, 6. August 2015
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Sie wollen kein Training. Sie wollen einen Ablass.

Denunziationen eines Fitnesstrainers. Ein Gastbeitrag aus unserem Sommerheft von Andreas Niedermann.

Sie kommen immer Anfang Januar. Jedes Jahr. Da stehen sie dann in der Lobby herum, mit diesem Schrecken im Gesicht. Verlegen, schuldbewusst und einige fast verzweifelt ratlos. Manche kommen gleich zur Sache, andere drucksen herum, und wieder andere finden keine Worte für das, was ihnen widerfahren ist. In ihren Gesichtern spiegelt sich der Schock einer bitteren Wahrheit.

Anfang Januar fühlt sich an wie das Einziehen der Heringschwärme in der Bucht von Stralsund, das ich einmal beobachten durfte, dann, wenn die endlos lange Brücke zur Insel Rügen voller Angler ist, Mann an Mann, Ellbogen an Ellbogen, die Luft blitzt und blinkt von all den tausend ausgeworfenen Angelhaken und die Sonne küsst die gleissenden, daran zuckenden Fischleiber. Es ist nicht wirklich so, aber ein wenig ähnlich.

Man glaubt, dass es leicht sei, aus dem Heringschwarm, der wie der Schatten eines riesigen Tiers unter der Brücke hindurchzieht, einen Fisch zu fangen, aber es ist nicht leicht.

Ich sollte hier einige «Fische» rausholen, aber ich kann nicht. Ein Fitnesstrainer lebt von Menschen, die sich in Form bringen wollen. Aber noch mehr von jenen, die der Meinung sind, dass die reine Mitgliedschaft ausreicht, um fit zu werden, und dass das Training dabei nur eine Statistenrolle spielt. Das sind die, die jedem Gym die liebsten sind. Davon lebt das Gewerbe. Von den Karteileichen.

Aber diejenigen, die Anfang Januar kommen, meinen es ernst. Zumindest glauben sie, dass sie es ernst meinen. Es ist die hässliche Wahrheit, die ihnen den Ernst in Stimme und Augen schrieb. Aber wenn man sie ein wenig besser kennt, und weiss, dass wir hier in einem bis zu den Sackhaaren des Teufels katholischen Land leben, fällt man nicht mehr so leicht auf all die ernsten Mienen hinein. Sie wollen nämlich kein Training. Sie wollen einen Ablass. Am besten ein Schnäppchen, einen Schnäppchen-Ablass.

«Na ja», sagt sie, «Bewegung?»

Die Friseurin, die gleich um die Ecke in ihrem «Salon-Gerda» die Mumifizierung ihrer Freundinnen vorantreibt, stöckelt äusserst vorsichtig die steile Treppe hinunter. Sie sieht aus wie Hansi Hinterseers Vater, aber welche Friseurin in diesem Alter tut das nicht?, und sie hat es verdammt eilig, dreht sich auf den Absätzen, deutet auf ihren Hintern, zupft an ihrem weissen Flausch-Pullover, tätschelt ihre Hüften. «Das muss weg!», sagt sie. «10 Kilo müssen weg.»

«Fein», antworte ich mit ziemlich viel Anti-Entmutigungsgel in der Stimme. «Um Fett loszuwerden, gibt es genau zwei Möglichkeiten.»

«So?», sagt sie erstaunt.

«Ja», sage ich. «Verbrennen oder absaugen.»

«Oh», macht sie. Ihre Augen blitzen jetzt. Sie sind blau, voller Ungeduld und (noch) heiterem Ärger. Aber sie können mich nicht täuschen. Nimm mir das schwabbelige Zeug von meinem Hintern, fordern diese Augen, und mach schnell, Mann. «An was haben Sie denn so gedacht?», frage ich.

«Na ja», sagt sie, «Bewegung?»

«Bewegung ist schon mal gut», nehme ich den Faden auf. «An wie viel von dieser Bewegung hätten Sie denn gedacht, gnädige Frau?»

«Was ist denn so in zwei Wochen drin, wie viele Kilos?»

«Zwei Wochen, Kilos?», sage ich und denke: Der ist gut, der ist echt gut. Den merk ich mir. Ich setze ihr die Sache auseinander, Führe sie in klaren, verständlichen Worten in die komplexe Problematik ein, mit der sie es jetzt zu tun bekam, weil sie sich über Weihnachten vollgestopft hat. Meine kleine Exkursion in ein Spezialgebiet der Anthropologie endet mit der Bemerkung, dass ein leidlich gut trainierter Mensch in einer halben Stunde Radfahren rund 250 Kilokalorien verbrennt, was in etwa einem Glas Bier entspricht. Um ein Kilo Fett zu abzubauen, hätte dieser halbwegs trainierte Körper etwa 12 Stunden in die Pedale zu treten. So über den Daumen gepeilt.

Jetzt ist sie schockiert. Und beleidigt. Ich kann ihre Gedanken lesen. Wie spricht dieser Mensch mit mir? So sollte man nicht mit einer potentiellen Kundin reden, nein, so nicht! Dabei hatte ich doch an, sagen wir, dreimal eine halbe Stunde Training pro Woche gedacht. Dreimal eine halbe Stunde, hallo! In zwei Wochen wären das dann dicke drei Stunden, und ab dann sollte das Kampfgewicht wieder erreicht sein! Das muss doch reichen, um 10 Kilo weg zu bekommen! Ist doch nicht viel. Die Helga hat 12 Kilo. Und wenn das nicht reicht, weiss ich auch nicht. Aber warum verkünden denn alle immer und überall, dass Bewegung gut sei, um  abzuspecken?

Ich sehe sie an. Jetzt ist sie sauer auf mich. Schwer beleidigt. Als hätte ich sie eine fette Schlampe genannt. «Um wirklich abzunehmen, genügt Bewegung alleine nicht», führe ich weiter aus. «Sie müssen auch was bei der Ernährung ändern, und ausserdem ist ein Krafttraining zu empfehlen.»

Jetzt reicht es ihr. Die Welt ist ein Wespennest voller Lügen! Was faselt dieser Kerl da? Das ist doch der Gipfel der Frechheit! Da komm ich hier herunter, arglos und hoffnungsvoll und möchte nichts anderes, als in einer nützlichen Zeit mal die 10 Kilo wieder loswerden, die mir diese Festtage auf die Problemzonen appliziert haben. Gezwungenermassen. Was soll man denn machen? Überall wo man zu Besuch ist, muss man fressen, was kann ich dafür? Und was bekomme ich von diesem Trainerverschnitt zu hören? Ist doch ein voller Abturner, oder!? Der kriegt schliesslich Geld dafür. Und teuer ist der Laden ja auch noch. Was bildet der sich eigentlich ein? Das alles sagt sie natürlich nicht laut. Noch nicht. Aber als sie wenig später das Studio verlässt, ist sie demoralisiert und gleichzeitig wütend. Ich werde sie nicht wieder sehen, aber das macht nichts, denn schon bemüht sich der nächste Kunde in den Laden.

«Nur nicht übertreiben»

Er ist Kellner in einem Lokal in der Nähe. Mitte Vierzig. Der stämmige Körper verrät den ehemaligen Sportler. Er hat beschlossen, dass die Waage zu viel anzeigt. Da liegt er sicher nicht ganz falsch. Das Hemd spannt um Brust und Bauch. Das Kinn kriegt Zuwachs, einen Doppelgänger. «Muss weg», sagt er unwirsch.

«Was kann ich für Sie tun?», frage ich vorsichtig. Es ist wieder die gleiche Geschichte wie bei der Friseurin. Es muss schnell gehen.

«Gut», sage ich, «aber Bewegung und Krafttraining alleine sind nicht genug … Die Ernährung …», flechte ich etwas zu zögerlich ein, denn schon fuchtelt er mit der Hand in der Luft herum. «Esse nur Salat und Gemüse», sagt er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

Salat und Gemüse? denke ich, oh ja, die Geschichte kenne ich. Die hab ich selber in petto. Denn eines Tages landete ich mit einem Gichtanfall beim Onkel Doktor. Alkohol und Fleisch, sagte der. Nein, nein, ich bin Vegetarier, antwortete ich. Das sieht mir aber gar nicht nach Vegetarier aus, insistierte der Doc und lächelte ironisch. Na ja, vielleicht nicht mehr hundertprozentig, so wie früher, sagte ich nachdenklich. Ich hatte es in letzter Zeit mit diesen neapolitanischen Salsicce gehabt. War das denn schon Fleisch? Vor wenigen Jahren noch war ich hundertprozentiger Vegetarier gewesen. Ich erschrak ein wenig, als ich darüber nachdachte: Das war auch schon 10 Jahre her.

Wie siehts aus mit Alkohol? fragte der Doc. Gut, sagte ich. Regelmäßig mässig. Ach was, sagte er und machte die Geste des Flascheansetzens. Gluglu, sagte er. Gespritzte, wandte ich ein. Nein, nein, beharrte er. Doch, doch, sagte ich. Stimmte ja auch, aber so an die drei Liter pro Tag, im heissen, heissen Juni. Ich kenne mich also aus, was Selbstbetrug anlangt.

Ist Mike Tyson fett?

«Na, dann ist ja alles in Ordnung», sage ich zu meinem Kellner. «Gemüse ist gut. Sehr gut sogar.»

«Bin trotzdem zu schwer», sagt er und sieht mich dabei an, als hätte ich damit etwas zu tun. «Gewicht allein ist nicht ausschlaggebend. Viel wichtiger ist der Anteil von Magermasse. Knochen und Muskeln.»

«Was?», ruft er aus.

«Schauen Sie», sage ich erfreut, denn jetzt streifen wir eines meiner Lieblingsthemen. «Mike Tyson ist 180 Zentimeter gross und er hat ein Kampfgewicht von über 100 Kilo. Das entspricht einem Bodymassindex von etwa 31. Der Ex- Schwergewichtsweltmeister würde also als schwer übergewichtig gelten, bereits an der Schwelle zur Adipositas…»

«Ja, und?»

«Nun», doziere ich weiter, während ich unter die Buddel greife und nach dem Foto von Tyson fische. Ich halte es ihm unter die Nase. «Ist dieser Mann übergewichtig?» Das Foto zeigt einen furchteinflössenden Mike Tyson, in der Form seines Lebens; austrainiert, muskulös, ein Körper wie ein Baumstamm.

«Blöde Frage, natürlich nicht», sagt er. «Aber laut Bodymassindex ist ers», triumphiere ich.

«Was hat das mit mir zu tun?»

«Lassen Sie sich nur nichts einreden», sage ich.

Er zieht an seinem weißen Hemd, stopft es in den Hosenbund. «Und jetzt?», fragt er.

«Ist alles okay. Sie ernähren sich richtig, sind als Kellner in permanenter Bewegung, da kann ja nichts sein!»

Er beäugt mich misstrauisch. «Aber ein bisschen Krafttraining könnte doch nicht schaden, oder?»

«Nur nicht übertreiben.»

«Na gut. Ich komm dann nächste Woche wieder.»

«Fein, dann sehn wir uns.»

«Und wie heisst das Ding da, dieser (ich verstehe) Bodybuildinginzest?»

«Bodymassindex», sage ich. Oben ging die Tür.

«Bodymassinsex?»

«Perfekt.»

Er stapft die Treppe hoch. Er hatte jetzt eine Geschichte mit Mike Tyson. Das würde reichen. Ich werde ihn nicht wieder sehen. Macht nichts. Da steht doch schon die nächste Kundin vor der Theke. Sie sieht sich unsicher um. «Was kann ich für Sie tun?»

«Na ja», sagt sie.

«Alles klar», sage ich.

 

IMG_0096Andreas Niedermann, 1955, lebt als Autor und Verleger in Wien. Fussgänger, Bewegungsenthusiast. War u.a. Fitnesstrainer und Triathlet, boxte an der Universität. Beschloss vor drei Jahren, dass der gym die schönste Gegend in Wien sei, darum besucht er ihn täglich.

Zuletzt erschien von ihm: Von Viktor zu Hartmann – Wege, Hanteln, Worte. Songdog Verlag Wien 2014.

(Titelbild: Jiří Makovec)

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