, 1. November 2020
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Päng päng päng

Das Theater St.Gallen spielt weiter, so lange es darf. Am Samstag hatte im Provisorium «The Black Rider» Premiere, das Kultstück von Tom Waits, Robert Wilson und William S. Burroughs. 30 Jahre nach der Uraufführung eine Erstaufführung der anderen Art: Theater vor 50 Leuten.

Teufelspakt: Stelzfuss (Tobias Graupner) und das Ensemble. (Bilder: Tanja Dorendorf)

Soll man sie verraten, die Szene fast am Schluss? Eigentlich soll man das nicht, aber eigentlich doch, weil nur gerade 50 Personen pro Vorstellung diesen Black Rider sehen können und die meisten also draussen bleiben werden.

Die Szene also: Käthchen ist erschossen, Wilhelms siebte Kugel ist teuflisch abgelenkt worden. Das Böse hat gesiegt, Käthchen liegt tot da.

Aber dann fällt Anja Tobler aus der Rolle, sie rappelt sich auf, haut auf den Boden und schreit herum: «päng päng päng» und «fuck you all». Dieser ganze Ballerei-Quatsch, dieses Theater um Schiesskunst und «magische» Kugeln und Männerehre und Waldromantik geht ihr so auf die Nerven, dass sie kurzerhand die verdatterte Förstergesellschaft abknallt inklusive Stelzfuss aka Black Rider aka Teufel Beelzebub Gottseibeiuns.

Wie es dann im Stück doch nochmal weitergeht bis zum letzten Song Last Rose Of Summer: Hingehen, selber schauen! 50 Tickets werden verkauft pro Vorstellung nach dem Prinzip «first come first serve», wobei die Abonnements bevorzugt behandelt werden. 50 Personen im 500-Plätze-Provisorium namens UM!BAU, das ist ein Theatererlebnis der eigenen Art, frostig, privilegiert, einsam. Ein bisschen wie allein im Wald.

Und nun über das Stück schreiben, als wäre alles normal? Mit Black Rider gesagt: Easy said but schwer getan…

Zombies und Bäume mit Leuchtaugen

Jedenfalls: Der grosse Ausbruch von Käthchen, päng päng päng, ist der Ausnahme-Mutanfall in einer Inszenierung, die sonst mit dem Stoff handwerklich virtuos, aber auch sehr kontrolliert und künstlich umgeht.

Hausregisseurin Barbara-David Brüesch setzt einerseits auf schwarzweisse Stummfilm-Ästhetik, bis zu den Vignetten vor den Kapiteln und zur phänomenalen Liveband. Andrerseits bevölkern grotesk aufgeputzte Fabelwesen die Bühne (Kostüme Sabine Blickenstorfer) – Bäume mit Leuchtaugen, Fuchs und Wildschwein, Zombiekinder mit Beil oder Kürbis, der Herzog samt Zelt und einem Ross, das im Takt der Songs höflich mitwippt, und allerhand andere Spielfiguren – mechanisch wie Erbförster Kuno (Tenor Riccardo Botta), der seine Arien schmettert und seine altfränkischen Weisheiten von sich gibt, wenn man ihn mit der Kurbel aufzieht wie eine Schwarzwälderuhr.

Ausgelacht von Wild und Wald: Wilhelm (Pascale Pfeuti, rechts), scharf beobachtet von Stelzfuss (Tobias Graupner).

Gruppenbild mit Ross: Christian Hettkamp, Riccardo Botta, Elias Podolski, Matthias Albold (von links).

Das schafft die komischsten Momente, es ist präzis choreografiert, aber auch blutleer. So wie die «Androiden»-Automaten des jurassischen Uhrmachergenies Pierre Jacques-Droz oder Baron von Kempelens «Schachtürke», die im 18. Jahrhundert die europäische Öffentlichkeit faszinierten – und dies nicht zufällig zeitgleich mit der Hochblüte der Romantik und der Jägerfantastik à la «Freischütz».

Die Musik führt Regie

Im St.Galler Black Rider siegt Technik über Romantik. Die Licht-, Video- und Tonspezialisten des Theaters ziehen auch im UM!BAU alle Register. Carl Maria von Webers Original-Freischütz wird immer wieder szenisch und musikalisch zitiert – dann aber abgewürgt, zum Glück, um dem Sound der Gegenwart Platz zu machen, den Songs von Tom Waits, fantastisch gesungen, geknurrt, gejammt vom St.Galler Schauspielensemble.

The Black Rider: Nächste Aufführungen 4., 6., 7., 8. November

theatersg.ch

Den Boden legt die multi-instrumentale Black-Rider-Band: Michael Flury, Gina Eté, Christian Müller und Nicolas Stocker. Mit Schlagzeug, Posaunen, Klarinetten, Geige, Harmonium, Klavier und Elektronik macht das Quartett über die Songs hinaus das Theater zur Geräuschmaschine, lässt Schritte knallen, Knochen klappern, Schwingtüren knarren, den Wind pfeifen, Kugeln flitzen. Die Musik peitscht und jault, sie jagt den armen Wilhelm über den Holzboden, der gegen Ende steiler und steiler wird, und lacht das irre Lachen des Beelzebubs mit. Das Stück macht seinem Untertitel als «musikalische Fabel» alle Ehre.

Einmal mehr aber ist das Groteske im Theater der Feind der Emotionalität. Auf der leeren Bühne dekonstruiert die Regie nicht nur Romantik und Automatenzeitalter. Sie lässt auch den Teufel alt aussehen (Tobias Graupner spielt den Stelzfuss als Greis mit zwischendurch aufblitzender Gemeinheit), lacht über den schürzentragenden Förster samt Gattin (Matthias Albold, Birgit Bücker) und spielt Halloween mit all den Schreck- und Witzgespenstern (in diversen Rollen Frederik Rauscher, Christian Hettkamp, Tabea Buser und Elias Podolski/Jakob Thielemann).

Frauenpower mittendrin

Definitiv von vorgestern ist auch die romantische Liebe zwischen Wilhelm und Käthchen. Würde man meinen. Die behauptet sich aber doch, und im Lauf des Stücks immer stärker. Anja Tobler und Pascale Pfeuti brechen aus ihren Klischeekorsetts aus und holen die Gefühle dort, wo sie am heftigsten brodeln: in den Songs von Tom Waits. Das Duett The Briar And The Rose, Toblers I’ll Shoot The Moon, Pfeutis wahnsinnsgetriebener Lucky Day: Da würde es kribbeln im Saal, wären mehr als bloss die 50 in den Plüschreihen verstreuten Zuschauer da.

Pfeuti spielt den Wilhelm, Frau spielt Mann: Das passt, weil sie beherzt spielt und androgyn flirrend. Aber damit einen «Gender Shift» zu behaupten, wie das Programmheft das tut, ist zu hoch gegriffen. Der St.Galler Black Rider verschiebt die Gewichte vielmehr in einem anderen Sinn: «Corona Shift». Das Stück ist konsequent auf Abstand inszeniert, die Liebesherzen fliegen sich nur per Projektion zu, gesungen wird Solo (Michaela Frei) statt wie geplant vom Damenchor, der Teufelskreis, der am Ende um Wilhelm herum brennt, hält alle auf Distanz usw. – ein Spiel voller Anspielungen auf die Pandemie.

Pascale Pfeuti, Anja Tobler im Teufelskreis.

Das ist intelligent und amüsant, man sitzt mit drin und fühlt sich als einer von 50 handverlesenen Zuschauern gebauchpinselt, dass man dabei sein kann. Und dann taucht plötzlich dieses Bild im Kopf auf: Ein Kobold, einer wie das Beilkind, das uns am Anfang begrüsst und gefragt hat: «Sitzen Sie gemütlich?» – dieser Kobold hackt mit seinem blutroten Beil ein Loch in den Bühnenboden, und ich und wir alle stürzen hinein in das Loch und mit uns der ganze Kulturbetrieb, und irgendwo lacht einer mit einem Stelzfuss sein irres Lachen und ruft ins Loch hinab: «You must have just the right bullets».

Draussen, auf dem Heimweg, fällt mir eine mögliche Antwort auf das teuflische Lachen und auf das vermaledeite Virus ein. Es ist ein Satz vom alten Kuno: «Whatever you do, don’t sell your you.»

 

 

 

 

 

 

 

1 Kommentar zu Päng päng päng

  • Fred Kurer sagt:

    Danke für die lebendige Theaterkritik. Dank ihr bin ich so etwas wie dabei gewesen. Hoffe aber trotzdem, es einmal unter die 50 Erlesenen
    zu schaffen.

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