, 14. Dezember 2018
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Theater, in die Wiege gelegt

Theater ist schon für Kleinkinder gut – und erst noch gesellschaftlich relevant. Das erklärte die serbisch-schwedische Choreographin Dalija Acin Thelander, Pionierin des Babytheaters, in Konstanz als Gast der Theatergesprächsreihe «Wie es sich gehört».

Die ersten drei Jahre sind entscheidend für die Entwicklung eines Kindes, darin ist sich die Wissenschaft einig. Die Entwicklung in dieser Zeit ist enorm, und sowohl das Pensum als auch das Tempo von Lernprozessen wird im Laufe des Lebens immer geringer. Staunend beobachtet man als Eltern die kleinen Wesen, die mit jedem neuen Tag etwas Neues können. «Babies sind unglaublich», sagt auch die Choreografin Dalija Acin Thelander. Ihre Performances mit zeitgenössischem Tanz für Babys und Kleinkinder tourten erfolgreich durch Asien, Südamerika und Europa. 2017 realisierte sie ein Auftragswerk für die Königliche Oper in Stockholm.

Kinder haben Sinn für Qualität

«Die Gehirne von Babies rückten in den letzten Jahren in das Zentrum wissenschaftlicher Forschung», erzählt Thelander. Mit erstaunlichen Ergebnissen: Bereits im Alter von ein paar Monaten sind Babies in der Lage, musikalische Stücke nach Qualität zu ordnen – sie hören dem Spiel von Profimusikern konzentrierter und länger zu als dem von Anfängern – oder moralische Urteile zu fällen, indem sie Gegenstände wählen, die sich im Spiel «gut» verhalten. 

Zudem sind Babies in ihrer Aufmerksamkeit nicht fokussiert, sondern nehmen ihre Umgebung ungefiltert wahr. Während Erwachsene sich beispielsweise im Café auf ein Gespräch konzentrieren, hat das Baby gleichzeitig im Blick, was an den Nebentischen passiert, was der Kellner macht, was vor den Fenstern geschieht etc. «Es ist erstaunlich, wie qualifiziert sie sind», so Thelander. «Wer denkt, dass Babies nichts können und nicht begreifen, was um sie herum geschieht, liegt vollkommen falsch.»

Autodidaktisch entwickelte die schwedisch-serbische Choreographin Programme für dieses faszinierende Publikum von zwei bis zwölf Monaten. Selbst Mutter einer mittlerweile 18-jährigen Tochter, begann sie ihre Arbeit intuitiv, die wissenschaftliche Forschung kam nach und nach hinzu. Zu Beginn bot sie halbstündige Performances für Babies an, da sie der Ansicht war, dass sie die Aufmerksamkeitsspanne der Kleinsten nicht überfordern dürfe. «Ein riesiger Fehler», wie sie heute sagt. «Es stellt für die Eltern und Kinder einen enormen Stress dar, wenn sie pünktlich in einer Vorstellung sein müssen. Mal dauert es länger als geplant, das Kind anzuziehen, mal ist die Windel voll, mal schläft das Kind genau dann ein, wenn man das Haus verlassen will. Die meisten Babies haben genau dann angefangen, die Performance zu erleben, wenn sie schon dem Ende zu ging. Das ist kein respektvoller Umgang mit Babies – das ist aber der Grundanspruch an meine Arbeit.»

Wunderwelten gegen die männliche Dominanz

Nun sind ihre Arbeiten anders. Fünf bis sechs Stunden dauert eine Session. Die Eltern können kommen und gehen, wie sie möchten. Die meisten verweilen mehrere Stunden. Die Installationen laden dazu ein. Es sind Landschaften, die aussehen wie aus Träumen.

Thelander arbeitet mit Licht, Musik und Bewegung, aber auch mit Gerüchen und der Haptik. Ihre Inspiration holt sie aus der Natur. Mikroaufnahmen von Pflanzen, Bakterien und Organismen prägen ihre Bühnenbilder in Form und Farblichkeit. Ihr Publikum ist Teil der Installation. Die Babies dürfen die Bühne erkunden, herumkrabbeln und die Elemente anfassen. Mit dem Antrieb der kindlichen Neugierde erforschen sie ihre Umgebung. «Es passiert schon mal, dass ein Tänzer angeleckt wird», so Thelander.

Sie sieht in ihrer Bühnenkonstruktion auch eine politische Komponente. «Traditionelles Theater, das eine klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum hat, bedient die männlich geprägten Zentren im Gehirn, hat also eine patriarchale Ausrichtung. Die Anspielung aller Sinneswahrnehmungen stimuliert auch die weiblichen Zentren.» Darüber hinaus sieht Thelander das Babytheater als gesellschaftlich relevant an: «Hier treffen Menschen aufeinander, die sich im echten Leben nicht begegnen, und sie kommen miteinander ins Gespräch. Ein Austausch entsteht und das ist wichtig.»

Oftmals kommen junge Familien mehrmals in die Vorstellungen, die meist komplett ausgebucht sind. Doch die Finanzierung ist durch ausverkaufte Vorstellungen nicht gesichert. Eine Performance mit drei, vier Tänzern, dem aufwendigen Bühnenbild und der gesamten Theatercrew, die hinter den Performances steht, braucht öffentliche Förderung, die das Projekt mehr und mehr auch erhält.

Ruheoase im Familienalltag

Im Alltag junger Familien ist kaum Platz für eine solche Atmosphäre, wie man sie in den Theaterinstallationen findet. Tausend Dinge sind zu tun. Haushalt und Erwerbsarbeit kollidieren mit der Zeit für die Kinder. Der Tag könnte 48 Stunden haben, die Nächte ebenso, damit wenigstens ein bisschen Schlaf für jeden dabei ist. Dazu gesellen sich endlose Stunden im Sandkasten oder in Kinderzimmern. Monotonie gepaart mit Stress – das Leben mit Kleinkindern geht oft ans Limit.

Die Installationen im Babytheater sind kleine Oasen in diesen Welten. Die Eltern können sich entspannen, das Kind darf erforschen. «Es gibt den Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder neu zu erleben, und auch anders herum ist das der Fall», so die Pionierin des Babytheaters. «Kinder sehen ihre Eltern anders, erlernen neue Gefühle und neue Präsenzen. Nicht selten gibt es bei den Babies einen Entwicklungsschub. Sie drehen sich zum ersten Mal oder machen den ersten Schritt.»

Infos: dalijaacinthelander.com

In der Reihe «Wie es sich gehört» des Theaters Konstanz ist der nächste Termin am 14. Februar 2019 mit Regisseur, Performer und Theaterpädagoge Jonas Egloff, der die B’Bühne in Aarau leitet. Thema: «Wie kommt die Stadt auf die Bühne?»

 

 

 

 

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