, 9. März 2020
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«Sie würden staunen, was an den Rändern alles passieren kann»

Detailhandel weg, Textilindustrie weg, keine Seesicht und kein Autobahnanschluss, dafür Räume, viel Kultur und Zukunftsmusik: Stadtpräsident Mathias Müller über die Stolpersteine und Lichtblicke in Lichtensteig. von Peter Surber und Corinne Riedener

Mathias Müller, 1982, vor dem kleinsten Jazz-Museum der Schweiz.

Saiten: Das Lichtensteiger Städtli ist pures Mittelalter. Wie gehen Sie mit dieser Musealität um?

Mathias Müller: Wir denken in Plattformen und wollen die Räume für Projekte aller Art öffnen. Lichtensteig hat viele Ladenlokale, aber auch Fabriken, die leer stehen. Wir versuchen also, Leute nach Lichtensteig zu holen, damit sie in den vorhandenen Räumen ihre Ideen realisieren können. Im ehemaligen Rathaus ist zum Beispiel heute die Kunst zuhause, in der alten Post das Macherzentrum mit Co-Working-Space, und im alten Feuerwehrdepot befinden sich jetzt das «Beaux», ein Secondhand- und Second-Season-Laden und das Office der Lichtensteiger Jazztage. Und im März eröffnen wir ein Zukunftsbüro. Lichtensteig ist kein Museum.

Was hat es gebraucht, um die Leute ins «Machen» zu bringen?

Im ziemlich verbissenen Wahlkampf ums Stadtpräsidium 2012 gab es zwei Lager: Die einen wollten mich, die anderen wollten meinen Konkurrenten von ausserhalb. Das hat einige Gräben aufgerissen. Als ich dann gewählt war, wollten wir diese wieder zuschütten und haben darum 2013 eine partizipative Zukunftskonferenz ins Leben gerufen, an der rund 140 Leute teilgenommen haben. Ursprünglich wollten wir ein gemeinsames Leitbild für die Gemeinde formulieren, das war einigen aber zu «papiertigerig», also haben wir das Konzept angepasst und sind konkreter geworden. Ich kann es verstehen, wenn manche denken: «Da wird einfach nett geplaudert, aber nachher passiert nichts.» Unser neues Ziel hiess: Projekte realisieren. Wir haben auch gleich nach der Konferenz ein erstes Projekt umgesetzt – ein Bänkli, Licht und Wasser beim Pingpong-Tisch auf dem Schulgelände. Ein kleiner Schritt, aber er hat den Leuten gezeigt, dass es uns ernst ist, und so haben sich die Dinge Schritt für Schritt weiterentwickelt: Wir haben zum Beispiel mehrere Spielplätze erneuert und erweitert, mit den Vereinen zusammen die Kalberhalle saniert und das Energiestadt-Label erworben. 2015 haben wir den Prozess mit Menschen über 60 wiederholt, auch daraus sind wieder Projekte entstanden. Alles in allem sind etwa 25 bis 30 Projekte und Vorhaben gelaufen.

Und ohne Sie als Stadtpräsident wären diese Projekte nicht entstanden?

Ohne den partizipativen Prozess wären sie nicht entstanden. Den Wunsch, mit Einheimischen und auch Auswärtigen Projekte zu realisieren, muss man als Gemeinde offensiv propagieren. Man muss den Leuten einerseits Plattformen geben und sie andererseits auch gezielt anstupsen. Die Idee eines Familienzentrums Toggenburg beispielsweise ist schon länger herumgegeistert. Konkret wurde es aber erst, als wir aktiv auf die entsprechenden Leute zugegangen sind.

Sind die neuen Macherinnen und Macher in der Region verankert oder kommen sie von weiter her?

Das ist unterschiedlich. Es gibt einige, die in der Gegend aufgewachsen sind, dann ein paar Jahre weg waren und jetzt wieder zurückkommen. Wir haben aber auch Neuzugänge zum Beispiel aus Herisau oder einen Clean-Tech-Unternehmer aus Düsseldorf. Wichtig ist uns, dass die Projekte auch einen regionalen Anspruch haben. Lichtensteig allein ist zu klein, um alles selber zu machen.

Es passiert viel in Lichtensteig, der Ort ist im Aufbruch. Da gibt es sicher auch kritische Stimmen – was entgegnen Sie?

Ich erkläre ihnen erstens, dass Lichtensteig schon immer ein mutiger Ort war: Jost Bürgi hat hier gelebt, die UBS und die Firma Kägi wurden hier gegründet, in den 60er-Jahren hatte man den Mut, eine architektonisch sehr markante Kirche zu bauen. Wir führen also nur die Geschichte weiter. Das hat mit dem Marktort Lichtensteig zu tun: Dank ihm wurden viele neue Ideen ins Städtli getragen, die sich hier festgesetzt haben. Zweitens fehlen uns die Alternativen: Der Detailhandel ist fast komplett weggebrochen, die Textilindustrie ist weg, wir haben keine Seesicht und keinen Autobahnanschluss. Wir können also nur mit den Ressourcen arbeiten, die uns gegeben sind – und dafür müssen wir etwas wagen und neue Wege gehen.

Das ist die positive Erzählung: Lichtensteig als historische Innovationskraft. Die andere Erzählung ist jene vom Niedergang der Textilindustrie, vom regionalen Stillstand und dem Abgehängt-Sein an der Peripherie. Existiert dieses «Heberlein-Trauma» noch?

Ja, und es ist wichtig, dass man diese «Sorgenfalten-Geschichte» der Region auch erzählt. Die Frage ist, wie lange noch. Wenn ich in der Zeitung lese, wie schlecht es der Region angeblich geht und wie abgehängt man sich fühlt, entspricht das für mich nicht den Tatsachen. Klar kann man jammern – über die Spitalschliessung, den Bergbahnen-Streit, die Abwanderung und die grossen Arbeitsplatzverluste –, aber der Tiefpunkt wurde überwunden und jetzt ist es wieder Zeit für eine selbstbewusstere Haltung. Der Kanton unterstützt uns zum Glück dabei. Man baut einen neuen Bildungscampus, das Klanghaus kommt, die Verkehrsinfrastruktur wird erneuert. Das ist eine gute Grundlage für den Aufschwung.

Fühlt man sich denn an der Peripherie?

Wir fühlen uns vermutlich nicht ganz so peripher, wie man von aussen das Gefühl hat. Die Identifikation mit Lichtensteig und dem Toggenburg allgemein ist momentan sehr stark.

Und finanziell?

Wir stehen nicht gut da. Lichtensteig war dank der Industrie lange eine der steuergünstigsten Gemeinden im Kanton und hat auch viel in die Infrastruktur investiert. Diese wurde dann aufgrund der Krise nicht mehr erneuert – ein Schaden, den nun die aktuelle Generation tragen muss. Das belastet uns finanziell. Wir haben mit aktuell 140 Prozent einen vergleichsweise hohen Steuerfuss und sind auch stärker verschuldet als andere Gemeinden.

Wie sieht die Finanzstrategie aus?

Ein Weg führt über die Unternehmen, vor allem die kleinen. Das Ziel ist, im nächsten Jahrzehnt bis zu 100 Firmen anzusiedeln. Wir haben viele Leerstände, sprich ein grosses Raumpotenzial. Das kann man einerseits mit klassischen Wohnüberbauungen füllen und andererseits mit dem Handwerk, mit jungen Unternehmen und der Kreativindustrie. Wir haben eine leerstehende Fabrik mit ca. 8000 Quadratmetern, dort ist eine Mischung aus all dem angedacht. So sind wir überzeugt, längerfristig wieder mehr Einnahmen zu generieren.

Den Steuerfuss zu senken ist also keine Option.

Ein wenig werden wir das machen, aber eine reine Steuerstrategie ist langfristig nicht erfolgsversprechend. Wir haben das bereits erlebt in Lichtensteig. Wir müssen jetzt investieren und die Infrastruktur auf Vordermann bringen, sonst leidet wieder die nächste Generation. Die Infrastruktur von Lichtensteig ist etwa auf 2500 Menschen ausgerichtet, aktuell sind wir knapp 1900 – es hat also Luft nach oben. Ausserdem setzen wir auf die Digitalisierung: Home-Office, Co-Working-Spaces und andere alternative Arbeitsformen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Man muss nicht mehr jeden Tag von Lichtensteig nach Zürich oder St.Gallen pendeln, davon kann die Region profitieren.

Ökologische Nachhaltigkeit ist ebenfalls ein grosser Trend. Kann man das mittelalterliche Städtchen überhaupt auf klimaneutral trimmen?

Die Klimaaktivisten würden sich wohlfühlen in der Altstadt! Das Städtchen steht Haus an Haus, verdichteter kann man gar nicht bauen, darum braucht es gar nicht überall eine Isolation. Ausserdem ist alles in Gehdistanz. Und das Thema Heizung wollen wir demnächst angehen. Aber es gibt immer noch Luft nach oben.

Sie sind ein junger Stadtpräsident, haben wenig Geld in der Gemeindekasse, aber grosse Herausforderungen: Haben Sie manchmal schlaflose Nächte?

Gar nicht, denn das Risiko ist ja kalkulierbar. Wir investieren vor allem in Aktivitäten, in die Partizipation, in Projekte und Freiräume. Wir bieten Unterstützung und Begleitung an. Oder anders gesagt: Wir machen quasi «nichts», die Leute machen. Würde zum Beispiel das Macherzentrum in der alten Post scheitern, wäre ist das kein Weltuntergang, dann suchen wir eine Anschlusslösung.

Sie sind also in erster Linie ein «Motivator».

Ich würde Moderator sagen. Wir wollen Leute zusammenbringen, moderieren und motivieren. Am Ende geht es um Selbstverwirklichung, darum, seine Ideen umzusetzen und etwas zu bewegen. Das ist eigentlich ein Grundbedürfnis der Menschen, aber viele trauen sich nicht. Ihnen wollen wir einen Schubs geben.

Lichtensteig und Umgebung sind kulturell sehr aktiv. Welche Rolle spielt die Kultur?

In Lichtensteig hatte die Kultur schon immer einen grossen Stellenwert. Wir nehmen auch hier nur einen Faden auf, der schon lange gesponnen wird. Ein sehr wichtiger Aspekt der Kultur ist für mich die Gemeinschaft, der Austausch. Ausserdem sind die kreativen Geister zukunftsfähig, ihre Kompetenzen werden in Zukunft noch viel gefragter sein: Flexibilität, neue Blickwinkel, Wagemut, kritisches Denken, aber auch Ecken und Kanten sind wichtig.

Die Kultur wird als Standortfaktor «instrumentalisiert»?

Sie ist ein wichtiger Teil unserer Gemeinde und somit klar auch ein Standortfaktor, ja. Das kann man aber nicht von oben verordnen, sondern muss gewachsen sein.

Lichtensteig ist das kulturelle Zentrum, Wattwil das wirtschaftliche. Gibt es eine Rivalität zwischen diesen Gemeinden?

Ein bisschen. Das ist aber auch historisch begründet: Früher sass Lichtensteig auf dem hohen Ross, war reich, hatte tiefe Steuern und eine tolle Infrastruktur. Dann wurde vieles nach Wattwil verlegt, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Arbeitsplätze. Einen ernsthaften Konflikt gibt es nicht, aber eine gesunde Rivalität. Letztlich geht es darum, wer welche Rolle ausfüllt: Wir übernehmen den kreativen, partizipativen, weltoffenen Part, Wattwil ist das Wirtschafts- und Bildungszentrum. Man könnte auch sagen: Lichtensteig ist zwar das Herz, aber Wattwil das Zentrum.

Es gibt noch andere Rivalitäten: Unterwasser und Wildhaus prügeln sich um die Bergbahnen, Wattwil und Uznach um den Campus, Wil und Wattwil um das Spital. Und Sie sagen, man muss für die Region denken…

Für Strukturerhalt zu kämpfen ist nunmal sehr populär. Damit kann man die Leute mobilisieren, zu sehen zum Beispiel am Campus Wattwil, den ich im Übrigen sehr begrüsse. Den Bergbahnen-Streit finde ich extrem ärgerlich, aber man darf auch nicht das ganze Toggenburg-Bild daran aufhängen. Letztlich herrscht ein Verteilkampf zwischen den Regionen zum Beispiel bezüglich Spital, das muss man wohl oder übel akzeptieren. Im Appenzellerland wird intern auch recht viel gestritten, wenn es aber nach aussen geht, sind alle plötzlich auf einer Linie. Das ist im Toggenburg anders und hat vermutlich auch mit der Geografie zu tun, mit der Länge des Tals. Es gibt zwar eine gemeinsame Identität, aber sie ist nicht ganz so stark wie jene in Innerrhoden, das sich auch dauernd gegen St.Gallen und Ausserrhoden behaupten muss.

Was ist denn die gemeinsame Identität, abgesehen von Kägifret und Schwingfesten?

Das Landwirtschaftliche ist sicher prägend und das Alpine, sprich der Tourismus. Aber auch die konservative Prägung, was mir nicht unbedingt gefällt und sich auch beisst mit unserem liberalen Städtli-Groove. Klar ist: Etwa 40 Prozent im Toggenburg wählen SVP, weil sie am Bestehenden und Bekannten festhalten wollen. Trotzdem muss man differenzieren: Es gibt nicht DEN Toggenburger oder DIE Toggenburgerin.

Trotzdem gibt es viele Vorurteile gegenüber dem Toggenburg, gerade in städtischen Gebieten. Und umgekehrt: Wie ist Ihr Verhältnis zur Stadt?

Heute geht man davon aus, dass es nur in der Stadt boomt und alle dorthin ziehen wollen, wo die vermeintliche Post abgeht. Aber wir wissen nicht, was in 50 Jahren ist. Ich finde die Stadt super und bin gerne dort – aber nicht immer. Wenn ich die grossen Städte anschaue, sehe ich dort eine grosse Segregation. Es gibt Bonzenviertel, die bezahlbaren Wohnräume verschwinden und viele Innenstädte wirken tot. Das macht mir Sorgen, denn Innovation findet dort statt, wo Austausch passiert, wo sich die Kreativen tummeln und auch Gegensätze aufeinanderprallen. Man mag die Toggenburger vielleicht als konservativ ansehen, aber setzen Sie den Bauer Franz einmal mit einer Klimaaktivistin an einen Tisch, dann sehen Sie, was an den «Rändern» alles passieren kann.

Mathias Müller, 1982, ist in Mosnang aufgewachsen und hat dort auf der Gemeinde seine Lehre gemacht. Später hat er sich in Betriebswirtschaft und Verwaltungsrecht weitergebildet und in Luzern Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung studiert. Unter anderem ist er Stiftungsratspräsident und Vorsitzender der Geschäftsleitung der Klangwelt Toggenburg und Präsident der Stiftung Kultur Toggenburg, seit 2016 politisiert für die CVP im St.Galler Kantonsrat. Er lebt seit zwölf Jahren in Lichtensteig.

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.

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