, 8. Februar 2020
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Reissverschlüsse per Taobao

Repression gegen Uiguren, Tradition im Hochgebirge, Konsumrausch auf Taobao: Die Februar-Flaschenpost aus China, dem Land der Widersprüche. von Remo Wild

Im Uhrzeigersinn drehen für ein gutes nächstes Leben. (Bilder: Remo Wild)

Ich wollte vorbereitet sein und im Vorfeld der Einreise nach China gewissen Widersprüchen schon etwas auf den Grund gehen. Zum Beispiel der westlichen Berichterstattung zur Uiguren-Verfolgung in West-China im Gegensatz zur grotesken Broschüre in der chinesischen Botschaft in Teheran über «The protection of the cultural heritage» des chinesischen Staates dieses Volk betreffend. Ich bildete mich also brav mit Kai Strittmatters Buch Die Neuerfindung der Diktatur. Ich empfehle es allen, wiederholte Gänsehaut.

Nun ein Verbrecher?

Bei keinem Grenzübertritt hatte ich bisher annähernd so den Schiss in den Hosen wie bei jenem nach China, in die westlichste Provinz Xinjiang, in der bisher über eine Million Uiguren in Arbeits- und Gefängnislager gesteckt wurden, deren Existenz die Regierung bis vor kurzem noch leugnete. In jene chinesische Provinz nebst Tibet, in der westliche Individualtouristen höchst unwillkommen sind.

Wir wussten von Spy-Apps, die Besuchern bei der Einreise ohne Vorwarnung installiert wurden, um sie tracken zu können, und dass Bilder von Moscheen oder Kopftüchern auf dem Handy die Einreise eventuell verhindern könnten. Ich löschte mein Telefon komplett. Wir versteckten verbotene Sackmesser in der Thermosflasche und chinakritische Bücher auf dem E-Reader in verschachtelten Unterordnern.

Der chinesische Überwachungsstaat wirkte bereits ausserhalb höchst wirksam auf uns ein. Es dauerte rund acht Stunden, bis wir uns in China frei bewegen konnten. Für allerhand Informationen interessierten sich die Polizisten: Wo wir schlafen würden, wie viele Nächte, was wir in Xinjiang genau vorhätten. Auch die Handys durchstöberten sie und wollten plötzlich wissen, wo das Bild der Ballone von Göreme (Türkei) denn aufgenommen worden sei. In Bulgarien, erklärte ich kurzum, während ich Veronicas Herzschlag beinahe hören konnte, deren Löschaktion vom Vorabend offenbar ungewollte Lücken aufwies.

Ab jetzt wurde jede Grimasse von zehn Kameras gratis gleichzeitig gefilmt. Die Weiterfahrt auf den ersten 140 Kilometern nach der Grenze war nur in einem mit Kamera und GPS-Sender ausgestatteten Taxi erlaubt. Womöglich Uiguren-Lager-Gelände. Der grösste Trost bei all der Zeitverschwendung war, dass unsere teuren Sackmesserwerkzeuge in der Thermosflasche am Velo unbemerkt bald chinesisches Festland erreichten.

Hallo China. Wir kamen an, in einem Wald von chinesischen Zeichen, ohne Internet oder ein Wort Chinesisch, ohne ungeblockten VPN, mit dem man Google Translate hätte verwenden können, ohne Buchstaben zu entdecken, die auf etwas wie ein Hotel hingedeutet hätten, ohne Aussicht auf eine Person, die eine uns verständliche Sprache gesprochen hätte. Meine Faszination für Velofahrer, welche die Welt vor 30 Jahren noch ohne Karten und Internet bereisten, machte einer leichten Überforderung Platz.

Wir rollten los, auf den jungfräulichen Asphaltstrassen, der Stadt Kashgar entgegen, die letzten verschneiten Gipfel Zentralasiens hinter uns, durch Dörfer mit Häuserfronten, die uns an Usbekistan erinnerten. Der Gwunder war gross, hinter diese massiven, hölzernen Eingangsportale zu schauen. Zwei alte uigurische Frauen waren sichtlich erfreut, dass wir uns dafür interessierten, und liessen uns gewähren.

Wir spazierten wenige Minuten durch einen idyllischen Innenhof mit Blumen und Obstbäumen, bis… wir von vier Polizisten wieder ausgeladen wurden, da sie unsere Räder vor dem Haus gesehen hatten und der herzlichen Begegnung ein jähes Ende bereiteten. Es war eindeutig nicht nach ihrem Gusto, dass wir uns mit Uiguren unterhalten würden. Wieso die Welt diese Situation hier wohl verschweigt? Hängt der westliche Wohlstand an einem chinesischen Seidenfaden, so dass sich niemand getraut, den Mund aufzutun?

Den Uiguren wird China eingetrichtert.

Wir brauchten in Kashgar ein paar Tage, um diese mühsamen Herausforderungen einerseits und andererseits all die neuen leckeren Gerichte zu verdauen.

Erster Höhepunkt in China? Essen! Nach dem Pamir ein Paradies auf Erden und für die folgenden zwei Monate die grossartige Konstante. Diese Vielfalt! Hühnerfüsse, Gansköpfe, Gansdärme, ausgekochter Ziegenschädel, ein ganzer Zoo – «from nose to tail». Naja, diese Leckereien lehnten wir dankend ab und zeigten auf das Gemüse im Kühlschrank, dass anschliessend mit den handgezogenen Nudeln und etwas Chili im Wok und wenig später in unseren saftenden Mündern landete.

Reinkarnation der Zehen

Ohne exakte Pläne für unsere Weiterfahrt weg von Kashgar, ohne zu wissen, dass die tibetische Kultur weit über die Provinz Tibet hinausgeht, tauchten wir plötzlich in diese Welt ein: farbige Klosterinnenräume, von Yakbutterkerzen beleuchtet und nach ihnen duftend, pilgernde Menschen, deren Aufstehen und Hinlegen an die Fortbewegung einer Raupe erinnerte, von Menschenhand angeschobene, drehende, knarrende Gebetsmühlen, heilige Gebäude, welche von den Gläubigen im Uhrzeigerinn, Om-mani-padme-hum betend, umrundet wurden, oder «Begräbnisorte», an denen die Leichen traditionell zerteilt und den Geiern verfüttert wurden.

Die Menschen waren eher kurz geraten, braun gebrannt von der Hochgebirgssonne und gut eingepackt in einen Choba (Mantel mit Innenfell, teils noch vom Yak). Eine fast perfekte Idylle, abgesehen beispielsweise von den klingelnden Handys der betenden Klostermönche.

Als Kulturbanause, der sich stets eher spärlich für Gebäude, Gebräuche, Religionen und dergleichen interessierte, spürte ich immer stärker, wie die Werte der Gesellschaft hier tief verankert waren im Vergleich zu anderen Gebieten Chinas, in denen wir sie schlicht nicht erkennen konnten. Wir stapften in sommerlichen Schuhen durch frischen Pulverschnee und schoben die Velos über frisch eingeschneite Passstrassen.

Die Zehen erlebten jeden Abend die nächste Reinkarnation. Dick eingepackt wie schwerfällige Seehunde verbrachten wir die frischen Zeltnächte, ich opferte den Buddhas beinahe meinen Drahtesel, da sich plötzlich der Wechsler unangenehm in den Speichen verhakte, und die Zeltreissverschlüsse gaben definitiv den Geist auf. Wir wurden belohnt mit wärmender Sonne, wärmenden Stuben bei herzlichen, gastfreundlichen Leuten, geheizten Matratzen in ungeheizten Hotelzimmern, bunten Fasanen und unzähligen grasenden Yakherden.

Der erste Monat war vorbei, als wir die 14-Millionen-Stadt Chengdu erreichten, wo die Leute nicht mehr mit Yakdung heizten, sondern mit dem Tesla zwischen den blinkenden Wolkenkratzern herumkurvten. Solche «chinesische Schizophrenie» übermannte einen immer wieder. Altstädte werden in China gerade neu gebaut und auf Tourismustafeln mit «Oldtown» angepriesen. Für wirtschaftliche Schwierigkeiten oder Hongkong-Proteste werden der Westen und die USA verteufelt, während nirgendwo so viele neue iPhones verkauft werden wie in China.

Chinesen selber verkündeten uns stolz, China sei eben die Nummer eins, bald hätten sie den grössten und schnellsten Megacomputer gebaut, wohl noch vor den Amis. Gleichzeitig vergibt die Weltbank nach wie vor Kredite an dieses Land, da es von ihr als Entwicklungsland klassiert wird.

Kaufen und kontrollieren

Grosses Ziel in Chengdu war es, unser Zelt wieder bewohnbar zu machen und die Zeltreissverschlüsse zu ersetzen. Ich dachte da, naiv und altmodisch, an ein Geschäft wie etwa Riri Mayer in St.Gallen, vielleicht in chinesischen Proportionen… und kam mir bald vor wie aus dem hintersten verschlafenen Tal vor hundert Jahren.

In China kauft man nicht in Ladenlokalen, sondern auf Taobao, dem chinesischen Alibaba, und da gibt es ALLES – nebst Häusern und Schweizer Käse auch unsere Wunschartikel. Dank unserem Gastgeber (ohne Chinesisch keine Chance) bestellten wir express in die nächste Stadt, trotz Lieferengpässen wegen des China-Online-Handel-Black-Fridays, an dem in einer Stunde soviel eingekauft wird wie im Schweizer Online-Handel in einem Jahr. Bezahlt wird per Handy über WeChat. Das chinesische WhatsApp vereint zusätzlich Booking, Twint, Google Translate und dergleichen in einem und macht es dadurch viel einfacher für Vater Staat. Denn so weiss er nicht nur, was die Leute miteinander sprechen (er zensuriert es ja permanent), sondern auch gleich noch, was wer wo ausgibt.

Bestens vorbereitet hatten wir unsere Banken-Schweiz einst mit VISA und Master-Card verlassen. Für diese Kärtli interessierte sich in China selten jemand. Jeder noch so kleine Nudelshop hat einen WeChat-QR-Code, der per Handy gescannt und so die Rechnung beglichen wird. Sogar dem Bettler hängt ein solcher Code laminiert um den Hals, für besseres Karma einfach schnell scannen.

Das «Haus» wird geflickt.

Nach einer weiteren Zugfahrt gen Süden war das Zelt in Kunming bald in der Obhut einer älteren Dame, die mit den Füssen über einen Riemen die Nadel ihrer Nähmaschine antrieb und die gelieferte Ware annähte. Made in China, natürlich günstiger als Riri Mayer.

Mit frischer Behausung im Gepäck fuhren wir zum Abschluss im hügeligen Süden durch Reisterrassenhügel und schier endlose Bananen- und Kautschukplantagen. Das Erntedank- und Neujahrsfest der Hani war zum Abschluss einer der chinesischen Höhepunkte. Ausgelassene Stimmung mit Gesang, viel Essen und Schnaps, interessierte Leute in bunten Trachten, eine unbeschwerte Stimmung und selten erlebte Nähe.

Drei Kilometer gedeckter Tisch am Neujahrsfest der Hani.

Remo Wild, 1989, ist Umweltnaturwissenschafter, Veronica Soldati, 1990, ist Agronomin. Seit April 2019 erkunden sie die Welt mit dem Velo und sind momentan in Vietnam.

Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten.

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