Die meisten Stadtsanktgaller:innen kennen das Ritual: mit den Schuhen rein in die Filzpantoffeln, vorsichtig über die Türschwelle steigen und hinein in den Barocksaal der Stiftsbibliothek. Der knarrende Boden, der riesige Globus beim Eingang, die Konzilien an der Decke, die klobigen Vitrinen, die im Saal verteilt sind, und ganz hinten die zwei Sarkophage und die ägyptische Mumie Schepenese in ihrem gläsernen Sarg. Alles wie immer.
Neu ist dagegen die Sommerausstellung «Töne für die Seele – Musik in St.Galler Handschriften», die seit kurzem in der Stiftsbibliothek gezeigt wird. Im Zentrum stehen natürlich alte Handschriften. Genauer: Handschriften über ein Jahrtausend klösterlicher Musiktheorie. Die Auswahl der Exponate ist eindrucksvoll, die Präsentation eher weniger.
Konservativer Streifzug
Der Streifzug durch rund ein Jahrtausend Musikgeschichte beginnt im Mittelalter mit göttlicher Inspiration. In diesem Fall in Gestalt einer Taube, die Papst Gregor dem Grossen eine Melodie ins Ohr flüstert: den gregorianischen Choral. Die Szene ziert nicht nur das Cover des Ausstellungskatalogs, sondern gibt auch den Ton der Ausstellung an: Der Komponist als Kanal göttlicher Botschaften, Musik als himmlisches Diktat.
Genauso konsequent zieht sich auch das Verständnis von musealer Präsentation, die stark auf Besitzstandswahrung und wenig auf zeitgemässe Vermittlung setzt, durch die gesamte Ausstellung. Die Bücher ruhen wie Reliquien in den Vitrinen, die Texte dazu sind fundiert, setzen aber viel voraus. Die Ausstellung scheint sich primär an ein Fachpublikum zu richten oder zumindest an Besucher:innen mit Vorwissen.
Das ist legitim, aber es wirft Fragen auf. Ist der Barocksaal mit seinem touristischen Grundrauschen der geeignete Ort für eine fachspezifische Ausstellung? Und ist die eher altmodische Inszenierung, sollte die Ausstellung tatsächlich für ein breiteres Publikum gedacht sein, noch zeitgemäss? Muss eine Ausstellung im Jahr 2025 nicht mehr leisten als nur schöne Bücher zeigen?
Zeigen statt Vermitteln
Ein Beispiel: Das prachtvolle St.Galler Cantatorium aus dem 10. Jahrhundert zeigt kunstvoll gestaltete Neumen, eine Musiknotenschrift, und gibt einen durchaus faszinierenden Einblick in das frühe Aufschreiben von Musik. Doch nur mit der abstrakten Erklärung, wie diese Zeichen funktionierten, ohne konkretes Musikbeispiel und ohne Verbindung zur heutigen Notenschrift, bleibt das Schauobjekt schwer zugänglich. Eine schöne Seite in einem alten Buch.

Das St.Galler Cantatorium, Cod. Sang. 359, S. 25. (Bild: pd/Stiftsbibliothek)

Ein Versuch, die Mehrstimmigkeit in St.Gallen einzuführen, Cod. Sang. 542, S. 362. (Bild: pd/Stiftsbibliothek)
Eine spätere Handschrift aus dem 16. Jahrhundert erzählt die Geschichte eines musikalischen «Flops»: Im Auftrag des Fürstabts Blarer lieferte ein italienischer Komponist einen mehrstimmigen Gesang, mit dem die Mönche aber schlichtweg überfordert waren. Zu kompliziert, zu viel auf einmal. Der Gesang wurde nur wenige Male aufgeführt, dann wanderte die Handschrift ins Archiv. Eine nahbare Geschichte des Scheiterns. Aber auch hier bleibt der Kontext vage, obwohl er durchaus anschlussfähig gewesen wäre: Was sagt das beispielsweise über Innovation oder kulturellen Wandel aus? Und warum ist das noch heute relevant?
Solche Fragen werden in der Ausstellung nur wenig thematisiert und man begnügt sich damit, zu zeigen, was man hat. Und natürlich hat man viel und vor allem viel Schönes. Aber es wirkt ein wenig so, als verlasse man sich in der Stiftsbibliothek etwas zu sehr darauf, dass dieses Schöne das Publikum schon tragen werde. Es ist schade, wenn die Ausstellung nicht aus sich heraus Interesse weckt, sondern auf den Raum als Attraktion angewiesen ist.
Und während man sich noch über vergoldete Buchstaben beugt, platzt eine Schulklasse in den Barocksaal. Ihr Ziel ist klar: die aufgebahrte Mumie Schepenese ganz hinten im Saal – da können weder die alten Handschriften noch der prunkvolle Saal selbst mithalten. Alles ist wie immer.
«Töne für die Seele – Musik in St.Galler Handschriften»: bis 9. November, täglich von 10 bis 17 Uhr, Stiftsbibliothek St.Gallen.
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