, 19. April 2014
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Numä 90 Minutä – und trotzdem so vil meh

Heute vor 135 Jahren wurde der FC St.Gallen gegründet. Ihm zu Ehren hier das engagierte Plädoyer fürs Fussballfan-Sein von Ruben Schönenberger.

Fussballfan sein, ist eigentlich absolut dämlich. Jedes Wochenende mit der eigenen Mannschaft mitfiebern, das eigene Wohlbefinden vom Ausgang eines Spiels abhängig machen und dafür vom Rest der Bevölkerung bestenfalls ein halbwegs wohlwollendes «Jo, i find Fuessball scho au läss» erhalten, schlimmstenfalls ein «Da sind doch eh alles Chaote, mit dänä wötti nüt z’tue ha».

Trotzdem: Ein Leben ohne Fussball ist für mich undenkbar. Dabei sind die wöchentlichen 90 Minuten zwar nicht völlig egal, aber sie sind eben nur ein kleiner Teil eines riesigen Mosaiks. Ein Mosaik aus guten und schlechten Erinnerungen, aus verklärter Historie und rosa-bebrillter Zukunft, aus Freunden und Feindbildern, aus Gesprächen und Taten. Ein Mosaik, das mich seit Jahren prägt und dabei meine Persönlichkeit gleichzeitig gefestigt und extrem sensibel gemacht hat.

Öfter beim Fussball, als zugegeben

Manche werden nach dem Lesen dieser ersten Zeilen vielleicht bereits aussteigen: «Fussball zu einer so bedeutenden Sache hochzustilisieren, der spinnt doch! Der hat doch sonst nichts im Leben!» An dieser Stelle sei gesagt: Ja, ich hätte ein riesiges Problem, wenn Fussball von heute auf morgen nicht mehr existieren würde. Ja, der allergrösste Teil meines Freundeskreises kommt aus dem Fanumfeld. Ja, ich bin gedanklich viel öfter beim Fussball, als ich zugeben will.

Fussball ist längst nicht mehr nur Fussball. Die Freunde, die ich so kennen gelernt habe, sind mittlerweile einfach ganz normale gute Freunde. Der Sport hatte zwar als Magnet gedient, um uns zueinander zu führen. Der Kitt, der uns zusammenhält, sind aber die Beziehungen, die dadurch entstanden sind.

Über Fussball nachdenken, sich mit seinen Facetten beschäftigen, heisst zudem weit mehr als nur den nächsten Gegner studieren, mögliche Taktiken oder neue Spieler diskutieren. Vielmehr geht es um gesellschaftliche, zuweilen auch gesellschaftspolitische Fragen: Ist ein Eintrittspreis von 30 Franken wirklich gerechtfertigt? Muss diese permanente Berieselung mit Werbung wirklich sein? Darf es sein, dass Bürgerinnen und Bürger nur aufgrund ihres Hobbys automatisch als Risikofaktor gelten? Warum muss ich mich immer rechtfertigen, wenn irgendwo was schief läuft? Müssen sich denn alle Autofahrer rechtfertigen, wenn ein betrunkener Raser sein Gefährt an einem Baum zerlegt?

Wenn etwas fehlt, wirds selbst gemacht

Ebendiese Fragen und insbesondere das stetige Bedürfnis weiter Teile der Bevölkerung, alle Fans müssten sich stellvertretend für andere rechtfertigen oder gar einschränken lassen, sind es, die mich immer wieder antreiben. Wenn wir ehrlich sind: Genau die Teile der Bevölkerung, die sich über Fussballfans beschweren, bemängeln doch das fehlende Bewusstsein der heutigen Jugend, sich eigenverantwortlich zu engagieren, in Vereinen mitzuwirken oder schlicht etwas Eigeninitiative an den Tag zu legen. Themen, die es in Fussballfanszenen nicht gibt. Hier muss niemand versuchen, die Jugendlichen zu animieren. Sie animieren sich selbst. Wenn etwas nicht passt, wird über mögliche Änderungen diskutiert, die im Idealfall auch gleich umgesetzt werden. Wenn etwas fehlt, wirds einfach selbst gemacht.

Wer kümmert sich denn mit derselben Vehemenz und Ausdauer darum, dass in der Schweiz Freiräume bestehen, wo sich Jugendliche entwickeln und entfalten können? Wer bemüht sich in Diskussionen mit Vereinsvertretern, Polizei, Politik und Medien um einen fairen Diskurs? Um anständige Anspielzeiten? Um angemessene Ticketpreise? Wer arbeitet unzählige Stunden in Fronarbeit, um anderen Stadionbesuchern und vor allem der Mannschaft einige Sekunden schönste Bilder zu präsentieren? Um ihnen für ein bescheidenes Entgelt Informationen und Fanartikel zu verkaufen, ohne jegliches Gewinninteresse?

Erwachsen werden und sein

Fankurven sind Jugendräume, die Fankultur eine Jugendkultur. Hier werden Grenzen ausgelotet, manchmal auch überschritten. Und das ist gut so! Es gehört nun mal zum Erwachsenwerden dazu. Zum Erwachsensein würde eine entspannte Herangehensweise an das Problem gehören. Es ist zugegebenermassen ein schmaler Grat, der zwischen korrekten Sanktionen und überbordenden Massnahmen liegt. Wie man diesen schmalen Grat zurzeit aber absichtlich verfehlt, kann nur mit Arroganz oder Ignoranz erklärt werden.

Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird sich fragen: Warum tut man sich das an? Warum lebt man nicht wie der Grossteil der Bevölkerung? Montag bis Freitag zur Arbeit, am Wochenende in durchkommerzialisierten Läden Geld ver- und Hirn wegsaufen, danach das Ganze von vorne. Ganz einfach: Ich will mein Leben leben, nicht das der anderen.

Natürlich, wenn ich am Sonntagmorgen in aller Frühe in den Zug steige, um ein Spiel in Lausanne zu sehen, bei dem der eigene Klub eigentlich nur verlieren kann, dann habe auch ich mich schon gefragt, warum ich nicht einfach wie alle anderen den ganzen Sonntag verschlafe. Sobald ich aber alle Freunde sehe, sobald ich diese Vorfreude spüre, diese Energie, dieses Gefühl dazuzugehören, dann sind solche Zweifel weggeblasen. Wenn ich merke, dass mich diese Leute hier auf den Boden holen, dass trotz aller Probleme, die es geben mag, hier eine viel heilere Welt herrscht als in praktisch jedem anderen Umfeld, in dem ich mich privat oder beruflich schon bewegt habe, dann weiss ich, dass ich am richtigen Ort bin.

Für vier Spiele durch Europa

Und irgendwann kommt dann diese eine Saison. Wenn nach jahrelanger Berg- und Talfahrt und zwei Abstiegen ein dritter Platz resultiert. Wenn nach diversen Präsidenten und den mit ihnen einhergehenden Problemen auf einmal das Verhältnis zu fast allen anderen Mitspielern in dieser Fussballwelt stimmt. Wenn du zusammen mit Hunderten Gleichgesinnten für vier Spiele durch Europa reist. Dann weiss ich endgültig, warum ich die Finger nicht davon lassen kann.

Weil mir nur der Fussball eine Welt eröffnet, die mich mit konstanten Niederschlägen umgehen lässt, ohne die Hoffnung zu verlieren. Weil nur der Fussball mich lehren kann, wie man Höhepunkte feiert, ohne sie als Selbstverständlichkeit zu sehen. Weil mich der Fussball beziehungswiese das ganze Drumherum als Person gefestigt hat, sodass ich auch im Alltag oder im Beruf immer wieder davon profitiere. Weil mich der Fussball so sensibel gemacht hat, dass ich Ungerechtigkeiten in den verschiedensten Bereichen nicht einfach tolerieren kann. Weil mich der Fussball gelehrt hat, dass der beste Weg immer noch ist, es selbst in die Hand zu nehmen. Weil mich der Fussball in so vielen Bereichen geprägt hat, dass ich ohne Fussball nicht der wäre, der ich bin.

In diesem Sinne triffts ein Lied des Espenblocks genau auf den Kopf: «Äs sind numä 90 Minute – und trotzdem isch äs so vil meh!»

Bild: senf.sg

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