, 8. Januar 2020
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Panik

Man sieht es einem Menschen nicht an, dass er oder sie Sans-Papier ist. Man merkt es erst in intimen und verletzlichen Momenten. Ein Bericht. von Mardoché Morris Kabengele

Sans-Papier. Schon nur die Wortkombination klingt befremdlich. Ein Fremdwort aus der Ferne, das im einfachsten, unmissverständlichen Französisch «Ohne Papiere» bedeutet. Sans­Papier ist ein Brandmal, eine Bürde.

Statistiken über Menschen zu führen, die unter dem Radar der Gesellschaft leben, um einer möglichen Rückführung auszuweichen, ist ähnlich aussichtslos, wie wenn man versucht, bei Nacht und Nebel im Morast mit Stock und Schnur zu fischen.

Man sieht es einem Menschen nicht an, dass er oder sie Sans-Papier ist. Man merkt es erst in intimen und verletzlichen Momenten. Betroffene verschweigen es den Kolleginnen, Partnern und Bekannten – nur als letztes Mittel, kurz vor der Verzweiflung outen sie sich.

Als Mitarbeiter einer Stadtverwaltung im Frontoffice-Bereich habe ich mit allen möglichen Menschen in Notsituationen Kontakt. Mein Team und ich sind uns vieles gewohnt, uns schockiert so leicht nichts mehr – an folgende Begegnung erinnere ich mich aber nur allzu gut.

Eine Frau Mitte 40, südamerikanischer Herkunft, mit schwarzen Haaren, Daunenjacke und schwarz schimmernder Handtasche erschien an unserem Schalter. Ich begrüsste sie, sah, dass sie zuvor geweint hatte. Verschmierte Schminke, gerötete Augen – shit.

«Wie kann ich Ihnen helfen?» Keine Antwort. Sie versuchte sich zusammenzureissen und teilte mir in fliessendem Deutsch mit leichtem Akzent mit, dass sie einen Schlafplatz brauche. Man habe sie zu uns geschickt. «Ist etwas passiert?» Sie begann zu weinen und ich bat einen Kollegen, mir ein Taschentuch hinüberzuwerfen.

Die Frau suchte nach den passenden Worten. Man sah ihr an, dass sie gründlich überlegte; überlegte, nicht zu viel zu offenbaren, überlegte, sich nicht in eine Situation zu bringen, die sie noch bereuen könnte. Ich versuchte mich weiter an mögliche Themen heranzutasten. «Sind Sie verletzt?», «Geht es um Ihre Kinder?», «Wieso weinen Sie?», «Sollen wir die Polizei beiziehen?» Sie schüttelte den Kopf. «Sind sie verheiratet, geht es um Ihren Mann? Ist etwas Schlimmes passiert?»

Sie zögerte, ihr Schluchzen hallte durch den leeren Empfangsbereich. Ich ahnte nichts Gutes. Shit. Fuck. Weitere Fragen waren von da an überflüssig und wären nur noch zusätzlich schmerzhaft gewesen. Denn der Verdacht, dass vor mir eine Frau stand, die Opfer von häuslicher Gewalt wurde, verstärkte sich. «Sie haben den ersten wichtigen Schritt gemacht», versuchte ich sie zu bestärken – sie wischte sich ihre Tränen weg und richtete sich auf.

«Wie heissen Sie denn? Wo wohnen Sie?» – Alles Fragen, die ich für die Weiterverarbeitung und Erfassung benötige. Da wandelte sich ihr Blick von Trauer in Angst. Keine Antwort. Hat sie mich nicht verstanden? «Haben Sie per Zufall einen Ausweis dabei?» Ihr Gesicht versteinerte. Wenn Trauer die Ausgangslage und Angst die Steigerung war, waren wir nun beim Superlativ angelangt: Panik.

Ich wollte gerade die Fragen wiederholen, da merkte ich es. Ohne Stock und Schnur, am helllichten Tag in einer behördlichen Empfangshalle ist mir aus dem Morast ein Fisch entgegengesprungen. In all seiner Hilflosigkeit und Verletzlichkeit. Das Atmen fiel ihr schwer, auch das Reden, nur noch schluchzen.

Ich wusste ihr tiefstes Geheimnis, ein Geheimnis, über das wahrscheinlich die wenigsten Bescheid wussten. Ob sie ohne gültigen Ausweis eingereist war oder ob der Ausweis seit der Einreise nicht verlängert wurde, tat nichts zur Sache. Sie wurde (sei es psychisch oder physisch) missbraucht und ist aufgrund ihrer Angst vor einer möglichen Rückführung an ihren Peiniger gebunden.

Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

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