, 10. November 2018
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«nimmer ist mir angst und bang»

Vier St.Galler Lyrikerinnen in einem Band: Claire Bischof Vetter, Erica Engeler, Christine Fischer und Maria Gertrud Macher öffnen «Lichtungen» im Waldgut Verlag. Am Dienstag ist Buchpremiere in St.Gallen.

Bild: Regula Engeler, Lochkamera-Foto

Der «Gruss» könnte aus einem Kindervers stammen, so fröhlich sprudelt und reimt er vor sich hin: «Guten Morgen, lieber Morgen! / Gut geschlafen, lieber Tag? / Lasst euch kitzeln, liebe Sorgen / auf dem Giebel krächzt der Rab.»

Christine Fischer fängt mit diesem «Gruss» ihr Kapitel im Band Lichtungen an, und nach dem Kinderton ist wenig später auch von der «Sprache der Mütter» die Rede, in einem wunderlich-tröstlichen Gedicht auf die Nacht:

Fort

Auf die Wunde des Tags
legt leis ihren Finger die Nacht
sagt in der Sprache der Mütter:
Halt still
die Vögel schlafen
ruh jetzt auch du

Reckt sich
hängt Sterne auf
das ganze Gepränge
und zieht mit den Füchsen fort
in die Wälder am Rande der Welt

Christine Fischer, Jahrgang 1952, beherrscht den launigen wie den ernsten Tonfall, manchmal könnte man ihre Gedichte sofort singen, manchmal stockt der Atem bei einer unerwarteten Kehre. Sie kann aus einer Alltags-Nebensache wie dem Schlüsselblumenduft morgens im Bus ein Gedicht-Glück machen, sie findet krude Wörter («Denkrüssel», «Flugberge», «Regendürre») für eine düstere Endzeitvision oder sie nähert sich dem Fast-nicht-Spürbaren mit gerade noch sagbaren Worten: «Auch diese eine Flocke / nur einen Lidschlag lang auf meiner Wimper / und dann nicht einmal mehr Erinnerung».

Christine Fischer. (Bild: Franziska Rast)

So gekonnt und scheinbar leichthändig setzen alle vier Autorinnen ihre Verse. Man merkt die langjährige Erfahrung, die jedoch nie Routine zur Folge hat, sondern Reduktion und ein sicheres Gespür für das, was gesagt werden muss, und das, was zuviel wäre. Und man spürt das Wissen um das Gedicht als doppeltes Wundermittel: die Dinge zu erkennen, aber auch zu heilen. Im Vers Begegnung in der Früh etwa findet Christine Fischer den kindlich vertrauensvollen Reim auf den morgendlichen «Amselkehlenklang»: «nimmer ist mir angst und bang».

Claire Bischof Vetter, Jahrgang 1948, zeichnet mit ähnlich knappem Stift die Natur im Jahreslauf nach, karge Vierzeiler für den Winter, etwas gesprächiger der «Atem des Frühlings». Weiter geht es dann, mit grossem Ernst, um die Vergänglichkeit, um die Zeit, die «nur ein Netz» ist, «durch das man fällt», um die Stille,
um Kindheit und Tod:

Von Augenblick
zu Augenblick
elftausend Geburten
neuntausend Tode

Wie lange noch diese Welt
aus Jubel und Tanz
aus Schmerz und Schrei
aus Glück und Gefahr?

Claire Bischof Vetter. (Bild: Sabina Reich Mentzer)

Erica Engeler erweitert den Horizont. Ihre Gedichte sind zum Teil durch ihr Herkunftsland Argentinien eingefärbt, rufen Büffelherde und Zikaden, Pferde und Papageien in Erinnerung, sie nehmen Bezug auf Orte und auf andere Dichter wie den Franzosen Jules Supervielle, sie deuten eine «Kartographie von Grauzonen / Schutzgebiete, Seuchengefahr / und Versprechen» an im «ungesicherten Hier und Jetzt». Engeler, Jahrgang 1949, ist ihrerseits eine Meisterin der «Hellhörigkeit» für Worte und Dinge:

Unterwegs liegt das Wort
auf den Feldern, der Tag mäht still
sein Gras bis in den Abend hinein,
während das Schweigen dunkel wird
und jede Nichtigkeit mich
hellhörig macht

Erica Engeler. (Bild: Franziska Rast)

Schliesslich Maria Gertrud Macher: Mit Jahrgang 1945 die Seniorin des Quartetts, findet sie starke Bilder für das sich reduzierende Leben. Totholz liegt da, «schwarze flügel / kündigen den tag an», aber dann blüht auch wieder «eine graswucht in gold» und hängen «neue vorhänge» da – allerdings «fadenscheinig».

kein aufbrausen
kein summen mehr –
auf hügelrücken
liegen schlohweiss
die je gegangenen wege
ruhn tote blätter
in einem häuflein stille.

Maria Gertrud Macher. (Bild: pd)

Die Natur ist, einmal mehr, unerschöpfliche Inspirationsquelle dieser Lyrik. Aber oberflächlich ist das nie: «Einer Blume / auf den Grund / schauen // heisst // allen Dingen / auf den Grund / schauen», heisst es bei Claire Bischof Vetter einmal.

Buchpremiere:
13. November, 19 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost St.Gallen

Ruth Erat bringt im Vorwort diese Leistung des Gedichts auf den Punkt: «Was sich ereignet, ist eine Wendung. Ausgeworfen ist das Netz der Aufmerksamkeit. Was wir lesend erfahren, ist
die Bergung der Alltagsmomente. Was entsteht, ist Nachsinnen. Und was an Land gezogen ist, öffnet uns eine Welt.» Lyrik dieser Art sei «das Gegenstück zu dem, was in der öffentlichen Flut der Hype- und Empörungssprache all unsere Äusserungskanäle überflutet. Es ist ein Sprechen, dem eine Zuwendung vorausgeht. Sparsam. Aufmerksam. Im Kleinsten auf die Welt stossend.»

Tatsächlich steckt in den rund hundert knappen, mit Lochkamera-Fotos von Regula Engeler illustrierten Gedichten ein Mass an sorgsamer Wahrnehmung und Reflexion, das man im rasenden Tagesgeschäft sonst vergeblich sucht. «Ob wir das Andacht nennen können – dürfen?», fragt Ruth Erat im Vorwort.

Claire Bischof Vetter, Erica Engeler, Christine Fischer, Maria Gertrud Macher: Lichtungen. Gedichte, mit Illustrationen von Regula Engeler, Waldgut Verlag, Frauenfeld 2018, Fr. 24.–

Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.

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