Da passt vieles zusammen. Beide zeichnen virtuos, erzählen seltsame Dinge mit ernster Miene, sind in der Ostschweiz aufgewachsen und hängen geblieben, in ihren Hirnen muss es ein paar Extrawindungen für Kurliges geben, kurzum: Manuel Stahlberger und Julia Kubik haben so viel gemeinsam, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis sie miteinander auf der Bühne stehen.
Das tun sie jetzt – seit September und weit ins 2025 hinein touren sie durch die Schweiz mit einem Programm, dessen Titel so eigen ist wie der ganze Abend: Es wie die Sonnenuhr machen.
Funktioniert auch im Thurgau
Anfang November, im «Goldenen Dachs», der erst seit ein paar Monaten existierenden Kulturbeiz in Weinfelden, die auch sonst einen Besuch wert ist: Volle Reihen, man kennt sich, es ist der Auftakt-Tag der Weinfelder Buchtage, des ambitionierten Literaturfestivals. In einer Ecke stapeln sich die Bücher der hier lesenden Autor:innen, daneben die enge Bühne, auf der Stahlberger/Kubik gleich die enge Ostschweiz verhandeln und am Ende bis zum Mond vergrössern werden. Fazit vorweg: Sein Stadt-Sanktgaller und ihr Rheintaler Humor funktionieren auch im Thurgau hürdenfrei.
Was nicht verwundert, denn die Themen sind so lokal wie universell. Zum Beispiel Guetzle mit de Chind vor Weihnachten: Es ist eine dieser Szenen aus dem kleinbürgerlichen Familienalltag, auf die Manuel Stahlberger spezialisiert ist. Diesmal hat er es auf die Mailänderli abgesehen. Alles selber gebacken, versichert er.
Zuerst (denn immer ist zuerst Ordnung in Stahlbergers Mikrokosmos) kommen die Guetzli brav als Dreikönige samt Stern von Bethlehem daher. Dann mutieren sie zu den drei Eidgenossen aus dem Bundeshaus und schwupps zu Fussballstars. Intermailänderli gegen Baslerbrunsli, Stahlberger guetzlet Zidanes Kopfstoss oder das Wembley-Goal nach und ein ganzes Stadion voller Fanguetzli, aus Cheer- werden Cheeseleaderinnen und schon ist Krieg, Winkelried rammt sich Grissini in den Bauch, Eidgenossen erschlagen Habsburger mit Brügeli, die Guetzli reichen längst nicht mehr, jetzt müssen Pizzas her, Bomben auf Pearl Harbour, die Hindenburg explodiert in Lakehurst, zur Entspannung ein Giacometti aus Spaghetti und am Ende der Urknall: ein Blumenkohl.

Stahlbergers Wembley-Goal
Unter Stahlbergers versierten Küchenfingern verwandelt sich alles zu allem, nichts ist sicher vor seinem gnadenlos freundlichen Zugriff, Kinderspiel und Weltuntergang Hand in Hand, man lacht sich krumm und weiss nicht, ob Lachen noch passt.
Tierliebe à la Kubik
Auch Julia Kubik wirbelt Sein und Schein durcheinander. Legendär für Saiten-Leser:innen, die das Januarheft 2022 noch in Erinnerung haben, ihre Duftkerzen Fleischgenuss assortiert, ihr Lavabo aus Seife, der Kiesmäher Felsenmelk oder der Menschenbaum. Besonders haben es ihr die Tiere angetan, Leguane, Pferde, Gazellen, der Hecht auf Drei Weieren, der mörderische Riesenfrosch, das blutende Reh im Ausgang, der Hund als Fotograf, überhaupt der Trend zum «emotional
support animal»: Es menschelt gewaltig in Kubiks Tierleben.
«i bi e tuube / du e person», fängt ihr Gedicht mit dem Titel Tagesmenü an, später taucht «en leu im garte» auf, «s krokodil lauft im lige / d ente sitzt im stoh / i schlof ii bim laufe». Wir sind «im schatteloch» namens «ostschwitz ostschwitz», diesem «brennpunkt schlechti luune», wo sich Rehe und Hunde, Hühner und Füchse gut Nacht sagen zwischen «tankstell zigis zuekunft / gossau goldach au / avec, do it, landluft / meistens wenig stau».
Dialektlyrik wie diese muss man weit suchen, und hier im Osten wäre die Suche, bis auf Stahlbergers kongeniale Songtexte, wohl vergeblich. Da ist alle heimatliche Idyllik weggefegt, die Reime kratzen, die Bilder jaulen, die Mundart zeigt ihre Zähne und die Agglo ihre Fratze: «hami ufs gross spektakel gfreut / aber es isch abgseit / lauf hei und gspür debi mis gsicht / wo langsam usenandgheit».
Statt Spektakel bietet das Leben als «tagesmenü: s git was git». Oder, im Lied vom Chindertisch, Fremdschämen, wenn der Vater mit seiner neuen Freundin Party feiert. Oder Stau vo Üetedorf bis Gams in Stahlbergers Lobgesang auf die Schweizer Strassendemokratie, wo selbst der Bundesrat im Tunnel stecken bleibt.
Die grossen Hoffnungen: vorbei. Die Karriere: abgesagt. Die Einsicht immerhin glasklar: «Mit dem Wissen wächst der Zweifel.» In Kubiks Bildern schlägt die Stunde der Yogahasser und Eisbadenden, während Stahlbergers Poesiealbum auf leise Rebellion macht. Statt schöngeistige Lebenshilfe sammeln sich darin Fahrplan und Mailänderlirezept, Mozart singt seine anstössigen Kanons und Goethe tätowiert sich den «Faust» auf Bauch und Rücken.
Ablagerungen der Volkskultur
Übrigens war das vorhin mit der abgesagten Karriere gelogen: Stahlberger läuft zu Höchstform auf in den aus Steckli gebastelten Kunstinstallationen von Igel Freddy. Und Julia Kubik outet sich im zweiten Programmteil als Jungfilmerin, etwas erschöpft und «nicht so belastbar» grad an dem Abend, wie sie Moderator Stahlberger im Smalltalk gesteht, aber im Festivalglück mit ihrem Erstlingswerk Image.

Filmstill aus Julia Kubiks Film Image.
Ihr Film ist ein Zusammenschnitt von Gruppenporträts aller Art: Politiker, vorzugsweise männlich, Familien, Kaderteams samt Chefs, Fussballer, Checkübergaben, Rockbands, Feuerwehren, Hochzeitsgesellschaften, Vereine … In rasendem Tempo reiht sie der Film aneinander, unterlegt von Kratzern, Knallern, Klingeln, von Applaus, Pfiffen, Schreien und was man sonst noch alles an unpassenden Geräuschen aus dem Netz holen kann. Die Porträts stehen kopf und quer, es bleibt die Erkenntnis: Die wahre Natur des Menschen ist es, sich in Gruppen fotografieren zu lassen.
Stahlberger/Kubik retten den Alltag mit Ironie, weil sie ihn mögen: Gruppenfotos, Guetzli, Poesiealben, all die Ablagerungen der Volkskultur haben ihren Wert und ihre komische Würde. Dem Poesiealbum ist denn auch der Titel des Programms entsprungen: Es wie die Sonnenuhr machen.
Wir haben es gemacht und die heiteren Stunden gezählt: Mehr als zwei sind es. Analysen und Poesien, Haupt- und Nebensächliches zur «conditio humana» im Osten und überhaupt, Karikaturen und Teigfiguren, Kubiks Fotos von St.Galler Unorten, Stahlbergers grössenwahnsinnige Denkmal-Fantasien, schräge Chatverläufe, deprimierend wahre zweistimmige Songs und mehr fügen sich zu einer Nummernrevue, die gern auch drei Stunden dauern dürfte.
Ah, fast vergessen, der Mond. Die Migros, von Sparmassnahmen gebeutelt, hat ein neues Businessmodell gefunden: Sie expandiert ins Universum, es gibt jetzt eine Migros Mond, eine Migros Jupiter, sogar eine Migros Milchstrasse, gebaut aus kosmischem Reis. So kommt alles gut und bleibt Kubik am Ende mit ihrer Gedichtzeile, meinem Lieblingssatz aus dem Programm, im Unrecht: «alles wa sehr guet isch / frisst sich selber uf».
Stahlberger/Kubik – Es wie die Sonnenuhr machen: 19. und 20. Dezember, Palace St.Gallen, im Februar 2025 unter anderem in Braunwald, Sommeri, Lichtensteig, Buchs und Wil