, 10. April 2019
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«Nicht ein Graffiti weniger, sondern Dutzende mehr»

Das grosse Fassadenbild an der Offenen Kirche am Unteren Graben in St.Gallen muss entfernt werden. Eine Petition will das ändern, innert 24 Stunden sind über 1800 Unterschriften zusammengekommen.

Bild: Theodor Pindl

Ein riesiges Frauengesicht mit vielen kleinen Gesichtern darin: Seit Sommer 2016 ziert das Graffiti von Stefan Tschirren (Insect), Manuel Muttner (Nust) und Dominic Amstad (Prime) die Offene Kirche am Unteren Graben an der Böcklinstrasse 2. Nicht unbedingt Kunst am Bau von der kritischen Sorte. Vielleicht mögen auch drum so viele dieses «Plädoyer für Vielfalt und Weltoffenheit» in einem der meistbefahrenen Ränke der Stadt.

Getauft wurde das Graffiti am 11. Juni 2016. Ursprünglich war geplant, die Fassade im Jahresturnus von verschiedenen Kunstschaffenden neu gestalten zu lassen, ausgewählt im Wettbewerbsverfahren. Die Resonanz auf das Bild der Brasilianerin sei jedoch so positiv gewesen, dass dieser Plan wieder fallengelassen wurde, sagt Theodor Pindl von der Offenen Kirche. Dieser Entschied hatte auch finanzielle Gründe.

Am Montag wurde nun bekannt, dass die Fassade bis spätestens Ende Mai übermalt werden muss. Mit einem neutralen Anstrich. Weil das Graffiti – obwohl das Gebäude nicht mehr im Schutzinventar ist – «keinerlei Respekt gegenüber dem historischen Gebäude» zeige, wie die kantonale Denkmalpflege in Abstimmung mit der städtischen Baubewilligungskommission in einer Verfügung schreibt. Die Fassadenbemalung laufe der Architektur zuwider, ein solcher Umgang mit historischer Bausubstanz dürfe nicht zum Normalfall werden. Und: «Die sehr auffällige Bemalung der Offenen Kirche muss auch als Beeinträchtigung der Altstadt angesehen werden.»

Gesuch: eingereicht und rumgereicht

Der neunseitige Beschluss der Baubewilligungskommission liest sich ähnlich zäh und langfädig wie die Herr der Ringe-Bücher von J.R.R. Tolkien. Hier die Kurzfassung:

Das erste Baugesuch für die Fassadengestaltung wurde im Dezember 2015 eingereicht, kurz darauf wurde Bewilligung erteilt und bis Ende 2018 befristet. Danach sei «der alte Zustand wiederherzustellen, wenn nicht rechtzeitig eine Verlängerung beantragt werde». Im März 2018 stellte die Offene Kirche einen Antrag auf Verlängerung der Fassadengestaltung bzw. die befristete Bewilligung in eine unbefristete umzuwandeln. Dieser wurde von der städtischen Baubewilligungskommission abgelehnt, dagegen erhob die Offene Kirche Rekurs beim kantonalen Baudepartement. Dieses wiederum gab das Dossier an die Baubewilligungskommission zurück, da das Gesuch «nicht in Form eines einfachen Schreibens, sondern in Form eines Baugesuchs hätte zur Beurteilung eingereicht werden müssen», um die Bewilligung «im Rahmen eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens zu prüfen». Am 5. Februar reichte die Offene Kirche also das entsprechende Baugesuch ein, dieses wurde publiziert und aufgelegt, Einsprachen gab es keine. Abgewiesen wurde es dennoch.

Der Entschied von Denkmalpflege und Baubewilligungskommission hat bei vielen für Empörung gesorgt. Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des Falls ging eine Petition online, initiiert von GLP-Vorstandsmitglied Marcel Baur. Das Graffiti habe sich in zwei Jahren zu einem Erkennungsmerkmal für die Stadt und das Gebiet am Unteren Graben entwickelt, heisst es in der Petition. «Es ist zudem davon auszugehen, dass das Gebäude nur noch auf Zeit steht und dem neuen Universitätscampus weichen muss. Ein Übermalen ist unter diesem Aspekt völlig absurd.»

Die Petition soll in Form eines offenen Briefes zusammen mit den Unterschriften an den Leiter der kantonalen Denkmalpflege und an das Amt für Baubewilligungen der Stadt St.Gallen übergeben werden. Wie und wann ist noch offen. Bis heute Mittwoch (Stand 17:30 Uhr) wurde die Petition von über 1500 Menschen unterzeichnet.

Vermisst: Augenmass und Fingerspitzengefühl

Warum? «…weil ich nicht ein Graffiti weniger, sondern Dutzende mehr in dieser grauen Ecke der Stadt sehen will», wie Remo I. auf der Petitionsseite schreibt. Urs S. will das Bild behalten, weil eine Bereicherung der sonst eher bünzligen Fassade sei und es zeige, dass «wir St.Galler offen für alle Kulturen sind». Und Christian F. hat unterschrieben, weil «es einmal mehr zeigt, dass unsere Behörden jegliches Augenmass und Fingerspitzengefühl vermissen lassen.»

Ob die Behörden ihren Entscheid überdenken, ist fraglich. Die Offene Kirche wird voraussichtlich noch ein paar Jahre stehenbleiben. Zuerst einmal wird im Juni über die HSG-Campus-Überbauung am Platztor abgestimmt. Wenn die Vorlage durchkommt, entschiedet sich, ob die Offene Kirche abgebrochen oder in die Überbauung integriert wird. Laut dem Amt für Baubewilligungen wird die Planungsphase am Platztor noch mindestens bis 2024 dauern.

Jede Menge Zeit also, um der hiesigen Graffiti- und Street Art-Szene den Platz zu geben, den sie verdient hätte. Die Möglichkeiten, sich gestalterisch auszutoben in den Strassen unserer Stadt sind bekanntlich begrenzt. Und wenn es in dieser Sache tatsächlich um die optische «Beeinträchtigung der Altstadt» gehen sollte, würde das eine oder andere Graffiti mehr diesem Rank sogar noch gut tun. Nicht die Farbe macht ihn zum Unort, es sind die Brachen rundherum.

Nachtrag 11. April: Der Kanton St.Gallen twitterte am Donnerstagmorgen, dass Stadt und Kantonaufgrund der regen öffentlichen Diskussion vorschlagen, nochmals mit allen Beteiligten das Gespräch zu suchen und das Thema nochmals zu diskutieren.

3 Kommentare zu «Nicht ein Graffiti weniger, sondern Dutzende mehr»

  • […] Nicht ein Graffiti weniger, sondern Dutzende mehr […]

  • Peter Müller sagt:

    In der Stadt St. Gallen gibt es viele graue Flecken, wo ähnliche Bemalungen oder eben Graffitis positive Akzente setzen könnten. Wer übernimmt die Koordination, um weitere solche Projekte zu lancieren?

  • Schnider Peter sagt:

    Sind die Gegner neidisch, dass das Graffiti meines Neffen so viele positive Reaktionen hervorgerufen hat ?
    Statt mehr Geld in neue Verfügungen und Bewilligungen der Behörden zu verschwenden wären Spenden an gemeinnützige Organisationen in St. Gallen angebrachter. Das Graffiti hat ja ohnehin das zeitliche gesegnet wenn die Offene Kirche abgebrochen wird.

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