, 22. Juni 2019
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Streikbike und Strafanzeigen

Seit einem halben Jahr streiken Schülerinnen und Schüler in der Ostschweiz, um den Klimawandel zu bekämpfen. Gestern fand der Klimastreik erstmals auf Velos statt. Ein Bericht über laute, junge Leute und Ärger mit der Stadtpolizei. von Andri Bösch

Bilder: Andri Bösch

Sonnenschein am Güterbahnhof, im Hintergrund der gelbe Lattichcontainer und davor Fahrräder en masse: Das Kollektiv Klimastreik Ostschweiz hat zur Velodemo gerufen, gekommen sind knapp hundert Menschen mit ihren Drahteseln.

Zwischen Velos, E-Bikes, Kickboards und einem Tandem wird die neuste Patentlösung für Demos präsentiert: A4-Blätter, bedruckt mit den altbekannten Forderungen des Klimastreiks, die Mensch sich dann auf den Rücken oder ans Fahrrad kleben kann. «Pfui!» hört man schon die Klimastreikkritiker rufen; den Schülerinnen und Schülern scheint das egal zu sein. Längst ist hier ein Bewusstsein dafür entstanden, dass der Klimawandel allein durch individuelle Konsumentscheide nicht aufgehalten werden kann.

«Es ist zwölf, es ist nicht mehr fünfvorzwölf, es ist zwölf», dringt zu hartem Bass aus den Boxen. Einer von vielen Tracks aus der «Fridays for Future»-Spotify-Playlist.

Solihupen & Veloklingeln

Die 20-jährige Ornella schreitet zum Mikrofon und gibt einen Poetry Slam zum Besten. «Mir laufed durch d’Stadt, es isch Klimastreik, es isch kein Spass, (…) es isch en Fakt wo me sött ghöre – s’Lebe uf dere Welt wird irgendwenn ufhöre. Jetzt isch Ziit, mir müend handle.»

Und gehandelt wird hier heute. Das Megafon ready, die Transpis ausgepackt und das Cargo-Bike vollgeladen mit Boxen und Vuvuzela, fährt der Tross los vom Güterbahnhof hinein in die Stadt.

Den Zungenbrecher «system change not climate change» brüllen die Streikenden regelrecht bei der Fahrt durch die Marktgasse, fast alle Leute bleiben verdutzt stehen, schauen den Velos nach, viele zücken das Smartphone.

Die Autos an den zu passierenden Kreuzungen haben auch jetzt wieder stehenzubleiben – im Gegensatz zum riesigen Frauen*streik vom letzten Freitag jedoch wesentlich kürzer. Dafür gibt es auch heute wieder ein erfreuliches Solidaritätshupen.

«Unkooperativ & unfähig»

Nach gut zwanzig Minuten ist die Fahrt vorbei, die Menge hält beim Vadian in der Marktgasse, wohlbehütet von der st.güllischen Stadtpolizei, welche sich – mal abgesehen vom einem Polizist mit Motorrad – ebenfalls vorbildlich mit Velos hinter der Demo herbewegte.

Weniger gesittet hingegen scheint es zwischen Klimastreikenden und der Polizei im Hintergrund zu- und herzugehen. Einzelpersonen des Klimastreikkollektivs seien gemäss eigener Aussage immer wieder Zielscheibe von Repressalien.

Mensch erinnere sich an den letzten Streik vom 24. Mai 2019: Der Demonstrationszug lief über den Kornhausplatz und besetzte anschliessend für eine knappe Viertelstunde die Kreuzung zwischen St.Leonhard-  und Kornhausstrasse. Dort wurde Musik gehört und zusammen gesungen. Ein utopischer Moment. Und ein schöner Ausblick darauf, wie vielfältig der durch Strassen beschlagnahmte Platz genutzt werden könnte, würden nicht so viele Autos die Stadt verstopfen.

Dominic Truxius, Mitglied des Kollektivs und an jenem Tag Inhaber der Demonstrationsbewilligung, bezahlte diese Aktion hingegen mit einer Anzeige durch die Stadtpolizei. Nicht die erste, wie er nach der Velodemo erzählt. Mittlerweile seien ihm vier Anzeigen aufgebrummt worden. Drei wegen Übernutzung des öffentlichen Raumes, eine wegen Zuwiderhandlung polizeilicher Anweisungen, wobei zwei Anzeigen «kulanterweise» zu einer zusammengefügt wurden.

Man merke sich aus Selbstschutz folgendes: Hänge niemals ein Transparent an eine Brücke; stehe niemals in einer Gruppe am Kornhausplatz und halte dabei ein Transparent in den Händen; verteile niemals zu viert (sic!) Flyer am gleichen Ort in St.Gallen; sei niemals Bewilligungsinhaber einer Demonstration, die auf einer Strassenkreuzung verweilt.

Des Weiteren darf Truxius nach eigener Angabe nun keine Demonstrationen mehr organisieren. «Die Stadtpolizei betitelte mein Verhalten nach der letzten Demo als unkooperativ und unfähig», sagt Truxius. Man fragt sich zurecht, wer genau hier eigentlich unfähig ist, wenn sich die Stadtpolizei auf solch hohle Paragrafen wie «Übernutzung des öffentlichen Raumes» bezieht. Derartig gesuchte «Vergehen» sind nichts weiter als klassische Beispiele staatlicher Delegitimierungs- und Illegalisierungsstrategien von politischem Aktivismus.

Für Truxius ist indessen klar: «Es ist nicht relevant, ob etwas als legal oder illegal gilt, es geht darum, Mittel zu finden, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen.» Und auch Anna Miotto, ebenfalls Mitglied des Kollektivs und an der gestrigen Demo in der Funktion der Medienkontaktperson, verurteilt das Verhalten der Polizei: «Wir finden das total daneben, insbesondere dass sich die Repressionsversuche gegen Einzelpersonen richten. Wir sind ein Kollektiv und agieren nur als solches.»

Ein Halbjahresjubiläum?

«Dreimaldrei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune, ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt…» – «…bis sie zerfällt!», rufen Paula und Belinda ins Mikrofon unter dem Vadian. 2080 werden die beiden 79 Jahre alt sein, der Regenwald abgeholzt, die Arktis winzig klein und die Nutelladose leer.

«Wir warten auf den Richtungswechsel, warum ist davon nichts zu sehen?», fragen sie. «Kohlekraftwerke stünden still, wenn die Politik das so will, auf Kerosin gäbe es eine Steuer, Fliegen wäre teuer, Biogemüse würde zum Standard, was ihr alles in der Hand habt! Ich dachte immer, ich wär’ allein, die da so gross und wir so klein. Doch heute sehe ich, dass das nicht stimmt, denn wir sind viele und wir sind laut. Ja, wir sind gross und die Welt ist so klein. Und was wir mit ihr machen, bestimmt niemand allein. Wir fordern eine Welt, die uns in fünfzig Jahren noch gefällt!»

Genau auf den Tag ein halbes Jahr ist es her – damals am 21. Dezember 2018 – als die Schülerinnen und Schüler an der Kantonsschule am Burggraben das erste Mal den Klimastreik ausriefen.

Die Bewegung in der Ostschweiz hat sich seither etabliert, ist lauter, stärker, sichtbarer geworden, übt Druck aus auf Politik und Gesellschaft. Und trägt ihren Protest voller Selbstvertrauen auf die Strasse. Das ist gut so, denn für den Kampf gegen die Ausbeutung und letztliche Zerstörung der Erde bleibt – wir wissen es alle – nicht mehr viel Zeit.

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