Die zweite Hälfte der 50. Jugendsession ist soeben angebrochen. Auf dem Programm steht eine Podiumsdiskussion zu den nationalen Abstimmungsvorlagen vom 24. November. Mietrecht, Krankenversicherungsreform, Autobahnen. Nicolas Kocher sitzt mit vier anderen vorne im St.Galler Kantonsratssaal und soll unter der Leitung eines «Tagblatt»-Redaktors über diese Themen diskutieren. Vor sich rund 100 Jugendliche und junge Erwachsene. Manche engagieren sich bereits in einer Jungpartei, andere schnuppern zum ersten Mal realpolitische Luft.
Der 24-Jährige ist sich solche Situationen gewohnt, doch ein bisschen verdutzt schaut er jetzt doch aus seinem dunkelblauen Poloshirt, auf dem das Logo der Jungfreisinnigen eingestickt ist. Die Juso-Vertreterin in der Diskussionsrunde hat das Wort ergriffen. Sie spricht aber nicht über Autobahnen, sondern kritisiert das fast ausschliesslich cis-männliche Line-up der Podiumsgäste. Das sei nicht zum ersten Mal der Fall, ihre Partei kritisiere das seit Jahren. Sie wolle es nicht länger hinnehmen, dass irgendwelche «Macker» sich aufspielen, erklärt sie – und geht aus dem Saal. Auch der Rest der Juso verlässt zusammen mit den Jungen Grünen geschlossen die Pfalz. Zurück bleiben fragende Gesichter, ein überforderter Moderator und vier Jungpolitiker aus dem bürgerlichen Spektrum, die mit Ausnahme des GLP-lers nun alle mehrheitlich dieselben Positionen vertreten.
Ein Fan der Aufklärung
Kocher hat sich auf den politischen Schlagabtausch gefreut. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sei eine gesellschaftliche Realität, sagt er später im Gespräch. Dagegen müsse man selbstverständlich etwas tun. «Aber die Juso hat den falschen Weg gewählt. Zu viel Show. Und die Jugendsession ist auch nicht der richtige Ort dafür. Die Diskussion sollte den Jugendlichen die verschiedenen Standpunkte der Parteien aufzeigen, aber die Linken haben nun komplett gefehlt.» Ihm ist bewusst, dass solche Aktionen zum politischen Spiel dazugehören. Er nimmt es gelassen. Nicht so wie die zwei erwachsenen Frauen auf der Zuschauertribüne hinten im Saal, eine davon Kantonsrätin, die nach der Juso-Aktion gar nicht mehr aufhören konnten zu schnattern.
Seit Oktober 2022 ist Kocher Präsident der Jungfreisinnigen Appenzell Ausserrhoden. Der offene Meinungsaustausch mit anderen ist ihm wichtig, er zitiert Kants Leitspruch der Aufklärung – sapere aude. Aber die Auseinandersetzung mit anderen soll sachlich und mit gegenseitiger Wertschätzung erfolgen. «Ich wünsche mir weniger Polemik in der Politik. Man muss sich nicht ständig medienwirksam gegenseitig hochschaukeln.»
Mit politischen Themen ist er schon früh in Berührung gekommen, zuhause in Herisau wurde viel diskutiert. Einer Partei beigetreten ist er aber erst mit gut 20. Damals lebte er in Zürich und arbeitete für das Startup Essento. «Ja genau, die mit den Insektenburgern als Fleischersatz», erklärt er lachend. Fortschritt durch Technik, daran glaubt er. 2021 hat der gelernte Lebensmitteltechnologe die Vollzeit-BMS nachgeholt, jetzt studiert er im dritten Semester Chemie und lebt unter der Woche in Wädenswil. «Ich bin überzeugt, dass wir mit Wissenschaft und neuen Technologien die ökologischen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft meistern können», sagt Kocher, der sich auch bei den Umweltliberalen sehen würde. «Sie sind Motoren der Veränderung.»
Die Demokratie als Privileg
Kocher gibt sich Mühe, positiv in die Zukunft zu schauen, auch wenn die Zeiten zunehmend turbulenter werden. «Ich will meine Zeit nicht mit Sorgen verschwenden», erklärt er. «Meiner Generation geht es so gut wie kaum einer anderen vor uns, es ist also wohl oder übel unsere Aufgabe, die Welt zusammenzuhalten.» Er wünscht sich, dass die jungen Menschen kritisch bleiben, sich hinterfragen und dankbar sind für das Privileg, in einer Demokratie zu leben. «Nicht alle haben dieses Glück.»
Bei Gleichaltrigen spüre er oft einen gewissen Defaitismus, eine Alles-egal-Haltung. Dabei seien Neugier, Austausch und Teilhabe essenziell für eine funktionierende Demokratie. Ginge es nach ihm, müsste man den Religionsunterricht an den Schulen umkrempeln und mehr auf die philosophische und politische Bildung setzen. «Das würde auch unsere Diskussionskultur befruchten – was dringend nötig wäre.»
Kocher versucht, dazu auch privat einen Teil beizutragen. Mit Max Slongo, dem Präsidenten der Jungen SVP Säntis, und Raphael Brauchli von der Jungen Mitte Ausserrhoden betreibt er seit August den Podcast «Bärenstimmen». Damit wollen sie junge Menschen für Politik begeistern, parteiübergreifend. Im Monatsrhythmus diskutieren die jungen Bürgerlichen über konkrete politische Themen wie Biodiversität oder den Autobahnausbau, aber auch über ihre eigene Politisierung, über die Rolle von Jungparteien oder die Frage, wie polarisiert die Gesellschaft ist. Bisher gibt es vier Folgen und noch kaum gepflegte Kontroversen. «Aber linke Gäste in Zukunft nicht ausgeschlossen!», sagt Kocher und lacht.