, 16. Oktober 2015
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Nach dem grossen Beben

Im Kult-Bau St.Gallen liest die haitianische Autorin Kettly Mars aus ihrem brandneuen Roman Ich bin am Leben und wirft einen Fokus auf ihr Land – nach dem Erdbeben von 2010. von Daniel Fuchs

Haiti ist das ärmste Land der nördlichen Hemisphäre. Das Bruttosozialeinkommen liegt bei 630 US-Dollar. Geschätzte 10,6 Millionen Menschen bevölkern den Karibikstaat, 3 Millionen Haitianer und Haitianerinnen sind migriert. Haiti ist ein heimgesuchtes Land: 200 Jahre wechselnde Diktaturen, Kriege, 200 Jahre wiederkehrende Naturkatastrophen. Ein gescheiterter Staat. Haiti hat in der Karibik den grössten Anteil an afrikanischem Erbe (1804 deklarierte sich Haiti zur ersten freien schwarzen Republik).

Haiti ist auch ein Voodoo-Land mit reicher Kultur. Im 20. Jahrhundert haben der Anthropologe und Schriftsteller Jacques Roumain und der Arzt und Dichter Jacques Stéphen Alexis mit ihren Werken die haitianische Literatur zur Weltliteratur erhoben. Bemerkenswerterweise ist in der Gegenwartsliteratur der Anteil schreibender Frauen, wie in allen Ländern der Karibik, hoch. Yanick Lahens, die aus der Diaspora schreibende Edwidge Danticat und Kettly Mars zählen zu den bedeutendsten literarischen Stimmen.

Tränen des Eros

Kettly Mars, 1958 in PortauPrince geboren, machte in den 1990erJahren als Lyrikerin auf sich aufmerksam. Ihr Werk ist seit 2003 auf gegenwärtig sechs Romane angewachsen. Dank Verleger und Übersetzer Peter Trier und seinem Litradukt Verlag, der sich seit Jahren konsequent für die haitianische Literatur stark macht, sind bis jetzt vier Romane ins Deutsche übersetzt worden.

In ihrem frühen Roman Fado erzählt Kettly Mars die Geschichte von Anaïse, einer bürgerlichen Frau aus der Oberschicht, die sich nach zehn Ehejahren von ihrem Mann trennt und sich als Prostituierte Frida eine neue Identität schafft. In einem Prozess der Selbstsuche ergreift Frida wieder Besitz von ihrem Körper. Von farbigster Sinnlichkeit durchdrungen ist Fado ein Roman, der von einer weiblichen Sicht der Dinge bestimmt wird. Ein erotisches Buch.

Lesung mit Kettly Mars: Montag, 19. Oktober, 20 Uhr, Noisma im Kult-Bau St.Gallen.
kultbau.org

Anfangs der 60er-Jahre schickt sich Diktator François Duvalier, «Papa Doc», an, zum Präsidenten auf Lebenszeit zu werden. Der Staatsterror bestimmt den Alltag der Bevölkerung. Die «Tontons macoutes», eine paramilitärische Organisation, verbreiten Angst, foltern und töten. In eben diese Zeit wird der Leser im Roman Wilde Zeiten versetzt. Nirvah, eine schöne Mulattin, lässt sich auf eine Affäre mit einem Staatssekretär ein, um ihren inhaftierten Mann zu retten. Der Staatssekretär, ein Emporkömmling, repräsentiert die Macht. Stück für Stück ergreift dieser Besitz von Nirvah und ihren Kindern. In einem grossartig angelegten Panorama thematisiert Mars die Verflechtungen von politischer Gewalt und bezahlter Sexualität.

Wenn die Hölle unter den Füssen tanzt

Am 12. Januar 2010 bebt in Haiti die Erde. Das Hypozentrum des Bebens liegt 17 Kilometer unter der Hauptstadt Port au Prince. Schätzungen belaufen sich auf 220’000 bis 500’000 Todesopfer. Obdachlos werden 1,3 Millionen Menschen. Kettly Mars überlebt und berichtet aus dem Epizentrum der Katastrophe in ihrem berühmt gewordenen Artikel in der «Zeit online», wie das ist, wenn die Hölle unter den Füssen tanzt. Hoffnung zieht Mars daraus, dass erstmals in Haiti die Spaltung der Gesellschaft keine Rolle spielt, dass Elends- und Nobelviertel gleichermassen betroffen sind. Hoffnung also auf einen gemeinsamen Wiederaufbau.

Im Roman Vor dem Verdursten sieht die Realität weniger erfreulich aus. In «Canaan», einem Lager für Erdbebenopfer, in dem Prostitution, Gewalt und Drogenhandel allgegenwärtig sind, kämpft der Autor und Architekt Fito, der für den Wiederaufbau arbeitet, gegen seine pädophilen Neigungen zu jungen Mädchen und findet am Ende Erlösung im Schreiben.

Kettly Mars: Ich bin am Leben. Litradukt Verlag, Trier, erscheint im Oktober.
litradukt.de

Die durch das Beben erlebte Traumatisierung, Kettly Mars spricht vom «Erdstosssyndrom», vom «Syndrom der offenen Tür», erschüttert auch die Familie Bernier in ihrem neuen Roman Ich bin am Leben. Hier zeichnet Mars ein scharfes Bild der Verwerfungen in der haitianischen Gesellschaft von heute – nach dem grossen Beben.

Bild: Stéphane Haskell

 

 

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