, 18. April 2017
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Sterben lassen

Suizid ist ein Menschenrecht. Und wir müssen endlich darüber reden. Ein Beitrag aus dem Aprilheft von Saiten.

Kürzlich hat sich ein Bekannter von mir das Leben genommen. Er war knapp 30, ich fiel aus allen Wolken. Ich kannte ihn – nennen wir ihn Sam – viel zu schlecht, um ihn wirklich zu kennen, aber ich habe ihn immer als aufgeweckten, umtriebigen und sehr begabten Zeitgenossen erlebt. Er war beruflich erfolgreich, dem Leben und der Lust scheinbar zugeneigt, den vielen Leuten um ihn herum, dem Alkohol und manchmal auch anderen Substanzen.

Ich verstehe nicht, warum er sich getötet hat, aber ich kann verstehen, dass er es getan hat. In dunklen Zeiten hasst man sich und die Welt, die Stadt und die Leute und sowieso alles, was irgendwie nach Zuversicht riecht. Man will aufgeben, Brücken abbrennen und durchbrennen. Oder eben: gar nicht mehr sein. Keine Angst, ich bin nicht suizidal. Aus sturem Stolz nicht – und natürlich wegen meiner Familie. Vor langer Zeit habe ich mir einmal geschworen, dass ich mich von mir und der Welt nicht fertigmachen lasse. Mir genügt das Wissen, dass ich dem öden Leben entgehen könnte, wenn ich es wollte. Andere sind nicht so. Andere bringen sich um – und werden dafür verurteilt.

Das ist unglaublich anmassend. Wer hat Hinz und Kunz eingeredet, dass es okay ist, ständig über die persönlichen Entscheidungen anderer zu urteilen? Eine Saumode. Und wieso glauben die Leute, dass das sogenannte Leben besser ist als der Tod? Dieses wilde Abfeiern der blossen Existenz geht mir nur allzu oft auf die Nerven, dieser lebensbejahende Imperativ, dieses Geklammer am Fleisch und an der Jugend. Man darf lebensmüde sein – und es auch zugeben. Oder anders gesagt: «Freiwillig» ist das Leben nur, wenn auch der Tod freiwillig ist.

Jean Améry: Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod. J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1976.

Peter Baumann: Die Freiheit zum Sterben – Menschliche Autonomie am Ende. Chronos Verlag, Zürich 2014.

Suizid ist ein Menschenrecht. David Hume, Michel Montaigne oder Arthur Schopenhauer forderten dasselbe. Auch der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry, der den Suizid als die letzte und womöglich einzig realisierbare, dauerhafte Freiheit versteht. Im Buch Hand an sich legen schreibt er: «Es geht dies wohl nicht mit rechten Dingen zu, ich meine, einerseits die kalte Gleichgültigkeit, welche die Gesellschaft dem Menschen zeigt, und die erhitzte Sorge um ihn, wenn er aus dem Verbande der Lebenden freiwillig auszutreten im Begriffe steht.»

Es ist frech und falsch, wie unsere Gesellschaft mit Sterbewilligen umgeht, vor allem wenn der Wunsch psychisch begründet ist. Das beginnt schon bei der Terminologie: «Selbstmord» impliziert ein Verbrechen. Ich ermorde mich selber. Man könnte stattdessen von «Freitod» reden, wobei dieser Ausdruck auch euphemistisch gedeutet werden kann, da wohl nur die wenigsten Freitode tatsächlich frei gewählt sind. Die neutralste Bezeichnung wäre darum der etwas steril wirkende «Suizid» – sui caedere, sich töten. «Merkwürdig, wie die latinisierten Formen stets einer Sache ihre Wirklichkeit absaugen», schreibt Améry dazu. Er nahm sich am 17. Oktober 1978 in Salzburg das Leben.

Damit wir uns richtig verstehen: Das hier ist kein Plädoyer für Suizid, sondern eines für die Enttabuisierung desselbigen. Sicher, ich würde mir würdigere, saubere, weniger aggressive Formen des Sterbens wünschen, auch für Nicht-Exit-Mitglieder, und ja, grundsätzlich hat sich niemand einzumischen bei einer solchen Entscheidung, aber zuerst einmal gilt es, das «diffuse Suizidverbot» unserer Gesellschaft, wie es der Psychiater und Sterbehelfer Peter Baumann genannt hat, zu knacken. Dieses sei nämlich von entscheidender Wichtigkeit, schreibt er im Buch Die Freiheit zum Sterben. «Denn der Suizidale kommt unter grossen Vorbehalten in Behandlung, weil er befürchtet, er habe womöglich eine Zwangseinweisung zu gewärtigen. Da er das als Entmündigung, Verurteilung oder Willkür empfindet, wird er häufiger lieber auf Hilfe verzichten, suizidal bleiben oder später allein den Entschluss fällen, sich zu töten.»

Enttabuisierung heisst also auch Prävention. Was Baumann damit gemeint hat, lässt sich auch am Beispiel der beiden Appenzell verdeutlichen: Dort gibt es laut einer Statistik des Forums für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich schweizweit die höchsten Suizidraten, und das vor allem bei den Männern. «Eine unverstandene Konstante», heisst es im dazugehörigen Kommentar. «Als mögliche Erklärungsansätze kommen in Frage: Imitation, Einstellungen zu psychischen Problemen, Einstellung zu Problembewältigungsmöglichkeiten, sozialer Support. Am vielversprechendsten erscheint ein indirekter Erklärungsansatz: bei Vorliegen psychischer Probleme und bei Krisen suchen Appenzellerinnen und Appenzeller – eventuell bedingt durch die Siedlungsformen – seltener Gesprächsgelegenheiten und fachliche Hilfe als Einwohner anderer Kantone.»

Ich denke gerne an Sam und wünsche seiner Familie alle Kraft, um mit dem grossen Verlust umzugehen. Keine Ahnung, was ihn dazu bewegt hat, sich das Leben zu nehmen. Keine Ahnung, ob er in Behandlung war, ob er mit jemandem reden konnte, sich jemandem anvertrauen. In seinem Fall ist das auch gar nicht mehr relevant – für die vielen anderen da draussen allerdings schon. Deshalb muss die gesellschaftliche Ächtung endlich aufhören und das Schweigen gebrochen werden, gerade hier in der Schweiz, wo die Suizidrate weltweit eine der höchsten ist.

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.

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