, 16. Juli 2020
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«Spirit Of Adventure» garantiert

Im Bus von Lausanne via Teheran und Kabul nach Singapur: So reiste Nelly Näf aus Urnäsch 1974 nach Ostasien. Sie war 24-jährig und noch viele Reisen und Jahre entfernt von ihrem heutigen Wirken als Projektleiterin in Kenia. Hier öffnet sie ihr Tagebuch über einen Trip, wie er heute kaum mehr denkbar ist – und in der Folge der Coronakrise erst recht nicht. Von Gabriele Barbey

Campinglager in der Osttürkei (Bilder: Privatarchiv Nelly Näf)

Ihr Reisebericht ist ein dickes Spiralheft mit packpapierbraunem Deckblatt. Darin geht es um den Einstieg in ihr Leben als Weltenbummlerin. «Zwar war es eine Gruppenreise, aber was für eine», sagt Nelly Näf.

Der englische Reiseorganisator «Asiaman, overland expeditions» weist auf dem Anmeldeformular für die Teilnehmenden darauf hin, dass die Reise streckenweise unkomfortabel, heiss und staubig sein werde, dass es äusserst wichtig sei «that you enter into the spirit of adventure which the trip warrants». Liest man darauf Näfs Tagebuch, das sie minutiös während 150 Tagen führte, wird klar: Abenteuergeist ist das A und O, da hat der Organisator nicht übertrieben!

Während der ganzen Reise macht Näf Handnotizen, oder sie tippt auf einer ausgeliehenen Schreibmaschine auf dünnes Luftpostpapier, vom 24. September 1974 bis zum 16. Februar 1975 fast täglich. Zusätzlich schreibt sie regelmässig Briefe ins Elternhaus im Toggenburg. Zurückgekehrt in die Schweiz, habe sie sofort alles zum erwähnten Bericht verarbeitet: «Es ist ein echtes Tagebuch.»

Bauerntochter mit Verwaltungslehre

Als ältestes von drei Geschwistern 1950 geboren, wuchs Nelly Näf die ersten sechs Jahre in Urnäsch auf, wo sie bis heute ein vom Grossvater erworbenes Bauernhaus besitzt. Ihre Eltern betrieben Milchwirtschaft, der recht abgelegene Hof im Tell wurde aber für die Familie zu klein. Sie fand eine Liegenschaft im toggenburgischen Unterrindal, Gemeinde Lütisburg. So zügelte man 1956 mit Kühen, Schweinen, Kindern, Katzen, Hühnern und einem VW-Käfer ins untere Toggenburg. Die Kinder arbeiteten selbstverständlich auf dem Hof mit, Nelly vor allem im Haushalt. Seit kurzem hat Näf ihre ständige Wohnadresse wieder dorthin verlegt, kann sich aber nicht von ihrem Haus in Urnäsch trennen.

Das Schulkind Nelly spürte den Unterschied zwischen dem reformierten Ausserrhoden und dem katholisch geprägten unteren Toggenburg stark. Schon früh wollte Nelly Lehrerin werden, die Noten in der dritten Klasse der Sekundarschule waren aber plötzlich nicht mehr so gut wie vorher: Der eine Lehrer und katholische Priester pflegte seinen Schülerinnen über die Schultern ins Heft zu schauen und kam ihnen dabei sehr, sehr nahe. Da sagte Nelly einmal laut Nein, das möge sie nicht, was sich prompt aufs Zeugnis ausgewirkt habe. Bei einem anderen Lehrer sei der zusätzlich nötige Geometrie-Unterricht für die Prüfung ins Lehrerinnenseminar sehr nachlässig gewesen; der Lehrer habe immer wieder verächtliche Bemerkungen über Mädchen und Geometrie gemacht.

Diese Umstände bewirkten, dass Nelly den Berufswunsch Lehrerin fallen liess. Die Mutter konnte ihre älteste Tochter von einer Lehre bei der Gemeindeverwaltung Lütisburg überzeugen, eine kaufmännische Ausbildung sei doch eine solide Grundlage für alles Weitere. Das habe sich bewährt. Näf wird sich später in Personalmanagement weiterbilden, ihr letzter Berufsschritt in der Schweiz: Leiterin des neu geschaffenen Personalamts des Kantons Appenzell Ausserrhoden (2000 bis 2007).

Aber zurück in die frühen 70er-Jahre, wo Näf «aus der Enge ausbrechen» will: also in Lausanne Französisch lernen, arbeiten, dann in Bournemouth einen Lehrgang für englische Sprache und Sekretariat absolvieren, wieder Geld verdienen – um nachher zu reisen, und zwar richtig!

Der Fahrer, Typ Rübezahl, nennt seinen Bus Daisy

Ende September 1974, Lausanne: Nelly Näf steigt in den Reisebus der englischen Firma Hughes Overland Ltd, einen gelb-schwarzen Mercedes, genannt Daisy. Der Busfahrer heisst Geoff, stammt aus Rhodesien, ist stämmig, rothaarig, mit Vollbart, trinkt und raucht viel. Sich seinen Fahrkünsten anvertrauen (diese schrecklichen Schluchten in Kasch- mir!), sich seinen Launen nicht ausliefern, einen möglichst eigenen Weg innerhalb der Gruppe finden – das ist eine Kunst, die Näf in den folgenden Wochen lernt.

Die Daisy-Busreisenden im Süden Thailands.

Sie ist auf dieser Reise unterwegs mit ihrem Freund und heutigen Lebenspartner Hans Lorenz, Radio- und TV-Elektriker, beweist aber in ihrem Tagebuch immer wieder ihre Selbständigkeit. Beide haben in ihren noch kurzen Berufsleben gerade genug Geld verdient, um sich Reisen aus eigener Tasche leisten zu können; anders als manche Ruck- sacktouristen, die oft studieren und finanziell teilweise von den Eltern abhängig sind.

Die Busreisenden in der Daisy fahren also zusammen von England via die Schweiz nach Italien, verschiffen in Brindisi nach Griechenland, fahren durch die Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan nach Indien. Vom südindischen Madras gehts per Schiff auf die malaysische Halbinsel und schliesslich nach Singapur. Von dort werden Näf und Lorenz alleine nach Java und Bali weiterreisen.

Keine Route für Zimperliche! So schreibt Näf zum Beispiel, wie sie in Pakistan einen traumhaft schönen Sonnenaufgang erlebt – und dann das: Geoff, der Busfahrer, führt sich unmöglich und überheblich auf, man verweigert ihm an einer Tankstelle, Benzin zu tanken, er beschimpft die Leute als «bloody pigs», die noch schlimmer seien als die Schwarzen daheim in Rhodesien. Und schon hört Näf neben ihrem Kopf etwas dumpf aufschlagen, ein Stein hat das Busfenster zertrümmert. Draussen rennen Schulbuben davon, Erwachsene schauen unschuldig. Das Fenster stopfen die Reisenden vorerst notdürftig mit einer Wolldecke.

Kurz nach Rawalpindi folgen Reifenpannen. Laut Tagebuch bleibt Näf gelassen, sie mag sich nicht mit den anderen über Pakistan aufregen. Ein anderes Dauerthema ist natürlich die Verpflegung, die im Bus von jeweils abwechselnden Kochteams organisiert werden muss. Immer mal wieder fühlt sich jemand «hundselend». Ein Mitreisender, bei dem Gelbsucht diagnostiziert wird, muss den Trip abbrechen. Der Partnerbus, der gleichzeitig mit Bus Daisy von Europa nach Asien unterwegs ist, verunfallt Ende November auf einer Talfahrt in Nepal, wobei eine Neuseeländerin stirbt, andere leicht verletzt werden und der Bus als Wrack liegen bleibt.

Honigbrote statt Zigaretten?

Zurück in die Osttürkei, wo die Busreisenden Ende Oktober wenige Kilometer vor der persischen Grenze ihr Zeltlager aufgeschlagen haben. Näf schildert folgende Szene: «Magere Hirten, in Lumpen und Plastikschuhen schnüffeln neugierig um den Bus. Die Schafe weiden in einiger Entfernung. Beim Einpacken wollen die etwa zehnjährigen Buben mit ihren schmutzigen Händen uns unbedingt behilflich sein. Immer wieder fragen sie nach Zigaretten.» Nun zeigt sich Näfs erzieheri- sche Ader: «Wir streichen den armen Kerlchen Honigbrote, die sie schnell in der Westentasche verschwinden lassen. Eifrig untersuchen sie unseren Abfall…». Aber Busfahrer Geoff lässt Näfs pädagogische Absicht ins Leere laufen: Er tauscht – durch Erfahrung gewieft – seine Zigaretten gegen eine Steinschleuder der Buben ein.

Lunch-Stop in der Osttürkei, nahe der Grenze zu Persien.

Bald danach passiert die Gruppe die Grenze zu Persien. Der Begriff «Iran» erscheint in Näfs Tagebuch nie; «Persien» ist in den 1970er-Jahren in Europa immer noch die gängige Bezeichnung für den Staat mit Schah Reza Pahlavi an der Spitze, der exakt in diesen Tagen seinen 55. Geburtstag feiern lässt, wie Näf in einem Brief an die Eltern erwähnt.

Gröbere Zwischenfälle auf der Route von Teheran nach Kabul über Lahore nach Kaschmir beschreibt sie kaum, immerhin eine notorisch unruhige Zone zwischen Iran, Hindukusch und westlicher Himalaja-Region. Es ist die Rede von gelegentlichen Strassensperren, sehr langen Wartekolonnen von Lastwagen und Kleinbussen mit europäischen Touristen, manche auf der Suche nach dem transzendenten Glück.

Über spontane Begegnungen mit hilfsbereiten Menschen freut sich Näf immer wieder: In Teheran sind sie und ihr Freund unterwegs auf der –vergeblichen– Suche nach der Büroadresse einer Kollegin aus Nellys Zeit in England. Wegen der Geburtstagsfeierlichkeiten des Schahs ist aber alles geschlossen, es ist bereits dunkel und weit und breit keine Rückfahrmöglichkeit zum Bus-Camp, das ausserhalb der Stadt liegt. Da lädt sie ein junger, Englisch sprechender Iraner ein, in seinem traditionellen Zuhause zu übernachten – es folgt ein kurzes, intensives Eintauchen in die Gastfreundschaft einer Teheraner Grossfamilie, ein Glück! Dass sich die Busgruppe auf dem Camp Sorgen macht, wird in Kauf genommen.

(Kein) Stoff in Kabul

Viel Raum gibt Näf dem Besuch in Kabul, wo ihnen fast ausschliesslich Männer begegnen, sie in einem Teehaus die einzige Frau ist, wo sie zufällig auf schwarze Cadillacs treffen, worin sich der amerikanische Aussenminister Henry Kissinger befinde. Und schon werden sie von bewaffneten Polizisten weggejagt. Ein kurzes Aufblitzen von Weltpolitik, in einer Zeit, in der der Krieg zwischen Nord- und Südvietnam noch andauert.

Weitaus stärker als der rote Teppich für Kissinger beeindruckt Näf die kunsthistorische Sammlung im Nationalmuseum von Kabul. Und vor allem der spontane Besuch eines Restaurants im staatlichen Hotel Inter-Continental, wo sie und ein paar Kollegen das mehrgängige, internationale Essen auf weissen, gestärkten Tischtüchern bestellen. Luxuriös und preiswert, und alles genossen in Jeans und T-Shirts. Zum Schluss bietet der Gerant ihnen heimlich auch noch «Stoff» an, aber wegen zu grossen Mengen sei nichts aus dem Geschäft geworden.

Dennis beim Einkaufen in Kabul.

Sie bewegen sich also einerseits in einem Afghanistan als Puffer internationaler Politik zwischen der Sowjetunion und der westlichen Welt und anderseits einem Land als «Dorado für Drogensüchtige». Letzteres schade dem Ansehen der Europäer sehr, so Näf in ihrem Tagebuch Anfang November. Hippies treffen sie eher wenige in Kabul, die würden ja bekanntlich den Winter in Goa an Indiens Südwestküste verbringen, schreibt sie.

Die ausführliche Passage über Kabul als Touristendestination 1974, «wo die stolzen, hochgewachsenen Männer jede Europäerin mit geilen Blicken verfolgen», liest frau als Leserin 2020 zweimal. Und zur Szene im Hotel Inter-Continental meint Näf heute: Ja, dieses Hotel galt und gelte als internationaler Hotspot in Kabul, das habe sie erst später erfahren – und sie erwähnt den Taliban-Anschlag auf das Inter-Continental von 2018, wo mehr als 40 Personen getötet wurden.

Mit Koffer unter Rucksacktouristen

«Hurra, wir sind in Indien. Mein Herz beginnt höher zu schlagen», notiert Näf am 6. November 1974. Als Folge der Beatles-Reise 1968 in einen nordindischen Pilgerort herrscht hohe Zeit für Indientrips von jungen Leuten aus Europa und Nordamerika; Näf erwähnt die vielen Schweizer im VW-Bus, die vielen Rucksacktramper, ob echte Hippies oder nicht. Sie und ihre Reisegefährten hingegen sind unterwegs mit den unterschiedlichsten Gepäckstücken (Nellys roter Koffer!), die irgendwie im Bus verstaut werden müssen. Sie haben zum Beispiel eine Gitarre dabei, eine Schreib- und eine Rechenmaschine, von all den noch nicht digitalen Fotoausrüstungen abgesehen, von denen sie auch mal Teile zu einem guten Preis verkaufen. Es werden natürlich auch Souvenirs erworben, so ein anatolischer Teppich, den Näf an der türkisch-persischen Grenze spontan einem «sympathischen Typ» aus dem deutschen Freiburg zum Transport in die Schweiz mitgibt.

Von Kaschmir führt die Route über Delhi nach Kathmandu, von dort Richtung Süden durch den indischen Subkontinent bis Madras, wo für die malaysische Insel Penang eingeschifft wird, weiter Richtung Norden nach Bangkok. Dann wieder südwärts nach Singapur, wo die Daisy-Busreise mit Chauffeur Geoff offiziell endet. Nun reisen alle individuell weiter.

Auf den Strassen im Zentrum von Kathmandu.

Am Neujahrstag 1975, soeben auf dem Flughafen von Jakarta gelandet, vermerkt Näf: «Wir mit unserem Koffer machen den seriösen Eindruck reicher Touristen und haben somit keine Schwierigkeiten bei Pass- und Zollkontrolle, im Gegensatz zu den Rucksacktrampern, die alles öffnen und präsentieren müssen.»

In Jakarta verkaufen sie die Rechenmaschine, um so die Finanzen für die Weiterreise nach Java und Bali aufzupolieren. Seit Singapur sind sie ja allein unterwegs. Natürlich gilt es auch immer wieder, um überrissene Preise zu feilschen. Aber Näf kann die oft gezeigte Abneigung gegenüber weissen Touristen gut nachvollziehen, sie stellt sich vor, was die Einheimischen denken: «Diese dummen reichen Touristen, die nicht einmal unsere Sprache sprechen, sollen die nur bezahlen…». Dies die Skrupel einer jungen Schweizer Touristin der 1970er-Jahre, die sich viele Reisen und Jahre später in der Entwicklungszusammenarbeit weiterbilden und engagieren wird. Aber es ist erst Ende Januar 1975: Näf und ihr Freund mieten ein Motorrad und erkunden Bali, bei jedem Wetter und auch auf Schotterwegen. «Jede Kurve verbirgt eine neue Überraschung.»

Immer wieder den Daisy-Bus vollpacken, hier in Madras, Südindien, im Dezember 1974.

Nelly Näf hat ihre Reisen in dieser vor-digitalen Zeit über die Jahre hinweg dokumentiert: aus der Sicht der jungen, Freiheit suchenden Frau, dann der risikofreudigen, gewieften Touristin, die auch mal einen PR-Artikel über die «meisterhafte» Wüstentauglichkeit ihres Subaru schreibt, schliesslich der erfahrenen, teamorientierten Projektbetreuerin in Nairobis Slum Kibera – aber das ist eine andere Geschichte.

 

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