Miteinander gegen den Drachen

Die Proben laufen auf Hochtouren. (Bilder: pd)

Die «Mission mischen» geht weiter: Die Kulturkosmonauten sind im Januar mit einem neuen Stück in der Grabenhalle.

Vor ei­nem Jahr hat­te die Fa­mi­lie Cha­os die Gra­ben­hal­le heim­ge­sucht. Die Kul­tur­kos­mo­nau­ten spiel­ten dort ihr gleich­na­mi­ges Stück, 14 Schau­spie­ler:in­nen aus fast eben­so vie­len Na­tio­nen in Rol­len, die sie sich auf den Leib ge­schrie­ben hat­ten: die be­sorg­te Ma­ma, der ar­beits­lo­se Cha­os-Pa­pa, Ge­schwis­ter auf Ab­we­gen, Po­li­zei­raz­zia, Be­such aus dem Uni­ver­sum, al­les ver­sam­melt, was zu ei­ner aus dem Le­ben ge­grif­fe­nen Ko­mö­die ge­hört.

Jetzt, ein Jahr spä­ter, droht wie­der Un­heil: Ein Dra­che be­droht die Stadt. Der rus­si­sche Dich­ter Jew­ge­ni Schwarz hat das Stück ge­schrie­ben, das 1944 in Mos­kau ge­nau ein­mal auf­ge­führt wer­den konn­te – und dann vom Re­gime ver­bo­ten wur­de. In den 1960er-Jah­ren erst­mals ge­spielt, ist Der Dra­che seit­her auf vie­len in­ter­na­tio­na­len Büh­nen prä­sent.

Kein Wun­der: Die Pa­ra­bel auf ei­ne Dik­ta­tur ist un­ver­min­dert ak­tu­ell. Seit 400 Jah­ren ter­ro­ri­siert ein Dra­che die Stadt. Die Be­woh­ner:in­nen ha­ben sich ar­ran­giert und neh­men in Kauf, ihm je­des Jahr ei­ne jun­ge Frau zu op­fern. Als sich ein Frem­der na­mens Lanze­lot als Dra­chen­tö­ter an­bie­tet, wol­len sie da­von nichts wis­sen – die Ord­nung, an die man sich ge­wöhnt hat, droht durch­ein­an­der zu kom­men. Lanze­lot wagt den Kampf trotz­dem und be­siegt mit Hel­fer:in­nen aus der Stadt das Un­ge­heu­er. Doch dann schwingt sich der Bür­ger­meis­ter zum neu­en Dra­chen auf.

Ei­ge­ne Er­fah­run­gen mit Dik­ta­tu­ren

Er­ar­bei­tet wird das Stück im Mon­tags­trai­ning, dem Work­shop der Kul­tur­kos­mo­nau­ten, von ge­gen 20 Schau­spie­ler:in­nen. «Zwei Drit­tel von ih­nen ha­ben ei­ge­ne Dik­ta­tur­er­fah­run­gen hin­ter sich», sagt Pa­me­la Dürr, die künst­le­ri­sche Lei­te­rin der Kul­tur­kos­mo­nau­ten. «Sie ken­nen die Me­cha­nis­men, die im Text auf­ge­zeigt wer­den.» Die Stück­wahl kam aber nicht in ers­ter Li­nie des­halb zu­stan­de. Viel­mehr brach­ten die Teil­neh­men­den ih­re Wün­sche für das dies­jäh­ri­ge Thea­ter­pro­jekt ein. Sprech­thea­ter soll­te es sein, trotz sprach­li­cher Her­aus­for­de­run­gen – und mög­lichst lus­tig, ro­man­tisch, kämp­fe­risch … 

Trotz teils dra­ma­ti­scher Flucht­er­fah­run­gen woll­ten die Teil­neh­mer:in­nen in der Re­gel nicht ihr Schick­sal auf die Büh­ne brin­gen, son­dern «ganz nor­mal» Thea­ter spie­len. Die­se Er­fah­rung hat Pa­me­la Dürr wie­der­holt ge­macht. Im Hand­buch der Kul­tur­kos­mo­nau­tik, das sie die­ses Jahr pu­bli­ziert hat – nein, nicht sie al­lein, kor­ri­giert sie: An dem Hand­buch hät­ten al­le mit­ge­schrie­ben, die in den letz­ten acht Jah­ren im Kul­tur­kos­mos mit un­ter­wegs wa­ren … Dort al­so steht: Vie­le Thea­ter setz­ten gut ge­mein­te «Pro­blem­stü­cke» auf den Spiel­plan, die aber mit der Le­bens­rea­li­tät von un­ter­pri­vi­le­gier­ten, bil­dungs­fer­nen oder mi­gran­ti­schen Men­schen kaum zu tun hät­ten, oder die­se nicht er­reich­ten. 

Im Kul­tur­kos­mos ka­men hin­ge­gen The­men auf die Büh­ne wie: Su­per­hel­den, Lieb­lings­lie­der, Hack­ord­nung, Schön­heit, Welt – wie wei­ter?, Mu­se­um des Le­bens, Mein Kof­fer – mei­ne Schatz­tru­he und so wei­ter. Fa­zit im Hand­buch: «Die ge­wähl­ten The­men wa­ren im­mer ei­ne viel all­ge­mein­gül­ti­ge­re Be­fra­gung der Welt und An­nä­he­rung an ei­ne em­pa­thi­sche­re, so­li­da­ri­sche­re Ge­sell­schaft.»

Ein Hand­buch für Kol­lek­ti­ve

Das Hand­buch re­flek­tiert die Er­kennt­nis­se aus ins­ge­samt 100 Pro­jek­ten, Work­shops, Thea­ter­stü­cken, Fil­men etc. mit meist ju­gend­li­chen Teil­neh­men­den, vie­le da­von mit Flucht­ge­schich­ten. Es zeigt auf, wie Par­ti­zi­pa­ti­on tat­säch­lich ge­lebt und mit den Mit­teln des Thea­ters um­ge­setzt wer­den kann, über al­le kul­tu­rel­len, re­li­giö­sen und sprach­li­chen Bar­rie­ren hin­weg. 

Was es da­zu braucht, nennt Pa­me­la Dürr die «kos­mo­nau­ti­sche Dis­po­si­ti­on». Ei­ner der Work­shop-Teil­neh­mer brach­te es auf den Punkt: Er wol­le nicht Teil neh­men oder Teil ha­ben – er wol­le Teil sein. Für al­le Mit­wir­ken­den heisst das: Er­geb­nis­of­fen­heit mit al­len Kon­se­quen­zen, Ver­trau­en in die Res­sour­cen des Kol­lek­tivs, ech­tes In­ter­es­se am Ge­gen­über, Mut statt Si­cher­hei­ten. Und, ei­ne der zen­tra­len Hal­tun­gen, die im Hand­buch Fu­ture Skills ge­nannt wer­den: «ins ge­mein­sa­me Tun zu ge­hen, be­vor man et­was über­ein­an­der weiss». Das meint: weg mit vor­ge­fass­ten Mei­nun­gen. Weg vom «Ihr» und vom «Wir», die­sen fa­ta­len Zu­schrei­bun­gen von Men­schen zu ei­ner be­stimm­ten Grup­pe. Und hin zum In­di­vi­du­um: zum «Ich», zum «Du». «Dar­über kann sich ein neu­es ‹Wir› ent­wi­ckeln – ei­nes oh­ne ‹Ihr›, son­dern ein ‹Wir›, wel­ches al­le mit­ein­schliesst», heisst es im Hand­buch.

Wie und ob im Kampf ge­gen den Dra­chen im Stück ein sol­ches neu­es «Wir» ent­steht: An­fang Ja­nu­ar wird man es in der Gra­ben­hal­le se­hen. Noch ste­hen die In­ten­siv­pro­ben erst be­vor. Was die Mit­wir­ken­den aus min­des­tens acht Län­dern – Tür­kei, Ukrai­ne, Af­gha­ni­stan, Schweiz, Deutsch­land, Sri Lan­ka, Po­len, So­ma­lia – mit dem Stoff ma­chen, weiss auch das künst­le­ri­sche Lei­tungs­trio Pa­me­la Dürr, An­na von Schrot­ten­berg und To­bi­as Stumpp noch nicht. 

Si­cher aber ist: Zum Stück wer­den, ge­mäss dem Cre­do der Kul­tur­kos­mo­nau­ten, al­le glei­cher­mas­sen bei­tra­gen. 

Jew­ge­ni Schwarz – Der Dra­che: 5. Ja­nu­ar, 17 Uhr, Gra­ben­hal­le St.Gal­len, Ein­tritt frei 

Das Klei­ne Hand­buch der Kul­tur­kos­mo­nau­tik ist on­line: kul­tur­kos­mo­nau­ten.ch