, 20. Oktober 2020
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Platz 23 von 49

Warum müsst ihr immer betonen, wie gay ihr seid? Was sollen die ganzen Labels? Wann dürfen Queers endlich heiraten? Diese und andere Fragen beantwortete LGBT+-Aktivistin Anna Rosenwasser am Montag im Palace anlässlich des Pride-Monats in St.Gallen, ausgerufen von Unigay.

Anna Rosenwasser, 1990 geboren und in Schaffhausen aufgewachsen, wohnt in Zürich. Sie arbeitet als freischaffende Journalistin und gibt diese Kolumne nach bald fünf Jahren und einem Buch ab. (Bild: pd)

Etwa 80 Leute sitzen am Montagabend im Palace St.Gallen, alle brav mit Maske und einem Plüschsessel Abstand dazwischen. Ein würdiges Publikum für Anna Rosenwassers letzten Auftritt für die nächsten Wochen. Corona stoppt auch die umtriebigsten Aktivistinnen.

«Es war eine gute Entscheidung, für diese ‹Dernière› nach St.Gallen zu kommen», sagt die in Schaffhausen aufgewachsene Journalistin und LGBT+-Aktivistin, als sie die Bühne betritt. «Nicht zuletzt wegen der geschlechterneutralen Toiletten.»

Ins Palace gekommen ist Rosenwasser auf Einladung von Unigay. Die Gruppe will die Vielfalt sichtbar machen, LGBT+-People vernetzen und unterstützen und hat zu diesem Zweck im Oktober den Pride Month ausgerufen an der Uni St.Gallen und der Ostschweizer Fachhochschule, zum ersten Mal überhaupt. Rosenwassers Soirée in der Erfreulichen Palace-Uni ist der letzte Anlass im Rahmen dieses Pride-Monats. Einer der ersten war der Film Sous la Peau im Kinok mit anschliessender Diskussion, hier mehr dazu.

Rosenwasser tritt an diesem Abend an, um den St.Galler «Damen bis Herren» im Palace Antworten zu geben auf die sechs häufigsten Fragen, die ihr in Zusammenhang mit ihrem Aktivismus gestellt werden. (Die häufigsten heisst die legitimen. Also zum Beispiel nicht die lästige Frage, wie Lesben Sex haben, die sie ohnehin bereits in einer ihrer monatlichen Saiten-Kolumnen geklärt hat.) Vier ihrer Antworten haben wir zusammengefasst.

Wann können wir endlich heiraten?

Die Eingetragene Partnerschaft sei nicht dasselbe wie die Ehe für alle, erklärt Rosenwasser, das sei vielen nicht bewusst. Bei der Eingetragenen Partnerschaft gebe es beispielsweise keine erleichterte Einbürgerung, keine gemeinschaftliche Adoption, keinen Zugang zu Samenspenden, keine Witwenrente sowie ein anderes Erb- und ein anderes Güterrecht.

Alle monatlichen Saitenkolumnen von Anna Rosenwasser in der Rubrik «Nebenbei gay» sind hier zu finden.

News und Infos für die LGBT+-Community rund um den Bodensee, samt umfassender Veranstaltungsagenda:
queer-lake.net

Neben diesen rechtlichen Aspekten gebe es noch weitere, die weniger thematisiert werden, aber ebenso wichtig seien. In der Eingetragenen Partnerschaft gebe es zum Beispiel keine offizielle Verlobung und auch keine Trauzeuginnen und Trauzeugen. Diese als romantisch empfundenen Traditionen seien nicht für alle wichtig, denn die Ehe bedeute für alle etwas anderes. «Aber ich will die Entscheidungsfreiheit haben, ob die Ehe für mich etwas Romantisches ist oder nicht. Der Staat verbietet mir momentan, mich ganz romantisch zu verloben – und das findi grusig.»

Dann die Zivilstandsangaben: Auf vielen offiziellen Formularen muss man ankreuzen, ob man «Geschieden», «Verheiratet», «Ledig» oder eben «In Eingetragener» oder «ausgetragener Partnerschaft» lebt. Das bedeutet, dass man sich immer automatisch outen muss. «Auch in Situationen, wo man vielleicht nicht gerade sagt: ‹Grüezi, ich bin gay!›» Das möge ein Detail sein, aber es habe im Alltag vieler Menschen Konsequenzen, kritisiert Rosenwasser. «Je nachdem wie homophob dein Gegenüber ist.»

Auch die Gans stimmt für die Ehe für Alle.

Weiterhin ungeklärt ist die Frage, ob lesbische Paare wie heterosexuelle Paare Zugang zur Samenspende erhalten sollen, mehr dazu hier. Dass die EDU das Referendum gegen die Ehe für Alle angekündigt habe, sei nicht nur schlecht, ist die Aktivistin überzeugt, denn ein grosser Teil der Bevölkerung sei schon längstens dafür, das werde sich bei einer Abstimmung auch an der Urne zeigen. Wann es soweit ist, kann sie nicht sagen. Sie hofft auf Anfang 2022, befürchtet aber erst 2023.

Aber den Queers geht es doch sonst gut in der Schweiz, oder?

Auch wenn sich die Schweiz gerne als sehr fortschrittlich einschätze, was gesellschaftliche Offenheit angeht, sehe die Realität anders aus, erklärt Rosenwasser. Auf der Rangliste der europäischen Länder in Bezug auf ihre LGBT+-Rechte rangiert die Schweiz auf Platz 23 von 49. Auf Platz eins ist Malta.

Konversionstherapien beispielsweise sind in der Schweiz noch immer erlaubt, bezüglich der sexuellen Orientierung genauso wie bezüglich der Geschlechtsidentität. Auch der Diskriminierungsschutz, der im Februar mit 63 Prozent angenommen wurde, greife zu kurz, sagt sie. Er beziehe sich nur auf Hate Speech, nicht aber auf Hassverbrechen.

Ausserdem gelte dieses Gesetz nur für die sexuelle Orientierung und nicht auch für Geschlechtsidentitäten und -ausdruck, wie es die LGBT+-Verbände ursprünglich gefordert hatten. «Trans Menschen haben bei uns allgemein sehr viel weniger Rechte als in fortschrittlicheren Ländern», kritisiert Rosenwasser. «Wie gut eine trans Person mit ihrem Anliegen durchkommt, hängt immer von der jeweiligen Richterin oder dem jeweiligen Richter ab – die pure Willkür!»

Ohnehin existierten in der Schweiz immer noch nur zwei Kategorien: männlich und weiblich. Den Geschlechtseintrag innerhalb dieser zwei Optionen anzupassen, sei schon schwierig und teuer genug, «aber für Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, gibts einfach nichts.»

Und nicht zuletzt: Queere Geflüchtete seien noch viel zu wenig geschützt. Die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität werde ungenügende als Asylgrund anerkannt.

Warum die ganzen Labels?

Stichwort Buchstabensalat. Für Rosenwasser ist klar: Auch wenn sie manchmal nerven, es braucht die Labels. Auf vermeintlich einfachere Varianten wie #loveislove auszuweichen, sei undifferenziert und nicht zielführend. Nur schon, weil #loveislove sich nur auf die gleichgeschlechtliche Liebe bzw. die sexuelle Orientierung bezieht und nicht auf Geschlechtsidentität. «Das schliesst trans Menschen aus.»

Sie vermutet, dass dieser Hashtag bei vielen so gut ankomme, weil er so harmlos ist – «aber wir kommen mit ‹harmlos› nicht weiter.» Das bei vielen beliebte Argument, dass wir doch alle einfach Menschen seien, verfange nicht. «Man ruft mir nicht Drecksmensch hinterher, sondern Dreckslesbe. Diese Leute verzichten auch nicht auf Labels, warum sollten wir es tun?»

Zudem seien Labels auch identitätsstiftend. Sie habe als Journalistin schon queere Menschen jeglichen Alters interviewt, erzählt Rosenwasser. Und immer fiel irgendwann der Satz: Ich dachte, ich sei allein. «Dieses Alleine-Sein hört dann auf, wenn du weisst, dass es andere gibt, die so sind wie Du. Und dafür braucht es Wörter und Labels. Und diese wiederum braucht es, um politische Forderungen zu formulieren.»

Warum müsst ihr immer betonen, wie gay ihr seid?

Diese Frage impliziere auch die Frage: Warum seid ihr nicht einfach normal? Rosenwassers ehrliche Antwort: Weil wir mit «Normal» gar nicht so einverstanden sind! «Wir wollen nicht, dass die Norm bleibt, wie sie ist und wir darum winseln, dass wir bitte auch rein dürfen. Wir wollen, dass die Norm ausgeweitet wird, dass sie vielfältiger wird.»

Es dürfe nicht sein, dass ihre Partnerin, die «ein maskuliner Tomboy» ist, öfters angefeindet wird als sie, nur weil ihre Weiblichkeit anders aussehe als ihre. Ausserdem – und das werde oft vergessen – hätten alle auffälligen Queers für das Recht gekämpft, dass Queers heute auch unauffällig queer sein dürfen.

In der Linguistik gebe es das Phänomen des «Reclaiming», erklärt sie, eine Art sprachliche Rückeroberung: «Wenn ein Wort gegen dich verwendet wird, um dich zu beleidigen, nimmst du es dir zurück, streust Glitzer darüber und sagst: Merci, das gehört jetzt mir.» So geschehen mit dem Wort Dyke, also Kampflesbe, und auch mit dem Wort queer, was ursprünglich komisch bedeutet hat. «Wenn wir selbst das Wort stolz für uns verwenden, dann wird ihm ein Teil seiner beleidigenden Macht weggenommen.»

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