, 10. Oktober 2014
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Selbstfindung zu zweit

In «Superego – einmal ich bitte» wird die Protagonistin zusammen mit ihrem geklonten Ich auf einen durchgedrehten Selbstfindungstrip geschickt. Das Stück ist eine wilde, bitterböse Satire auf den esoterischen Kult um sich selbst, findet Sebastian Ryser.

Eigentlich sieht es gar nicht nach einem Theaterabend aus: wer das Stück der Ostschweizer Gruppe «Theater Jetzt» sehen will, betritt nämlich nicht einen Zuschauerraum – sondern landet mitten in einer Party. Denn Brigitta S. (Eva Rolli), die Protagonistin von «Superego – einmal ich bitte», feiert Abschied. Nachdem sie dann ein paar Festbänke herbeigeschafft und das Publikum platziert hat, verkündet sie sichtlich aufgeregt, dass sie mal eine Zeit lang alleine sein wolle.

Brigitta S. hat genug. Genug vom Reisen, genug vom müde sein – und vor allem genug von Herrmann. Die Lösung: Sich eine Weile aus der Welt ausklinken, Zeit nur mit sich selber verbringen. Ein Wunsch, den in Zeiten ständiger Verfügbarkeit, Vernetzung und live-ticker wohl viele Leute hegen. Dieser Wunsch mit sich selbst alleine zu sein wird ihr von einem ominösen Institut erfüllt – und zwar wörtlich. In einer grossen Kiste wird sie angeliefert: Betta (Theresa Strack), ein Klon, eine identische Brigitta, ein zweites Selbst.

Und wie geht frau mit ihrem zweiten Ich aus Protoplasma um? Dies erfährt Kundin – wo sonst – in der mitgelieferten Packungsbeilage (Mathias Ott). In hautengem Outfit, Gelfrisur und verkrampften Dauergrinsen steigt diese während des Stücks immer wieder aus ihrer Kiste heraus und erteilt Ratschläge und Lebensweisheiten aus den Tiefen des esoterischen Ratgeberuniversums.

Ringen mit dem Ich

Nach ausführlicher Betrachtung ihres Körpers (wann sieht man schon mal den eigenen Rücken in anständiger Perspektive?), beginnt Brigittas Annäherung an ihr zweites Ich. Dies aber weder durch psychologische Auseinandersetzung noch durch esoterische Selbstfindungsrituale, sondern durch Sport, Pizza essen und gemeinsames Schwelgen in Erinnerungen an Herrmann.

Doch bald zeigen sich auch schon die Probleme. Denn Brigitta teilt nicht nur ihr Aussehen und die Vorliebe für Pizza mit ihrem Klon, sondern gezwungenermassen sämtliche Gedanken, Erinnerungen und Träume. Und das kann auch schnell unangenehm werden: Wenn das zweite Ich nämlich längst verdrängte Erinnerungen hervorzerrt und fest gehütete Geheimnisse ausspricht. Peinlichkeiten und Intimitäten. In diesen Momenten werden die beiden zu Rivalinnen im Kampf um Erinnerungen an die eigenen Lebensgeschichten.

Die Beziehung der beiden Frauen schwankt zwischen komplizinnenhafter Vertrautheit und handfestem Ringen mit dem eigenen Ich. Dabei verliert sich das Stück aber nie in philosophischem Ernst; mit hohem Tempo und viel Energie reiht sich Episode an Episode. Witzig beispielsweise, wenn die eine Brigitta ihren Klon fotografiert und die andere dies entrüstet mit «No Selfie» kommentiert. Und zum Schluss scheint die Selbstfindung tatsächlich geglückt zu sein. Brigitta tritt aus der Isolation mit sich selbst heraus und macht sich mit neuen, frischen Gedanken ins Leben – und zu Herrmann – zurück.

Energiegeladener Klamauk

Der Humor ist tiefschwarz, das Tempo hoch. Dies vor allem auch Dank der Soundkulisse, die von Andi Bissig während des ganzen Abends live abgespielt wird. Dieser Geräusch- und Soundteppich spitzt die Pointen zu und bringt das Stück in Fahrt.

Regisseur Oliver Kühn, der im Stück als larmoyanter Institutsleiter aus dem Zuschauerraum heraus die anderen Figuren zu mehr positiven Gedanken ermahnt, hat mit «Superego» ein schnelles, abgedrehtes Stück inszeniert. Die überspitzten Charaktere und der schräge Klamauk parodieren den Kult um die eigene Identität sehr unterhaltsam. Dies auch Dank der Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit viel Energie und Gespür für Timing die Pointen präzise setzen.

Zum Schluss bleibt nur ein altbekanntes Problem: Das Kleingedruckte. Denn anders als bei Zalando kann das eigene Ich nicht einfach zurückgeschickt werden, wenn kein Bedarf mehr besteht. Und so muss Brigitta am Ende zu einer pragmatischeren Lösung greifen, um sich ihres zweiten Ichs zu entledigen…

 

Das «Theater Jetzt» ist am Samstag, 11.Oktober um 20 Uhr im Theater 111 in St.Gallen zu Gast. Weitere Infos zur aktuellen «Superego»-Herbsttournee auf: theaterjetzt.ch.

 

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