Vor einem Jahr hatte die Familie Chaos die Grabenhalle heimgesucht. Die Kulturkosmonauten spielten dort ihr gleichnamiges Stück, 14 Schauspieler:innen aus fast ebenso vielen Nationen in Rollen, die sie sich auf den Leib geschrieben hatten: die besorgte Mama, der arbeitslose Chaos-Papa, Geschwister auf Abwegen, Polizeirazzia, Besuch aus dem Universum, alles versammelt, was zu einer aus dem Leben gegriffenen Komödie gehört.
Jetzt, ein Jahr später, droht wieder Unheil: Ein Drache bedroht die Stadt. Der russische Dichter Jewgeni Schwarz hat das Stück geschrieben, das 1944 in Moskau genau einmal aufgeführt werden konnte – und dann vom Regime verboten wurde. In den 1960er-Jahren erstmals gespielt, ist Der Drache seither auf vielen internationalen Bühnen präsent.
Kein Wunder: Die Parabel auf eine Diktatur ist unvermindert aktuell. Seit 400 Jahren terrorisiert ein Drache die Stadt. Die Bewohner:innen haben sich arrangiert und nehmen in Kauf, ihm jedes Jahr eine junge Frau zu opfern. Als sich ein Fremder namens Lanzelot als Drachentöter anbietet, wollen sie davon nichts wissen – die Ordnung, an die man sich gewöhnt hat, droht durcheinander zu kommen. Lanzelot wagt den Kampf trotzdem und besiegt mit Helfer:innen aus der Stadt das Ungeheuer. Doch dann schwingt sich der Bürgermeister zum neuen Drachen auf.
Eigene Erfahrungen mit Diktaturen
Erarbeitet wird das Stück im Montagstraining, dem Workshop der Kulturkosmonauten, von gegen 20 Schauspieler:innen. «Zwei Drittel von ihnen haben eigene Diktaturerfahrungen hinter sich», sagt Pamela Dürr, die künstlerische Leiterin der Kulturkosmonauten. «Sie kennen die Mechanismen, die im Text aufgezeigt werden.» Die Stückwahl kam aber nicht in erster Linie deshalb zustande. Vielmehr brachten die Teilnehmenden ihre Wünsche für das diesjährige Theaterprojekt ein. Sprechtheater sollte es sein, trotz sprachlicher Herausforderungen – und möglichst lustig, romantisch, kämpferisch …
Trotz teils dramatischer Fluchterfahrungen wollten die Teilnehmer:innen in der Regel nicht ihr Schicksal auf die Bühne bringen, sondern «ganz normal» Theater spielen. Diese Erfahrung hat Pamela Dürr wiederholt gemacht. Im Handbuch der Kulturkosmonautik, das sie dieses Jahr publiziert hat – nein, nicht sie allein, korrigiert sie: An dem Handbuch hätten alle mitgeschrieben, die in den letzten acht Jahren im Kulturkosmos mit unterwegs waren … Dort also steht: Viele Theater setzten gut gemeinte «Problemstücke» auf den Spielplan, die aber mit der Lebensrealität von unterprivilegierten, bildungsfernen oder migrantischen Menschen kaum zu tun hätten, oder diese nicht erreichten.
Im Kulturkosmos kamen hingegen Themen auf die Bühne wie: Superhelden, Lieblingslieder, Hackordnung, Schönheit, Welt – wie weiter?, Museum des Lebens, Mein Koffer – meine Schatztruhe und so weiter. Fazit im Handbuch: «Die gewählten Themen waren immer eine viel allgemeingültigere Befragung der Welt und Annäherung an eine empathischere, solidarischere Gesellschaft.»
Ein Handbuch für Kollektive
Das Handbuch reflektiert die Erkenntnisse aus insgesamt 100 Projekten, Workshops, Theaterstücken, Filmen etc. mit meist jugendlichen Teilnehmenden, viele davon mit Fluchtgeschichten. Es zeigt auf, wie Partizipation tatsächlich gelebt und mit den Mitteln des Theaters umgesetzt werden kann, über alle kulturellen, religiösen und sprachlichen Barrieren hinweg.
Was es dazu braucht, nennt Pamela Dürr die «kosmonautische Disposition». Einer der Workshop-Teilnehmer brachte es auf den Punkt: Er wolle nicht Teil nehmen oder Teil haben – er wolle Teil sein. Für alle Mitwirkenden heisst das: Ergebnisoffenheit mit allen Konsequenzen, Vertrauen in die Ressourcen des Kollektivs, echtes Interesse am Gegenüber, Mut statt Sicherheiten. Und, eine der zentralen Haltungen, die im Handbuch Future Skills genannt werden: «ins gemeinsame Tun zu gehen, bevor man etwas übereinander weiss». Das meint: weg mit vorgefassten Meinungen. Weg vom «Ihr» und vom «Wir», diesen fatalen Zuschreibungen von Menschen zu einer bestimmten Gruppe. Und hin zum Individuum: zum «Ich», zum «Du». «Darüber kann sich ein neues ‹Wir› entwickeln – eines ohne ‹Ihr›, sondern ein ‹Wir›, welches alle miteinschliesst», heisst es im Handbuch.
Wie und ob im Kampf gegen den Drachen im Stück ein solches neues «Wir» entsteht: Anfang Januar wird man es in der Grabenhalle sehen. Noch stehen die Intensivproben erst bevor. Was die Mitwirkenden aus mindestens acht Ländern – Türkei, Ukraine, Afghanistan, Schweiz, Deutschland, Sri Lanka, Polen, Somalia – mit dem Stoff machen, weiss auch das künstlerische Leitungstrio Pamela Dürr, Anna von Schrottenberg und Tobias Stumpp noch nicht.
Sicher aber ist: Zum Stück werden, gemäss dem Credo der Kulturkosmonauten, alle gleichermassen beitragen.
Jewgeni Schwarz – Der Drache: 5. Januar, 17 Uhr, Grabenhalle St.Gallen, Eintritt frei
Das Kleine Handbuch der Kulturkosmonautik ist online: kulturkosmonauten.ch
