, 5. Juli 2017
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Sprengt die Grenzen!

Punk-Konzerte, Iran-Filme, Cocktail-Bücher und jetzt das: Das Schweizer Label «La Suisse Primitive» veröffentlichte die erste Ausgabe des Split-LP-Projekts «Transnational Series». Die Reihe ist eine Ode an den Abriss von Grenzen und ein Zelebrieren der Unsicherheiten, wenn man erstmal aus der gemütlichen Komfort-Zone draussen ist.

Bilder: La Suisse Primitive

Tausendsassas werden kritisiert: «Wer alles macht, der macht nichts so richtig!» Aber wer sagt denn, dass jemand nicht alles machen kann, und dann auch noch alles richtig?

Und liegt das Problem dann wirklich am Macher oder nicht doch am Betrachter? Dass dieser vielleicht einfach Mühe hat, wenn er mal nicht den gängigen, ordnungsfanatischen Weg des Schubladisierens gehen kann? In der Kunstgeschichte wurde das oft bestätigt.

Beispiel Martin Kippenberger: Gleichzeitig tanzte er auf seinen Punk-Konzerten im Berliner SO36, während draussen die ganze Stadt mit seiner Sticker-Prosa vollbeklebt war, gerade gefälschte Merve-Bücher mit Fotografien von ihm bei Walther König veröffentlicht wurden und anderorts Galerien seine Malerei zeigten. Den Kunstzeitschriften hatten keine Kategorie für ihn – und die Schreiber kein Vokabular, um sein Werk zu beschreiben. Wer auf Spannung und Irritation aus ist, soll die Kritik an Tausendsassas also hinterfragen – gerade in der Tab-Switch-Multi-Task-Zeit, in der wir stecken.

Der Burnout-Alltag am Bodensee

Doch jetzt nach Rorschach, vor 10 Jahren: Damals waren ich und Niklaus Reichle Weggefährten in Sachen Konzertprogrammation. Ein gemeinsamer Abend damals in unserer Zweier-WG: 18 Uhr Programmsitzung Mariaberg (das Lokal, welches wir betrieben), 19 Uhr Pasta aus dem Mafia-Rezeptbuch kochen, 20 Uhr Demo-CDs hören, 22 Uhr Joggen und Sprung in den See, 23 Uhr nach Hause, Kaffee und Averna, um Mitternacht Konzertplakate drucken und alte Koffer-Plattenspieler zum Weiterverkauf revidieren. Dann um 1 Uhr Filmschauen und Notizen zur zugehörigen Geräuschkulisse aufschreiben, 2 Uhr Vorbereiten auf den Dayjob als Lehrer.

Und dazwischen immer wieder neue Ideen, die gar nichts mit all dem zu tun haben. 1000 Sachen. Ein Therapeut würde aufgrund sprunghaften Denkens sofort die Alarmglocken schlagen und das Pillenrezept rausrücken. Und Nicht-Therapeuten wussten nie so genau, was Reichle eigentlich macht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ab einem gewissen Zeitpunkt brauchte das alles wohl doch einen Stempel. Eine Kiste, in die alles rein passt. Und so gründete Reichle «La Suisse Primitive». Den meisten ist «La Suisse Primitive» als Musik- oder Veranstaltungslabel bekannt. Doch es laufen viel mehr Projekte: Ein Film über den Iranischen Trabi ist in der Mache, und gerade steckt ein Buchprojekt über die Cocktailkultur der Schweiz in Planung.

Angetrieben wird das Schaffen von Reichle und seinem Kollegen, dem Zürcher Grafiker Ronny Hunger, aber stets von einer Sache: Der Musik. Diese wird dann auch am meisten zelebriert, gerade am vergangenen Wochenende, als die erste Schallplatte der so genannten «Transnational Series» veröffentlicht wurde.

News! Transnational Series.

Dabei handelt es sich um eine Split-LP, auf der sich zwei Künstler die beiden Seiten teilen: Kelley Stoltz aus San Francisco und der St.Galler Augenwasser. Beide sind in der (Ost)schweiz mehr oder weniger bekannt: Stoltz spielte schon an einigen Suisse Primitive-Shows und trägt zurecht einen gewissen Legenden-Status: Verschiedene Schweizer Rock- und Punkgruppen leisten sich immer wieder Flugtickets und einen Aufenthalt in seinem Tonstudio in Amerika. Augenwasser alias Elias Raschle sieht man mit seinem verschrobenen, leicht psychedelischen Songs immer wieder auf Konzertbühnen in der Schweiz.

Die Zusammensetzung der beiden erklärt dann laut auch die Titelidee «Transnational Series»: «Die Serie soll jeweils zwei Künstler oder Bands zusammen bringen, die geographisch getrennt voneinander leben, ihr Bier in anderen Währungen zahlen, im Plattenladen in unterschiedlichen Kisten zu finden sind… Aber irgendwie doch im selben Mikrokosmos herumtingeln.»

Grenzüberschreitung, Verschmischung verschiedener Kunstdisziplinen. Bei der Serie sind diese Aspekte nicht nur Beigemüse, sondern werden zum Statement: Die Gestaltung des Albums aus der Feder des Swiss Design Awards-Gewinners Ronny Hunger macht dies deutlich. Sie ist so sorgfältig gemacht, dass sich im ersten Moment fragen lässt: Gehts hier um die Musik oder das Kunstobjekt an sich? Auf der Vorderseite sind die Namen der beiden Künstler mit Rubbelfarbe überdeckt. Die Platte will, dass man sich mit ihr auseinandersetzt. Hat man das aufwändig gestaltete Objekt erstmal geöffnet, sieht man direkt in den gemeinsamen Mikrokosmos von Kelley und Augenwasser.

Toilettenvergleich

Ein 24-seitiges Inlay-Büchlein mit bester Haptik zeigt fotografische Gegenüberstellungen von Toiletten, Fensteraussichten, Aufnahmestudios und so weiter. Das Amerikanische WC ist etwas grösser als das Schweizer Modell. Auf der nächsten Doppelseite ragen links Palmen empor und rechts die uns vertrauteren Buchen (siehe Titelbild). «Wir haben den beiden Künstlern eine kleine Aufgabe gestellt: Sie sollen nicht sich selbst, aber ihre Perspektiven zeigen».

Jede Platte der «Transnational Series» wird einen derartigen künstlerischen Aspekt beinhalten, der über die Musik hinausragt. «In kommenden Ausgaben werden Texte abgedruckt sein – wir wollen mit der Gegenüberstellung ein Art Dialog zwischen den beiden Künstlern generieren», erklärt Reichle.

Und in der Musik? «Es gibt einen Zusammenhang zwischen den beiden», sagt er. «Sie ticken ähnlich, und haben die Songs mit den gleichen Lo-Fi-Aufnahmegeräten im Heimstudio aufgenommen».

Samstagmorgen bei Augenwasser

Ja. Man meint fast, man sei in der Bieler Wohnung des jungen Augenwasser, wenn man seine ruhigen, gemächlichen Stücke hört. In seiner Küche, an einem regnerischen Samstagmorgen, während er seine Gitarren-Orgel-Schlagzeugsongs nebenan im Schlafzimmer einspielt. Man riecht kalten Rauch von gestern. Es klingt nach nachdenklichen Momenten daheim, erschöpft von langen lauten Streifzügen durch Nächte, Bars und durch das ganze Drama, das dranhängen kann.

Ein bisschen erinnert Augenwasser vom Songwriting und der Klangästhetik her an Lou Reed oder frühe akustische Demos von Yo La Tengo, vor allem wegen der schönsten Eigenschaft seiner Lieder: Verträumt hauchen sie wie ohne Anfang und Ende an einem vorbei.

Etwas lauter: Stoltz

Etwas mehr «straight forward» stampft Kelley Stoltz vor sich hin. Wie eine Dampflok durch die trockene, goldene Wüstenlandschaft. Minimal, oft begleitet von klassischen Blues-Gitarren-Hooklines. Aber auch mit einer Prise Humor: Auf My Mouse, einem Lied, das gerade so gut auch auf Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band sein könnte, fragt Stoltz seine Hörer: Kennst du den weg zu meinem Haus? Würdest du einwilligen zu einem Treffen mit meiner Maus?

So charmant, dass man natürlich ja sagen würde. Getroffen haben sich Augenwasser und Kelley übrigens nie – und ein direkter Austausch zwischen den beiden fand auch nicht statt. «Das kann bei kommenden Editionen der Serie aber durchaus vorkommen», sagt Reichle.

Erste Ausgabe der «Transnational Series» mit Kelley Stoltz und Augenwasser: in ausgewählten Plattenläden oder auf lasuisseprimitive.com.

Als nächste sind die Schweizer Band Starcleaner (Leute von Disco Doom) und Mind Mind (Tocotronic-Rick Mc Phails Nebenprojekt) an der Reihe. «Dort gibt es dann textliche Dialoge zwischen den beiden im Booklet. Der Hammer wäre aber, wenn sich in einer kommenden Transnational-Ausgabe die Bands die beiden Plattenseiten teilen oder sich vielleicht sogar im Studio treffen würden», sagt Reichle.

Imbiss-Bude und Kunstmesse

Das Sprengen der Grenzen, die komplette Verschmelzung: Sehnsüchte von La Suisse Primitive, die zu lobenswerten Taten und schönen Szene-Irritationen anregen. Die Platte wurde am Wochenende unter anderem nicht in einer Konzerthöhle, sondern in einem Zürcher Imbisslokal getauft. «Das Servicepersonal wurde vom Chef nicht mal darüber informiert, das wir kommen», erzählt Reichle und schmunzelt wie einer, der gerade die Szene-Komfortzone gehackt hat.

Nach Burger und Ketchup hätte es gerochen, nicht nach Rauchmaschine und Bier. Grosse Aufmerksamkeit hatte die Scheibe auch an der Art Basel, wo der Grafiker Ronny Hunger dafür für den Schweizer Designpreis nominiert wurde. Unter Cüpli- und geschniegeltem Kunstpublikum. Wo das alles hinführt? Man weiss es nicht. Reichle lacht. «Aber genau so wirds einen auch nicht langweilig».

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