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Mit Schnaps und Pillen Stimmen kaufen
In Indien hat die Wahl begonnen: 815 Millionen Wahlberechtigte sollen ein neues Parlament bestimmen, das Prozedere dauert insgesamt fünf Wochen. Die Flaschenpost aus dem April-Heft von Tobias Hänni.
An einem idyllischen Strandabschnitt im südindischen Kerala wehen Hammer und Sichel im schwülen Wind. In Delhi geht die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) auf Stimmenfang in der muslimischen Bevölkerung. Und überall, im ganzen Land, posieren stolze Männer mit dicken Schnäuzen auf grossen, bunten Plakaten.
Es ist Wahlkampf in Indien, der grössten Demokratie der Welt. Nach fünf Jahren wird die Lok Sabha, das nationale Unterhaus, zum sechzehnten Mal seit Indiens Unabhängigkeit neu zusammengesetzt. Die Wahl der 512 Abgeordneten ist ein gigantisches Unterfangen: Geschätzte 815 Millionen Inderinnen und Inder werden von Anfang April bis Mitte Mai ihre Stimme abgeben, das sind rund 100 Millionen mehr als noch 2009. Insgesamt 930’000 Wahlurnen wurden dafür in ganz Indien aufgestellt, von den übervölkerten Küstenstädten bis in die abgelegensten Bergdörfer des Himalayas.
Milliarden für den Wahlkampf
Und auch wenn man als «Gora», als Weisser, ausnahmsweise nicht zur Zielgruppe gehört, um den Wahlkampf kommt man trotzdem nicht herum. Einerseits, weil Streiks in manchen Gebieten ein beliebtes Wahlkampfinstrument zu sein scheinen. Wenn man Pech hat, steht man in einem verschlafenen Bergstädtchen vor verschlossenen Restaurants und Reisebüros. Andererseits wird in einem Land, in dem jeder Teeverkäufer und Riksha-Fahrer aus voller Kehle nach Kundschaft schreit und Plakate von der Fläche eines Tennisplatzes für grosse Marken werben, besonders laut und bunt und intensiv um die Gunst der Wählerschaft gerungen. Schätzungen zufolge geben Parteien, einzelne Kandidaten und der Staat für die Wahlen rund sechs Milliarden US-Dollar aus, beinahe so viel, wie bei den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen (sieben Milliarden).
Flächendeckend beackern die grossen nationalen und die Dutzenden kleinen Regionalparteien ihre Territorien. Hauswände und Strassenlaternen sind zugepflastert mit Wahlplakaten, auf denen Kandidaten entschlossen, prophetisch oder grössenwahnsinnig in die Ferne blicken. Strassen und Mauern sind mit Parteikürzeln bepinselt. Wahlhelfer bahnen sich auf klapprigen Fahrrädern ihren Weg durch die Strassen und Gassen, grosse Musikanlagen auf den Lenkern; gebetsmässig scheppern die Parteislogans aus den Boxen. Kandidaten, die es sich leisten können, tingeln durchs Land, um an Wahlralleys mit feurigen Reden und kitschigem Hindu-Pop die Herzen und Stimmen der Bevölkerung zu gewinnen und über die anderen Parteien herzuziehen.
Ebenfalls merkwürdig: Das nationale Wahlkomitee überwacht die Produktion und den Verkauf von Alkohol und rezeptpflichtigen Medikamenten, weil sich die Parteien nicht nur mit Bargeld, sondern gerne auch mit Schnaps und Pillen Stimmen sichern. Die Wahlen in Indien sind nicht nur die grössten der Welt, sondern – in Übereinstimmung mit dem im Alltag üblichen Baksheesh (Schmiergeld) – auch ziemlich anfällig für Betrug. Häufig hat man in Indien für Politikerinnen oder Politiker deshalb nicht mehr als ein verächtliches Schnauben übrig, oder ein müdes «die sind alle korrupt».
Wahl ohne Wahl
Doch das ist nicht der einzige Grund, wieso vielen die Wahlen ziemlich gleichgültig sind. Für rund 200 Millionen Dalits – die «unberührbaren» 15 bis 20 Prozent der indischen Bevölkerung – macht es schlicht keinen Unterschied, welche Partei gerade das Land regiert. In ihrer Welt herrscht die strikte Hierarchie des indischen Kastenwesens. Vom Staat offiziell abgeschafft, ist es nach wie vor stark in der Gesellschaft verwurzelt und bestimmt viele Leben vor.
Dalits können vielleicht Politiker wählen, aber nicht ihre Ausbildung, ihren Beruf, ihren Lebenspartner. Sie werden als Rattenjäger, Abfallsammlerinnen und Waschmänner geboren und bleiben es ihr Leben lang. Und mit 20 oder 21 Jahren heiraten sie den Partner, den die Eltern für sie ausgesucht haben – das ist eigentlich das Verstörendste am ganzen Wahlzirkus hier: Wenn es um ihr eigenes Leben geht, haben viele in Indien gar keine Wahl.
Tobias Hänni, 1984, hat Internationale Beziehungen studiert und ist Journalist, zurzeit auf Weltreise.