, 5. Dezember 2022
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Oh Schepenese. Zwischenbetrachtung einer vieldeutigen Aktion

Die ägyptisch-st.gallische Initiative «Lasst Schepenese heimkehren» bietet eine ungewöhnliche Vielfalt an Themen, Konflikten, Einsichten und grossartigen Möglichkeiten. Let’s move on! von Rolf Bossart

Die Mumie der Schepenese, Illustration aus Johann Jakob Bernets Geschichtlichen Unterhaltungen von 1829.

Offenlegen

Gute Kunst erfindet nichts. Sie weist hin, verwandelt, versetzt, zerrt hervor. Die Aktion Schepenese ist gute Kunst. Sie reisst nichts vom Zaun, sondern weist mit dem losen Zaunpfahl auf die Lücke im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Erstens wird also auf eine Mumie gezeigt, die seit 200 Jahren die öffentliche Attraktion und das heimliche Faszinosum des Prunksaals des Weltkulturerbes bildet. Zweitens auf ein Land, das uns vor allem als eine von uns erforschte Hochkultur interessiert.

Die Aktion macht nun nichts anderes, als diese zwei Dinge zu verdoppeln, indem sie sie mit einer zweiten Bedeutung versieht: Die Mumie ist plötzlich eine tote Frau, Repräsentantin eines frühen und eindrücklichen Glaubens ans Jenseits, und darüber hinaus Repräsentantin für alle toten Menschen, mit einem Recht auf würdige Bestattung. Das pharaonische Altägypten erscheint plötzlich auch als Neuägypten auf der St.Galler Bühne mit Akteur:innen, die sich schon lange auf ihre Weise mit dem beschäftigen, was aus ihrer Heimat überall auf der Welt zu besichtigen ist. Neben das Gesicht der Schepenese und neben die schweizerische Ägyptologie tritt also plötzlich Monica Hanna, eine der renommiertesten Vertreter:innen einer ägyptischen Ägyptologie.

Offenlegen – das tun auch die Grabräuber. Sie zerren heraus, was nicht offengelegt sein soll – und schaffen wichtige Erkenntnisse über die menschliche Gattung. Das Offenlegen ist also immer zweideutig. Und der etwas absurde Streit darum, wie nackt die ausgestellte Mumie nun sei, verweist insofern auf die Fragen der Enthüllung des Obszönen: Wird mit der Mumie Geld verdient? Möchte der Künstler Milo Rau nur seinen Ruhm vergrössern? Besteht sein Team aus instrumentalisierten Dummen? Wissen wir besser, was die Ägypter:innen wollen? Ist Forschung an toten Menschen gut? usw.

Die in der Debatte umstrittene Frage, ob es eine Raubgrabung war und ob Schepeneses Weg nach St.Gallen nicht wenigstens unter damaligem Recht legal war, ist zwar weniger wesentlich als es den Anschein macht, kann aber wohl auch nicht definitiv juristisch geklärt werden. Die Indizien weisen zumindest deutlich auf Raub und illegalen Erstverkauf. (vgl. Offener Brief von Monica Hanna u.a., vgl. Siegmann/Müller, Hg, Cornel Dora: Schepenese – die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St.Gallen, S. 39/59)

Übersetzen und Fragen

Die St.Galler Erklärung fliegt nicht vom Himmel, sondern reiht sich ein ins lange Unbehagen, das einmal öffentlich, mal in Hinterzimmern diskutiert und wieder verdrängt worden ist – siehe z.B. die erfolglosen Bemühungen der früheren Stiftsbibliothekare Ochsenbein und Duft, die Mumie aus dem Saal zu entfernen. Dieses oft geäusserte, spontane Unbehagen, das sich auch in sämtlichen Gruselgeschichten vom Fluch der Pharaonen bis zu den Zombie-Filmen findet, speist sich aus demselben uralten, universellen Gesetz menschlicher Zivilisation, wie der Wille Antigones, ihren Bruder gegen den Befehl des Königs zu begraben, die Suche nach den Massengräbern aus dem Bürgerkrieg in Spanien, die Umbettungen der Gebeine von Königen, die Denkmäler für die unbekannten Soldaten usw.: «Die Toten brauchen einen Ort!» Die Aktion macht nun nichts anderes, als diese uralte Evidenz menschlicher Kultur zu übersetzen in den hypermodernen postkolonialen Diskurs, der ebenfalls unerbittlich auf der Frage nach dem richtigen Ort besteht.

Dass in unserer Gesellschaft, die aus staatlichem Pragmatismus und ohne den Protest der Kirchen seit Jahrzehnten alle Gräber nach 25 Jahren vernichtet, dieses Gesetz bedeutungslos erscheint, nimmt eigentlich nicht weiter wunder. Verwunderlich ist dann aber, dass man die Mumie zeigen und sehen will, verwunderlich ist auch, dass die Katholische Kirche als ihre Besitzerin, deren Glaube an die Auferstehung genauso ein Glaube an die vorher erfolgte Grablegung ist, deren Auferstehungsglaube von Anfang an durch die Legende vom Grabraub bestritten wird, deren Glaube ans leere Grab darauf verweist, dass das Leeren der Gräber eigentlich Gottes Sache ist und dass der Leib auch im Jenseits dazu gehört, davon nichts wissen will.

Sollten nicht gerade die Katholik:innen des Bistums sagen «lasst uns Schepenese zum Anlass nehmen und fragen»: Wem gehören die Toten? Welche Rechte haben sie? Wie haben wir und wie wollen wir künftig unsere Toten begraben? Wie steht es mit unserem Verhältnis zu den Reliquien? Warum fasziniert die Menschen eine Mumie, während sie immer weniger an ein sinnvolles Jenseits glauben? Warum denken wir, dass es wichtig ist, eine Mumie zu haben?

Konservierung, Konservativ, Modern

Denn es bietet sich gerade angesichts des konservierten Körpers einer vor 2600 Jahren verstorbenen Frau nicht nur die Chance über die uralten eigenen Werte und Praxen im Verhältnis zu Leben und Tod Auskunft zu geben, sondern auc es auf Augenhöhe mit den Wertansprüchen der Vertreter:innen des modernen Ägyptens und der postkolonialer Praxis zu tun: Also gleichzeitig konservativ und modern zu sein. Nichts anderes ist ja die Aufgabe der Kirche, wenn sie authentisch Jesu Botschaft vertreten will. Die Doppeldeutigkeit, die das Wort «Zurückgeben» im Zusammenhang mit der Rückgabeforderung eines toten menschlichen Körpers annimmt, bildet hierbei eine wunderbare Brücke zwischen den Diskursen: Das Begraben der Toten hatte immer den Sinn der Rückgabe, des kollektiven Eingeständnisses der definitiven Begrenztheit jeder Verfügung über das Leben.

Provinz, Diktatur, Welt

Warum ist Schepenese in St. Gallen? Weil St.Gallens Verbindungen im frühen 19. Jahrhundert offenbar über persönliche Beziehungen bis nach Ägypten reichten. Auch im frühen 20. Jahrhundert reichten St.Gallens Verbindungen bekanntlich in alle Welt, ganz zu schweigen vom Mittelalter. Sollte nicht das frühe 21. Jahrhundert dazu genutzt werden über Schepenese in einen fruchtbaren Dialog mit Ägyptens Zivilgesellschaft zu treten, die ausgestreckte Hand zu ergreifen und in einer paritätischen Arbeitsgruppe des kulturellen Austauschs gemeinsam und ergebnisoffen über die beste Ruhestätte von Schepenese nachzudenken?

Am Ende kann eine Rückgabe, ein Verbleib mit einer angemessenen Ausstellungspraxis, Kulturgütertausch, eine andere kreative Lösung und hoffentlich eine Städtepartnerschaft stehen. Denn nicht wahr, eine Zivilgesellschaft, egal ob sie wie die st.gallische unter der Provinzialisierung oder wie die luxorische oder assuanische unter einer Militärdiktatur leidet wird am wirksamsten gestärkt durch regelmässigen Austausch und stabile Kontakte in alle Welt. Hey, St.Gallen, wir sind auf der ägyptischen Landkarte kein blinder Fleck mehr, man hat uns entdeckt, wollen wir nicht stolz darauf sein?

Kolonialismus Revisited

Grosse Teile der schweizerischen Presse, ob sie den Schepenesestreit nun «unnötig» findet oder «clever», ob Kolumnistin, Kulturjournalistin oder Chefredaktor, alle spielen auf den Künstler und Theatermann Milo Rau. Er manipuliert, benutzt, inszeniert, will dies oder das, hat davon keine Ahnung, sollte doch besser usw. Er gegen alle. Niemand spricht mit den angereisten Ägypterinnen, mit der Ägyptologin Monica Hanna, mit der Filmemacherin Rabelle Erian, niemand interessiert sich für die zahlreichen anderen ägyptischen Stimmen aus leitenden Stellen in Museen und Wissenschaft, die sich in dem offenen Brief an St.Gallen wenden. Mehrfach angebotene Interviews werden ignoriert. Stattdessen weiss man sehr gut, was DIE Ägypter wollen und was sie mit der Schepenese tun werden. Wird hier nicht gerade ein koloniales Muster weiterverfolgt, das die relevanten Akteure, ob im Guten oder im Bösen immer nur in der eigenen Kultur sucht und findet?

Es gibt Wichtigeres, aber das Wichtige ist schwer zu fassen

Es gibt natürlich Wichtigeres und wir alle, die wir hier mitmachen und mitstreiten wissen das. Aber wir wissen auch, dass Erbstreitigkeit in der Familie immer Stellvertreterstreite sind, wo es um die Klärung der wirklich wesentlichen Fragen um Anerkennung und Gerechtigkeit geht. Und warum ist das so? Vielleicht, weil der direkte Weg oft verstellt ist. Vieles spricht dafür, dass das auch hier der Fall ist. Und eigentlich ist es also damit nicht anders als im Christentum: Auch Gott ist nicht direkt, sondern nur in der Vermittlung zu erfahren.

Rolf Bossart, 1970, ist Publizist und Theologe in St.Gallen sowie Mitarbeiter von Milo Raus International Institute of Political Murder (IIPM) in den Funktionen Theoriearbeit, Recherche, Herausgeber.

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