausmacht. Von 130 Angestellten einer Firma sind 30 gelernte, die übrigen sind C-ler und Temporäre. Wenn du einfach jemanden anstellst, der keine Berufskenntnisse hat, dann stellst du ihn als C ein, darum gibt es die Kategorie ja.

Jetzt wollen die Baumeister Leute länger als Praktikanten beschäftigen können und nicht mehr als C-ler einstellen?

Auch das ist in meinen Augen idiotisch, sie schneiden sich ins eigene Fleisch. Manchmal habe ich das Gefühl, sie denken einfach nicht sehr weit. Ihre Konkurrenz stammt ja aus dem Ausland, und diese Firmen müssen heute die Schweizer Mindestlöhne einhalten. In Zukunft kommen sie einfach 90 Tage lang mit 20 Praktikanten, geben denen dafür 1000 Euro. Statt dass sie den C-Mindestlohn zahlen, der in unserer Region bei knapp 4500 Franken liegt.

Und wenn sie das nicht tun?


Dann gibt es eine Busse. Die tut ihnen oft nicht weh. Oder sie zahlen sie gar nicht.

Wie wird das kontrolliert?


Es gibt zwei Arten von Kontrollen. Für die Durchsetzung des LMV sind die paritätischen Kommissionen zuständig. Sie beauftragen zusammen einen Kontrolleur, der die Lohnbücher der Firmen überprüft. Und dann gibt es die Arbeitsinspektoren des Amtes für Wirtschaft und Arbeit, die beispielsweise prüfen, ob die flankierenden Massnahmen eingehalten werden oder ob es Schwarzarbeit gibt. Sie kontrollieren vor Ort, auf der Baustelle. Wenn wir einen Verdacht haben, rufen wir an. Von uns aus könnten die Kontrollen allerdings verstärkt werden. Wir sind hier direkt an der Grenze, da braucht es halt mehr Einsatz als in der Zentralschweiz.

Der Staat macht es sich auch bei der Vergabe von Bauaufträgen ziemlich leicht. Alle Bauprojekte müssen ausgeschrieben werden, dann gehen sie an den billigsten Anbieter. Die Arbeitsbedingungen spielen keine Rolle.

Die Sozialpartner arbeiten an einer Lösung: Das System heisst ISAB, «Informationssystem Allianz Bau» und ist ein Register, in dem überprüft werden kann, ob Baufirmen den LMV einhalten. Die Idee wäre, dass Gemeinden, Kantone und Bund sich diese Auskunft auch holen: Hält der Bewerber das Gesetz, den Vertrag ein? Nur dann bekommt er auch den Auftrag. Sonst ist das fatal – dann gewinnt immer der Billigste, und niemand hinterfragt, wie er das überhaupt leisten kann.

Umso erstaunlicher, dass der Auftrag dann oft gar nicht von der Firma ausgehrt wird, die ihn gewinnt.

Genau, die Submission: Wenn eine Firma den Auftrag gewinnt, aber gar keine Zeit dafür hat, gibt sie ihn weiter. Nach Abzug einer Provision natürlich. Das kann eine richtige Kette bilden. Wenigstens hat das Parlament vor fünf Jahren entschieden, dass die erste Firma eine Sorgfaltspflicht hat: Sie ist verantwortlich da r, wenn die letzte, unterste Firma Dreck am Stecken hat, und kann rechtlich belangt werden.

Die Gewerkschaften kontrollieren auch selber. Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?

Wenn ich auf einer Baustelle bin, arbeiten dort fast nur Ausländer – aus Tschechien, Polen und so weiter. Ich frage nach ihrer Bewilligung, meistens ist das eine Kurzaufenthalter- (L) oder eine B-Bewilligung. Dann zeige ich ihnen die Tabelle mit den Mindestlöhnen, und sie sagen mir, ob es stimmt oder nicht.

Gab es da schon brenzlige Situationen?


Schon auch. Aber mehr solche, wo die Leute einfach davon- gerannt sind. Dann rufen wir die Polizei. Aber es gibt auch Leute, die wissen ganz genau, welche Auskunft sie dir geben müssen. Du spürst, dass sie dich anlügen, dass sie gebrieft worden sind, damit wir Ruhe geben. Diese Bauarbeiter haben meistens das Gefühl, dass nicht die Firma, sondern sie bestraft werden. Aber das stimmt natürlich nicht.

Hat dich die Unia für die Baustellenmobilisierung angestellt, weil du eine Frau bist?

(lacht…) Sie hat mich angestellt, weil ich eine slawische Sprache kann! Ob ich eine Frau bin oder nicht, ist gar nie Thema. Es sind immer noch mehr Männer im Team und ich kann mich absolut mit ihnen messen.

Aber dem Thema «Frauen auf dem Bau» begegnest du sicher.

Unangenehm ist es nur, weil die Baracken mit nackten Frauen tapeziert sind. Das ist heute noch so, fast überall. Ich klebe dann immer die offenen Stellen mit Unia-Logos zu. Aber Frauen, die auf dem Bau arbeiten, müssen tough und nicht auf den Mund gefallen sein, den Tarif durchgeben können. Hat man das einmal gemacht, ist der Respekt der Kollegen und Chefs verdient. Ich selber werde ohnehin respektiert, ich mache das seit acht Jahren. Man kennt mich und vertraut mir. Die Bauleute wissen, dass ich auf ihrer Seite kämpfe. Und dass ich das leidenschaftlich gerne mache.

Leidenschaft brauchst du im Moment genug. Wie leicht ist es, die Bauarbeiter r die Protestaktion zu mobilisieren?

Es hängt ein bisschen davon ab, wie viel Angst um ihren Job sie haben. Und wie viele ihrer Kollegen schon einmal bei einer Aktion dabei waren. Sie können sie beruhigen beziehungsweise mitreissen.

Die Aktionen der Bauarbeiter waren immer ziemlich beeindruckend.


Als wir vor drei Jahren den Zürcher Hauptbahnhof mit 3000 Leuten lahmgelegt haben und dort Zmittag assen, ist das den meisten sehr nahegegangen. Wenn ein Bauarbeiter sieht, dass so viele mit ihm kämpfen, vergisst er diesen Eindruck nicht mehr. Und er ist beim nächsten Mal wieder dabei, weil er weiss, dass wir alle zusammen etwas erreicht haben.

Und trotzdem ist man alle drei Jahre wieder am gleichen Punkt…

…und die Baumeister begreifen es einfach nicht. Es ist alle drei Jahre derselbe Kampf.

Danijela Bašić, 1987, ist in Thal aufgewachsen und hat nach der obligatorischen Schulzeit zuerst die Verkäuferinnenlehre gemacht und dann die Detailhändlerin angehängt. Sie ist Gewerkschaftsmitglied geworden, als eine Unia-Sekretärin den Schuhladen besuchte, in dem sie arbeitete. Und wusste schon damals: Diesen Job will ich auch.

Seit 2011 hat sie das geschafft. Gearbeitet hat sie zuerst im Sektor Tertiär, dann in der Industrie. «Aber meine Welt ist Bau und Gewerbe», sagt sie. Sie rede gerne so, wie ihr der Schnabel gewachsen sei, und auf dem Bau müsse man die Tatsachen nicht schön verkaufen. Vor zwei Jahren hat sie ihr Studium «Management in gewerkschaftlichen Organisationen» mit dem Fachausweis abgeschlossen und ist heute Sektionsleiterin ad interim der Unia Säntis-Bodensee.

Sina Bühler, 1976, ist freie Journalistin beim Pressebüro St.Gallen. Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.

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