Showtime für den Tröckneturm
Blumen verwelken, nicht aber auf einer Lochkarte, so ein Gedankengang von Stéphanie Baechler. Die multidisziplinäre Fribourger Künstlerin lässt im Rahmen des textilen Kunstresidenzprogramms TaDA (Textile an Design Alliance) die Mauern des monumentalen Tröckneturms St.Gallen mit ihrer textilen Installation durch 370 Meter hängende Stoffbahnen und irisierender Folie in neuem Licht erscheinen.
Chapeau pour le drapeau
Forget me not: Installation am Tröckneturm von Stéphanie Baechler, bis 8. September, Burgweiherweg St.Gallen
Termine und weiter Infos gibts hier.
Einst genutzt zum Trocknen gefärbter Stoffbahnen und damit ein zentrales und prägendes Glied in der textilen Produktionskette, ragt der St.Galler Tröckneturm im Westen der Stadt 25 Meter in die Höhe. Er ist Zeuge der einst blühenden Textilindustrie und einer von 27, die heute schweizweit noch stehen.
Es ist ein Ort des Erinnerns an eine verflochtene Vergangenheit. Die Sichtbarkeit und Bedeutsamkeit dieser einzigartigen Bauwerke und das damit verbundene Wissen scheinen in der heutigen Fast Fashion Zeit aber am seidenen Faden zu hängen. Um den Faden wieder neu aufrollen zu können, bleibt nur noch eins: ein Wahrzeichen setzen, 1:10 vergrößert. Das Motiv: Vergissmeinnicht. Das Resultat ist tiefgründig, elegant und wirkungsvoll.
Die Alpensegler sind ausgeflogen
Den entscheidenden Weckruf der Hänge- und Trockentürme hörte die Künstlerin Stéphanie Baechler bereits vor vier Jahren. Inspiriert von der Entdeckung einer dieser Holzarchitekturen im Kanton Glarus fasste die Künstlerin schon damals bestimmte Stoffe ins Auge, um eine Installation zu kreieren. Später entstand dann die Idee, alte Lochkarten, auf denen ein Stickdesign hinterlegt ist, zu vergrößern.
Es gab 2020 nur ein, naja zwei, Probleme: die Vögel, die hoch oben im St.Galler Turm nisteten. Und das Sicherheitsrisiko. Heute ist die Künstlerin überzeugt, es habe die Zeit gebraucht, um das passende Material – Reste von High-Tech-Textilien der Sefar AG in Heiden – für die Installation zu finden. Zwar nicht sturm-, regen- oder feuerfest. Dafür sind die Stoffbahnen in einem Auf- und Abrollsystem im Dachstock gesichert. Und auch wenn der Materialprozess mit den vielen Stoff-Experimenten für die Künstlerin noch so aufwändig war, so beruht die finale Installation im öffentlichen Raum heute immer noch auf ihren allerersten Skizzen.
Schillerndes Gewand
Der Name der Installation Forget Me Not steht für das Motiv der vergrösserten Lochkarten – ein besticktes Taschentuch mit Vergissmeinnicht. Der perfekte Ansatz für ein neues Erblühen der Textilgeschichte durch die Fusion von historischer und zeitgenössischer Ästhetik und Materialität an diesem historischen Gebäude.
Der Blick nach oben zum optischen Flatterspiel der Stoffbahnen löst Freude aus. Wie ein vorsichtiges, aber liebliches Augenzwinkern. Ein behutsamer Wink, feine Verbindungen zu schaffen. Sich selbst neu einzukleiden, vielleicht Haute Couture. Andächtig und unbeschwert zu sein. Sich lautlos vom Wind treiben lassen, um frischen Aufschwung zu gewinnen. Sich dem Ursprung von Dingen wieder bewusst zu werden. Sich zurückbesinnen. Auf Simplizität.
Die Installation am alleinstehenden Turm bietet einen Moment, um in sich selbst zu ruhen. Die Nähe und der Bezug der Künstlerin zur Architektur, der Geschichte und Kultur ist in der Installation zu spüren. Der Tröckneturm St.Gallen ist für sie der Schönste von allen. Mit seinem schillernden Stoffgewand jetzt definitiv.
Türkischroter Leitfaden
Während eine temporäre Installation nur flüchtig zu geniessen ist, hat Stéphanie Baechler gemeinsam mit Grafiker Rudy Guedj ein ästhetisch-modernes Kunstbuch erarbeitet, auf dessen 400 Seiten der gesamte Entwicklungsprozess des Projektes, die Produktion der Installation, persönliche Tagebucheinträge und Recherche-Ergebnisse festgehalten sind. Forget Me Not / Vergissmeinnicht ist der Titel des Buchs. Verspielt, vertieft, verblüffend. Ein edles Kunstwerk für sich, das viele Elemente untereinander verwebt, aber immer mit einem roten Faden.
Die türkischroten Einträge der Künstlerin sind eine Referenz an die im 18. und 19. Jahrhundert leuchtend rot gefärbte Baumwolle. Eine zusätzlich riesige Leistung, die in Zusammenarbeit mit der Kunst Halle Sankt Gallen, dem Textilmuseum St.Gallen und TaDA realisiert wurde. «Ich habe noch nie so etwas Grosses gemacht», meinte Stéphanie Baechler, die nebst ihrer Installation und der Publikation am 31. August auch noch einen Konferenz-Tag zur «Poesie des Trocknens» kuratiert.
«Ah, so isch es gsi!»
«Hier soll nichts totgeschwiegen werden.» Das soll eine der vielen bleibenden Botschaften des Gesamtprojektes bei den Besuchenden sein, verrät die Künstlerin mit einem Schmunzeln. Denn die textile Zeitreise eröffnet nicht nur vielfältige Dialoge über die (Re-)Interpretationen von Vergangenheit und Gegenwart der Stickerei, sondern entführt auch in die Welt der Mythologie oder in unterschiedlichste Geschichten wie beispielsweise die von Anna Göldi oder von Otfried Preusslers Kleine Hexe. Bevor der ansonsten nur selten für die Öffentlichkeit zugängliche Tröckneturm seine Türen wieder schliesst, finden an der Museumsnacht am 7. September mehrere Führungen statt, an dem die sehenswerte Installation nochmals mit allen Sinnen erlebbar wird.
Und was geschieht mit den XXL-forget-me-not-Lochkarten nach der Museumsnacht? Stéphanie Baechler will einige davon behalten, andere recyclen. Denn eines ist sicher: Vergessen werden sie diesmal nicht mehr.