, 25. April 2022
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Tell trifft ins Schwarzweisse

Milo Rau verknüpft am Schauspielhaus Zürich Schillers «Wilhelm Tell» mit Raubkunst, Zwangsarbeit, Flucht, Männergewalt, Barrierefreiheit, Pflegenotstand und allerhand anderen Diskursen. Da verpuffen sogar Provokationen.

Das Tell-Ensemble beim Rütlischwur. (Bilder: Philip Frowein / Flavio Karrer)

Um 1291 schleppen sie Steine im Frondienst für Gesslers «Zwing Uri». Anno 2022 schwitzen die Steinschlepperinnen auf der Schauspielhaus-Bühne sowie per Video-Einspieler vor den Bildern der Bührle-Sammlung im Kunsthaus, einen Steinwurf vom Theater entfernt.

Unter ihnen ist Irma Frei. Sie schleppt ihren Stein zum Vortragspult und berichtet mit starker Stimme, wie sie in den 1960er-Jahren als Mädchen im Marienheim in Dietfurt im Toggenburg eingesperrt wurde und Zwangsarbeit in der Spinnerei leisten musste. Spinnerei und Heim gehörten dem Waffenproduzenten und Kunstmäzen Emil G. Bührle. (Mehr zum Thema Dietfurt hier, hier und hier).

Zwangsarbeiterin Irma Frei, Ensemble.

Das Premierenpublikum reagiert mit Szenenapplaus auf die beklemmende Erzählung einer «gestohlenen Kindheit». Geschichte kippt in Gegenwart um, Theater in Dokumentation: Die Methode, auf vielen Bühnen praktiziert und von Milo Rau perfektioniert, funktioniert auch hier und nicht nur in dieser Szene, sondern von A wie Apfelschuss bis Z wie Zwangsarbeit.

Schillers Tell ist, nicht nur was die Zitaten-Dichte à la «Der Starke ist am Mächtigsten allein» betrifft, ein Selbstbedienungsladen. Auch Hitler hat sich bedient; 1934 feiert er das Stück als «Führerdrama», 1941 verbietet er es, während 1939 am Schauspielhaus Fritz Wälterlin den Tell als Beitrag zur Geistigen Landesverteidigung inszeniert mit Heinrich Gretler in der Titelrolle. 1971 stellt Max Frisch den Stoff vom Kopf auf die Füsse, mit seinem Wilhelm Tell für die Schule.

Nochmal eine Generation später, 2006, schickt am Theater St.Gallen Regisseur Samuel Schwarz den Tell als Zuger Attentäter Friedrich Leibacher mit Sprengstoffgürtel ins Publikum – und erntet entrüstete Reaktionen. Schillers Stück hält aber stand. Es hält viel aus.

Dass allerdings in knapp zwei Tell-Stunden gleich ein rundes Dutzend aktueller Diskurse per exgüsi abgehandelt werden können, dafür braucht es dann doch einen Teufelskerl wie Milo Rau. Rau greift zu, wie es ihm gefällt beziehungsweise: wo immer sich eine Engführung des historischen Stoffs mit der helvetischen Gegenwart anbietet.

Mit Weidmesser und Handschellen

Zu den fünf Schauspielprofis (Maya Alban-Zapata, Maja Beckmann, Michael Neuenschwander, Karin Pfammatter und Sebastian Rudolph) wurden zu diesem Zweck acht Expert:innen des Alltags gecastet. Irma Frei ist eine von ihnen, ein anderer ist der Urner Jäger Cyrill Albisser. Er macht vor, wie man einen Hirsch jagt und ausweidet, «Rote Arbeit» in der Jägersprache, wie sie ein Tell zweifellos beherrscht hätte. Oder Hermon Habtemariam, Sans-Papier aus Eritrea: Er lernt dieses Volk der Hirten auf die brutale Art kennen – und demonstriert, wie eine Polizeikontrolle in Handschellen endet.

Hermon Habtemariam, Ensemble.

Sarah Brunner, erste Füsilier-Offizierin der Schweizer Armee, kam zum Casting, weil sie den Tell spielen wollte, und erzählt, wie sie als Soldatin ihre Freiheit gefunden hat. Pflegefrau Vanessa Gasser berichtet aus ihrem Alltag, Meret Landolt schildert ihre Selbstbehauptung als junge Frau mit verkrüppelten Armen. Szene um Szene geht es, mehr oder weniger zwanglos, zwischen Theatertext und heutigen Biografien hin und her.

Die Schiller’sche Hochzeit von Rudenz mit Bertha widmet Rau kurzerhand um zur Bürgerrechts-Aktion: Sans-Papier heiratet Offizierin, die feierliche Trauung in der Wasserkirche zelebriert der St.Galler Inklusions-Agent und Rollstuhlfahrer Cem Kirmizitoprak. Und Cem hält auf der Bühne ein flammendes, stark applaudiertes Plädoyer für Barrierefreiheit und gegenseitige Unterstützung, ein inklusiver Rütlischwur («Nur verbunden werden die Schwachen mächtig») mit Zündstoff.

Absturz im Morgenrot

Dann aber sollen wir im Publikum aufstehen, armschwenkend den Anbruch einer neuen Zeit mitfeiern und die Nationalhymne mitsingen. Das funktioniert beim kritischen Zürcher Premierenpublikum nicht wirklich, und Milo Rau weiss das natürlich – es gibt im Ernst auch nichts zu feiern, die Legalisierung der Sans-Papiers ist erst Theater, auf dem Mittelmeer ertrinken Geflüchtete, und weit und breit kein Tell, der mit starker Hand ans Ruder tritt wie in einem weiteren Video-Einspieler.

Raus Appell zum Mitsingen der (vergospelten) Nationalhymne ist Provokation auf einem schmalen Grat – so schmal wie der Felsensteig im Schächental, auf dem sich Tell und Gessler (hier: Tellin und Gessler, samt «weirden Vibes») begegnen.

Begegnung am Abgrund: Gessler (Sebastian Rudolph), Tellin (Sarah Brunner).

Den Absturz von diesem Grat markieren die Transparente im Schauspielhaus-Foyer und später auch auf der Bühne: «Hängt den Bührle an ein Schnürle» steht da in Krakelschrift: zu billig und definitiv zu geschmacklos, als Schauspieler Sebastian Rudolph in Naziuniform dann auch noch seine Witze darüber reisst.

«Zwing Uri» ist das Chipperfield-Kunsthaus, Bührle ist Gessler oder auch Hitler, Altdorf ist Dietfurt, Tell ist auch Hamlet, in Erinnerung an Schlingensiefs politaktivistische Inszenierung mit geläuterten Neonazis, 2001 am Schauspielhaus. Der Mord an Wolfenschiessen, mit dem das Stück beginnt, wird zum Mord am übergriffigen weissen Mann überhaupt, dem die schwarze Frau den Schädel mit dem Holzhammer zertrümmert.

Alles geht mit allem überkreuz, gemalt wird über weite Strecken schwarz-weiss. Die Passagen aus Schillers Original lässt Rau im pathetischen Tragödenton von einst deklamieren, die Kulisse im Hintergrund (Ausstattung Anton Lukas) ist ein theaternebelumwalltes Ballenberg-Rütli.

Der Apfelschuss, im Video die Tellin Meret.

Ab und zu unterlaufen komplexere, rätselhafte, auch poetische Töne die Holzhammer-Methode. Zum Beispiel, wenn das Kind von einer Schweiz spricht, die Todesangst macht, die einmal ein leerer offener Raum war und sich dann immer mehr teilte in Herrschende und Nicht-Herrschende. Samt dem Hass der Freien auf «jeden, der ihm freier erscheint».

Im Programmheft steht dazu der kluge Satz, «dass die Freiheit grösser wird, je mehr sie geteilt wird; und kleiner wird, wenn man sie Einzelnen verwehrt».

«Sehr schweizerisch, nicht?»

Im überzeugenden Kern der Inszenierung stehen Wilhelm Tell und der Aufstand der Eidgenossen in dieser Linie: als konservative Revolte mit dem Ziel, nicht zum Neuen aufzubrechen, sondern zum Alten zurückzukehren. Drum auch die Ablehnung des Parricida, des Kaisermörders, der für den erhofften «system change» mordet und mit dem Tell in seiner «Hütte, wo die Unschuld wohnt», nichts zu tun haben will. «Sehr schweizerisch, nicht?», findet Meret.

Wilhelm Tell, Schauspielhaus Zürich: weitere Vorstellungen bis 28. Mai. schauspielhaus.ch

Auf seine Art ist nun aber auch Milo Raus Tell typisch schweizerisch herausgekommen – als Geschichtslektion mit teils bissigen, teils informativen, gelegentlich provokativen Gegenwarts-Bezügen.

Die «Schattenlinie» aber bleibt unangetastet, jene Grenze zwischen Winter und Sommer, altem Schnee und neuem Grün, damals und heute, die Schauspielerin Karin Pfammatter aus ihrer Walliser Heimat beschreibt. Hier wäre es die Schmerzlinie. Man kommt unversehrt aus diesem Stück, das die Vielzahl an Anspielungen mit wachsender Unverbindlichkeit bezahlt. Das mag auch eine Qualität «made in Switzerland» sein – lieber unversehrt als unversöhnlich.

Die Kraft des Faktischen erfährt am Ende auch Cem Kirmizitoprak: Als nach dem langen Schlussapplaus für das Ensemble auch das vielköpfige künstlerische Leitungsteam auf die Bühne stürmt, ist es mit der Sicht auf den kleinen Mann im Rollstuhl vorbei. Niemand, der ihm eine hohle Gasse bahnen würde. Ihn selber wird das wenig überrascht haben: Auch das Theater ist anno 2022, trotz allen Inklusionsbemühungen und Rütlischwüren, noch nicht für alle gleich barrierefrei.

Cem Kirmizitoprak, Ensemble.

1 Kommentar zu Tell trifft ins Schwarzweisse

  • Thomas Birri sagt:

    „lieber unversehrt als unversöhnlich“: Das nennt sich eine differenzierte Theaterkritik! Danke für diese intelligente und pointierte Einordnung. Lieber ehrlich als höflich.

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