, 2. Mai 2016
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Nachrichten aus Ostpoldavien

Josef Schovanec ist Autist und Doktor der Philosophie. Er spricht heute in St.Gallen über Autismus und stellt sein Buch «Durch den Wind» vor – ein Plädoyer für das Recht aufs Anderssein.

«Ich muss zugeben: Wer mich zum ersten Mal trifft, hält mich für idiotisch. Absolut idiotisch.» Stockende Rede, ungeschickte Bewegungen, kuriose Reaktionen – aber zugleich Doktor der Philosophie, Absolvent der Eliteschule Institut d’études politiques in Paris, gefragter Autor und Redner: Wie das zusammengeht, schildert Josef Schovanec im Buch Durch den Wind. Savant und Autist, und darüber spricht er heute abend in St.Gallen.

Sternenkunde statt Schuhe binden

Autismus ist ein so viel diskutierter wie unscharfer Begriff. Am treffendsten dürfte die Definition als «Ambivalenzstörung» sein: Zwischen dem Autisten und der Umwelt funktioniert die Kommunikation nicht so wie bei Nicht-Autisten. Die Folge: Sie verschliessen sich in ihr «inneres Gefängnis» – ein Begriff, den  Schovanec allerdings ebenso fragwürdig findet wie alle einschränkenden Definitionen von Autismus.

Aus den Debatten über Autismus – etwa der Grundsatzfrage: angeboren oder frühkindliche Traumatisierung? – hält sich der Autor weitgehend heraus. Die Ursachen seines eigenen «Handicaps» kommen kaum zur Sprache, umso mehr jedoch die Tücken des Alltags. Der Umgang mit Unvorhersehbarem gilt als eine der Hauptschwierigkeiten autistischer Menschen. Das kann harmlos sein: «Man will in der Bäckerei ein Baguette kaufen, aber es gibt keines mehr, und man muss sofort eine Alternative finden. Das ist sehr kompliziert.» Und es kann existentiell und dramatisch sein, wenn sich in Beziehungen unüberwindliche Hürden aufbauen. Mit entsprechenden sozialen Folgen.

Josef Schovanec: Durch den Wind. Savant und Autist, sphères Verlag Zürich 2015, Fr. 22.80

Josef Schovanec im Gespräch mit Übersetzer Gerhard Protschka, Lesung mit Suramira Vos: 2. Mai, 20 Uhr, Militärkantine St.Gallen

Schovanec, Jahrgang 1981, Franzose mit tschechischen Wurzeln, ist ein drastisches Beispiel dafür: Bis er achtjährig ist, spricht er kaum, interessiert sich aber zum Beispiel brennend für Sternennamen. In der Schule ist er der Aussenseiter, wird gemobbt und geschlagen, stösst (ausser bei seinen Eltern) überall auf Unverständnis. Die herrschende Pädagogik sei überfordert, «wenn ein Kind nicht mit einem Reifen spielen oder seine Schuhe binden kann, aber sich leidenschaftlich für Differenzialrechnungen interessiert».

Normalität ausserhalb der Norm

Ob Ballspiele oder Bibliotheken, Gespräche, Einkäufe, ein Händedruck oder eine Stellenbewerbung: Alles ist mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden. Dafür lernt Schovanec spielend Sprachen und überflügelt in Mathematik schon bald seine Lehrer. Bis zum Hochschulstudium dauert die Leidenszeit an; psychiatrische Behandlungen, Medikamente («meine Toxikomanie» nennt es der Autor), Ausgrenzungen, Demütigungen sind für ihn Alltag.

Dagegen schreibt Schovanec an – sein Buch ist ein Plädoyer für einen erweiterten Begriff von Normalität,  gegen die «dramatische Unkenntnis» der Gesellschaft in Bezug auf Autismus und für das Recht des Autisten auf sein Anderssein. In einem Interview ergänzt er, dass Behinderung in diesem Sinn weniger «heilig» und vielmehr «normal» werden müsse, dass man auch Menschen mit einem Handicap kritisieren dürfen müsste.

In Schovanec’ anekdotenreichem Buch tut sich eine faszinierende Welt auf: der Blick in ein besonderes Land – Autistan kann es heissen, Samarkand oder auch, mit einem in Frankreich geläufigen Fantasienamen, «Poldévie orientale», Ostpoldavien.

 

 

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