, 24. August 2015
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Tal der Demut: Zurück zur Natur

Der Name des Geländeeinschnitts zwischen St.Georgen und dem Riethüsli ist nicht der Gottesfurcht geschuldet, sondern der schwärmerischen Flurnamen-Romantik des 19. Jahrhunderts. Jetzt soll im «Tal der Demut» wieder der ursprüngliche Bach mit seinem vielstimmigen Murmeln an die Erdoberfläche geholt werden.

Unter dem Boden in ein Röhren-Korsett eingesperrt wurde das muntere Wässerlein in den 1960ern, als die GBS ins Tal am südlichen St.Galler Stadtrand gebaut worden ist. Damals war es halt noch das Schicksal der Natur in Baugebieten: Abrakadabra – verschwindibus!

Molche und Feuersalamander im Demut-Sumpf

Auf die Kinder im Riethüsli-Quartier nahm man dabei keine Rücksicht. Sie verloren ein geheimnisvoll-blubberndes kleines Sumpfparadies, das uns Quartierkids zuvor schon mal die Stiefel ausgezogen hatte, beim Durchwaten auf der Suche nach Molchen, Feuersalamandern, Libellen und Wasserläufern, denen wir die ersten Naturbeobachtungen widmen wollten. Diffizil war die Ernte von Froschlaich für die Schulstube, wo man in grossen Wassergläsern gespannt das Werden der Kaulquappen Bein für Bein verfolgte. Es durften nur kleine Mengen der gallertbeschichteten Eier dem Demut-Bächlein entnommen werden, weil das Leben dort möglichst unbeschadet bleiben sollte.

Manchmal kosteten solche Expeditionen sogar Blutzoll, wenn sich unbemerkt Blutegel an den Unterschenkeln und in den Kniekehlen festgesaugt hatten. Nach ein paar Wochen wurden die während des Schulunterrichts wundersam entstandenen kleinen Frösche in Schuhschachteln wieder in den Demut-Sumpf zurückgebracht, wo sie ohne Abschieds-Sentimentalitäten geradewegs in ihr Element hüpften.

Schützenfest, Winterolympiade und Gerüchte über ein KZ

Jetzt wird dieses vielfältige Bach- und Sumpfleben wieder in die Geländesenke zwischen dem Bernegg- und Ringelbergwald zurückkehren: das Beste, was dem Tal passiert während der letzten 100 Jahre. Denn 1904 herrschte hier eine grosse Knallerei und es hing viel Pulverdampf in der Luft. Damals fand an diesem Platz das Eidgenössische Schützenfest statt. Noch zeugt das Schützenhaus Weiherweid mit dem minarettartigen Türmchen von dieser patriotisch-lauten Zeit.

Tal der Demut EispalastIn den 1920ern plante Rudolf Pfaendler, ein visionärer Architekt mit Wahnvorstellungen, im Tal der Demut eine Sommerolympiade. Der Bernegghügel wäre nach seinem vorwärts getriebenen Willen zugunsten eines Flugplatzes abrasiert worden. Und es hätte an der Stelle, wo heute die GBS steht, ein imposantes Olympiastadion mit Autorennbahn das Tal gegen Westen abgeschlossen. Die futuristischen Pläne liegen im Archiv der St.Galler Ortsbürgergemeinde. Pfaendler selbst wanderte nach Australien aus, und niemand hörte jemals wieder von ihm.

In den 1930ern wurde es dann bedrohlich, obwohl das alles immer nur ein Gerücht geblieben ist: Bei einem Einmarsch der deutschen Nazis hätten die St.Galler Fröntler, von denen es nicht wenige gab, im Tal der Demut ein KZ errichten wollen.

Jahrzehnte später, in den 1970ern, war für kurze Zeit die sittliche Ordnung zwischen St.Georgen und dem Riethüsli arg in Gefahr. Weil es im Linsenbühl Lämpe gab, verlagerte sich der Strassenstrich ins Tal der Demut.

Und viele Jahre später, im Februar 2009, schrammte das Tal der Demut knapp an einer Katastrophe vorbei, die aus ihm leicht das «Tal des Todes» hätte machen können. Nur kurz vor Schulbeginn brach unter der Schneelast das Dach der Dreifach-Turnhalle ein. Zu Schaden kam niemand.

Einsturz der Sporthalle der GBSAn Büschen und Feldgehölz vorbei mäandrieren

Bereits im kommenden Sommer soll der Weierweidbach aus der Eindolung befreit sein. Zwischen dem Schützenhaus und der GBS soll er in der Mitte der Geländemulde auf einer Länge von rund 400 Metern leicht mäandrierend in einem natürlichen Bach- und Uferbereich mit Nischen, Hohlräumen, Vertiefungen, Aufweitungen und Rückzugsbereichen für Bachlebewesen ein neues Dasein erhalten, heisst es im Beschrieb des Renaturierungsprojektes. Er soll von Naturwiese und Magerweide gesäumt werden und an Strauchgemeinschaften und Feldgehölz vorbeifliessen.

Die heutige landwirtschaftliche Nutzung des Tals wird eingeschränkt, und der Bach darf bei Niederschlägen auch mal über seine Ufer treten und für sumpfige Abschnitte sorgen. Das Ziel: ökologische Vernetzung und eine Aufwertung des Landschaftraums im städtischen Naherholungsgebiet.

Möglicherweise «archäologische Funde»

Angeschoben hat das Projekt der Naturschutzverein der Stadt St.Gallen und Umgebung (NVS) mit der Finanzierung einer Renaturierungsstudie. Insgesamt kostet die Befreiung des Weierweidbaches 400.000 Franken. Davon steuern der Kanton 240’000, die Stadt St.Gallen 110’000 und der NVS 50’000 Franken bei.

Es mag sein, dass bei der Offenlegung des Baches auch «archäologische Funde» gemacht werden. Beispielsweise Teile von Kindergummistiefeln, die der Sumpf von anno dazumal verschluckt hatte, oder Fragmente von handgenähten Lederfussbällen. Sie flogen gelegentlich über die frühere Tschuttiwiese hinaus und landeten nicht mehr auffindbar im Bach. Die verwunschene Stelle befindet sich im Eingangsbereich der heutigen Zivilschutzanlage, wo bald Asylsuchende auf dem Weg zu ihren Schlafplätzen durchgehen werden.

Tal der Demut von anno dazumal 1

 

Titelbild: Projektplan Renaturierung

1 Kommentar zu Tal der Demut: Zurück zur Natur

  • egidio mombelli sagt:

    wie alt ist wohl diese Aufnahme ? Mein Geburtshaus (erbaut 1900 ca.) Teufenerstr. 150 stand noch nicht, man erkennt lediglich
    147 und 149

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