, 1. Juni 2021
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Theater St.Gallen: Wer und was kommt nach Signer?

Es ist der einflussreichste Job beim höchstsubventionierten Kulturbetrieb der Ostschweiz: Gesucht wird, per 2023, eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für den St.Galler Theaterdirektor Werner Signer. Das wirft bereits jetzt Wellen.

Seit 1993 ist er an der Spitze des Theaters St.Gallen, davon seit 23 Jahren als «Geschäftsführender Direktor». Und in dieser Zeit hat sich Werner Signer eine so mächtige wie unverrückbare Position erarbeitet. Über Signers Tisch im unscheinbaren Haus der Theaterverwaltung an der Museumsstrasse, ein paar Schritte vom gegenwärtig umgebauten Betonbau des Theaters, gehen Spielpläne, die Dispositionen des Betriebsbüros, Sponsoringverträge, Abotarife, Werbemassnahmen und so weiter. Und natürlich das Budget.

Werner Signer am Klosterplatz, Spielort der von ihm ins Leben gerufenen St.Galler Festspiele. (Bild: Who is who)

Signer ist für fast alles am Haus zuständig – abgesehen vom künstlerischen Programm.

Vom allmächtigen Intendanten zum Triumvirat

Das hat seine Geschichte. Sie beginnt mit Intendanten, die quasi als Alleinherrscher in St.Gallen wirkten – Ulrich Diem (1939 bis 1946), danach K.G.Kachler (1946-1956), Karl Ferber (1956-1966), Christoph Groszer (1967-1972), Wolfgang Zörner (1973-1980) und Glado von May (1980 bis 1992). Auf ihn folgte Hermann Keckeis, der schon nach zwei Spielzeiten wieder gehen musste.

Männer, die in Personalunion den Gesamtbetrieb künstlerisch und administrativ leiten und selber auch Regie führen, mit einer ihnen untergebenen Oberspielleitung und Operndramaturgie: Damit war es nach Keckeis vorbei. An seiner Stelle setzte der Verwaltungsrat eine dreiköpfige Direktion ein: Verwaltungsdirektor Werner Signer, Operndirektor John Neschling und Schauspieldirektor Peter Schweiger. Später, mit der Übernahme des Konzertvereins und damit des Tonhallebetriebs, kam Konzertdirektor Florian Scheiber hinzu.

Das Modell gilt bis heute, doch verstärkte sich die Rolle des «Geschäftsführenden Direktors» im Lauf der Zeit, zementierte sich die Hierarchie zwischen ihm an der Spitze und den künstlerischen Direktionen – nicht zuletzt auch deshalb, weil letztere kommen und gehen. In der ersten Phase ab 1993 war hingegen noch, so wörtlich im Jubiläumsbuch zum 200-Jahr-Jubiläum des Theaters, gleichberechtigt von den «drei Bereichen Management, Konzert und Theater mit je eigener Direktion» die Rede.

Für Werner Signer wird nun auf Ende der Spielzeit 2022/23 ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gesucht. Dies teilt der Verwaltungsrat der Genossenschaft in seiner Medienmitteilung von heute mit. Er hebt zudem dessen Verdienste hervor: «In den 23 Jahren unter der Leitung von Werner Signer wurden für Konzert und Theater St.Gallen wichtige Entwicklungsschritte vollzogen. Dazu gehören das Zusammenführen von Theater und Sinfonieorchester, die Aufnahme der Lokremise als neue Spielstätte sowie die Lancierung der St.Galler Festspiele.»

Die neue Struktur – streng geheim?

Was die knappe Mitteilung nicht thematisiert, ist eine Veränderung der Führungsstruktur. Eine solche befürchteten zumindest Stimmen innerhalb des Theaters: Nominell gesucht werde ein neuer «Geschäftsführender Direktor» – faktisch würden die heutigen künstlerischen Direktionen jedoch zurückgestuft.

Urs Rüegsegger, Präsident des Verwaltungsratsausschusses der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen, bestätigt auf Nachfrage, dass die heutige Struktur in zwei Punkten geändert wird. Zum einen werde formalisiert, dass die neue Person die Gesamtverantwortung für die Institution haben wird – «das bringt es mit sich, dass die künstlerischen Direktionen künftig formell einen Chef oder eine Chefin haben werden». Ihre Arbeit werde sich dadurch aber nicht entscheidend verändern. Offen sei noch, ob neben Oper, Schauspiel und Konzert künftig auch der Tanz als selbständige Sparte fungieren werde. «Das ist für uns denkbar», sagt Rüegsegger.

Die zweite Veränderung umschreibt Rüegsegger so: «Wir suchen eine Person, die idealerweise ihren Hintergrund im Kulturbereich und nicht im Finanzbereich hat.» Das sei wichtig, um dem Theater eine erkennbare künstlerische Handschrift über alle Sparten hinweg zu geben. Ob die Person, wie dies beim traditionellen Intendantenmodell die Regel ist, auch selber inszeniere, lasse die Ausschreibung offen; der Problematik einer solchen Konstellation sei sich der Verwaltungsrat jedoch bewusst.

Genossenschaftspräsident Urs Rüegsegger. (Bild: finews.ch)

Ein weiterer Kritikpunkt, in Abkehr von der bisherigen Praxis bei der Suche nach neuen Leitungspersönlichkeiten am Theater: Es wird keine Findungskommission eingesetzt, die ökonomisches, politisches, aber vor allem auch theaterprofessionelles Knowhow vereinigt. Die Ausschreibung läuft über Inserate sowie über eine Headhunter-Agentur in Zürich.

Die Banker haben das Sagen

Wahlgremium ist der Verwaltungsrat, auf Vorschlag des siebenköpfigen Verwaltungsratsausschusses. Dem Ausschuss gehören drei aktuelle oder ehemalige Banker an, allesamt bei einem der grössten Sponsoren des Theaters tätig, bei der St.Galler Kantonalbank: Urs Rüegsegger (ex-Direktor der KB und danach CEO des Schweizer Börsendienstleisters SIX), Martin Künzler, Leiter Ostschweiz Privat Banking der KB sowie Felix Buschor, 2008 bis 2020 Mitglied der Geschäftsleitung der St.Galler KB. Das ökonomische Schwergewicht verstärkt die Goba-Unternehmerin Gabriela Manser. Die politischen Hauptträger Kanton und Stadt sind mit Regierungsrätin Laura Bucher und Stadtrat Markus Buschor vertreten. Hinzu kommt Matthias Städeli, Jurist und amtsältestens Mitglied des Verwaltungsrats.

Die neue Struktur wirft Fragen auf. Ist eine solche hierarchische Stärkung noch zeitgemäss? Wenn sie es ist und der Verwaltungsrat davon überzeugt ist: Warum wird sie nicht ausdrücklich kommuniziert und zur Diskussion gestellt, bei einem Betrieb, der jährlich von Kanton und Stadt mit mehr als 28 Millionen Franken subventioniert wird? Auch wenn die Wahl richtigerweise in der Hand der Genossenschaft liegt: Transparenz über solche weitreichenden Entscheide wäre wünschbar – und eine offene Diskussion stärkte die Legitimation der Weichenstellung zusätzlich.

Jonas Knecht: Verlängerung nur um ein Jahr

Ein Indiz, dass das neue Modell tatsächlich die Chefposition mit mehr Kompetenzen ausstatten soll, ist die Tatsache, dass der Vertrag von Schauspieldirektor Jonas Knecht vor kurzem entgegen den Gepflogenheiten nicht um weitere drei, sondern nur um ein Jahr bis Ende der Spielzeit 2022/23 verlängert worden ist. Damit endet Knechts Engagement zeitgleich mit dem Abgang von Werner Signer und wird der Weg frei für den künftigen neuen Chef, eine der Leitungsstellen sofort neu zu besetzen – ausser er oder sie arbeitet mit dem jetzigen Schauspielchef weiter. Kommuniziert wurde dies bisher nicht.

Urs Rüegsegger bestätigt: Der Wechsel schaffe für den neuen Mann oder die Frau an der Spitze die Möglichkeit, das Leitungsteam nach seinen oder ihren Vorstellungen zu ergänzen. Nach heute geltendem Reglement werden die künstlerischen Direktionen jeweils aufgrund des Vorschlags einer Findungskommission vom Verwaltungsrat gewählt.

Schauspieldirektor Jonas Knecht. (Bild: Hannes Thalmann)

Warum mehr Hierarchie statt ein kooperatives Modell, wie es heute auch in der Privatwirtschaft verbreitet ist? Diese Diskussion habe im Vorfeld im Verwaltungsrat sehr breiten Raum eingenommen, sagt Rüegsegger. «Wir nehmen für uns in Anspruch, bereits heute in Konzert und Theater St.Gallen flache Hierarchien mit hoher Eigenverantwortung zu haben. Das ist mit ein Grund für den hohen Eigenwirtschaftlichkeitsgrad, der das Theater St.Gallen auszeichnet.» Für die Signer-Nachfolge sei kein Anhänger steiler Hierarchien gefragt, sondern ein Moderator oder eine Moderatorin als «Sparringpartner» für die künstlerische Leitung.

Mit dem höchst anspruchsvollen Leistungsauftrag, den das Theater gegenüber dem Kanton und dem Publikum zu erfüllen habe, wäre eine kooperative Leitungsstruktur aber schwierig umzusetzen. Gesucht werde eine Person, die die Verantwortung tragen könne, diesen Leistungsauftrag zu erfüllen in einem sich stark wandelnden Umfeld, was Demografie, Publikumserwartungen, Angebotskonkurrenz, Digitalisierung und anderes mehr betrifft.

Das ist für Rüegsegger der eine Kern des Stellenprofils. Und der andere: «eine inspirierende Persönlichkeit, die ein kreatives Team führen und ihm Impulse geben kann».

Basel setzt auf flache Hierarchien, Zürich auf Teamführung

Auf das sich verändernde gesellschaftliche Umfeld reagieren andere traditionsreiche Theaterhäuser gegenteilig: mit einer Verflachung der Hierarchien. So hat der Verwaltungsrat der Theatergenossenschaft Basel die Stelle der kaufmännischen Direktion abgeschafft und installiert ab dem heutigen 1. Juni eine kollektive Geschäftsführung. Statt nur Intendant und kaufmännische Direktion sitzen in der höchsten Entscheidungsebene neu auch die Verantwortlichen für Personalwesen, Kommunikation und Verkauf und die stellvertretende künstlerische Intendantin.

Die Ansprüche des Publikums seien stark gestiegen, schreibt die Basler Theatergenossenschaft. Lokales Engagement und Netzwerke sowie energiebewusstes Produzieren würden genauso dazu gehören wie digitalisiertes und ganzheitliches Marketing, Gastspiele sowie Partnerschaften mit anderen Kulturinstitutionen und der Freien Szene. Motivierte und engagierte Mitarbeitende hätten zudem berechtigte Erwartungen an Arbeitsstrukturen, Mitgestaltung und eine teambasierte Betriebskultur.

«Die sehr hierarchische Leitungsstruktur des Theaters ist nicht mehr zeitgemäss», schreibt Michael Willi, Präsident des Verwaltungsrates der Theatergenossenschaft Basel. Eine teamorientierte und breiter abgestützte Leitung werde eine Betriebskultur schaffen, in der Zusammenarbeit und das gemeinsame Tragen von Verantwortung gefördert werde.

Ein anderes Beispiel ist das Schauspielhaus Zürich. Es wird seit zwei Jahren von einem Führungsduo geleitet; dieses bezieht Regisseur:innen und das Ensemble stark in die Arbeit mit ein. Das Theater Marie in Aarau, mit dem das St.Galler Schauspiel für die Produktion Schleifpunkt diesen Frühling zusammengearbeitet hat, funktioniert ebenfalls, wie viele freie Theatergruppen, strikt unhierarchisch.

St.Gallen setzt auf «Leadership»

Ganz gegenteilig tönt es auf der Website der Agentur, die bei der Suche nach dem neuen Chef oder der neuen Chefin helfen soll. Für die jeweiligen Auftraggeber «…identifizieren wir vielversprechende Potenzialträger für grosse Leadership-Rollen», heisst es dort. Und speziell auf den Kulturbereich zugeschnitten: «Im öffentlichen und sozialen Sektor zeichnet sich ein Paradigmenwechsel hin zu einer stärkeren Professionalisierung und einer modernen Führungskultur ab. Strategische Zielvorgaben, Leistungsorientierung und ökonomische Effizienz sind dabei die Schlagworte. Hintergrund sind vor allem knappe Kassen und ein schärferer Wettbewerb.»

«Leistungsorientierung und ökonomische Effizienz»: Im besten Fall bringt der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Werner Signer darüber hinaus auch noch ein paar weitere Qualitäten mit: Verständnis für Theater als Spiegel der Gesellschaft zum Beispiel. Ein Flair für Menschen, nicht nur für Zahlen. Und das Bewusstsein, dass das Theater St.Gallen zwar das Flaggschiff der Ostschweizer Kultur ist – aber nicht allein auf hoher See. Das Theater braucht die Region, so wie die Region das Theater braucht.

Szenenbild aus «Der Prozess» nach Franz Kafka mit Schauspiel und Puppenspiel. (Bild: Tanja Dorendorf / Theater St.Gallen)

In den letzten Jahren hat allen voran Schauspieldirektor Jonas Knecht den oft beklagten «Graben» zwischen der Region und dem Theater mit innovativen Formen zugeschüttet. Jetzt wird ausgerechnet er zum Opfer der neuen Struktur. Theaterdirektor Werner Signer hatte sich 2015, bei der Bekanntgabe der Wahl des St.Galler Jonas Knecht, so zitieren lassen: «Mit Jonas Knecht ist es uns gelungen, einen formal experimentierfreudigen und für genreübergreifende Theaterformen offenen Theaterschaffenden zu gewinnen.»

Bleibt zu hoffen, dass dieses Denken auch unter neuer Führung erhalten bleibt, im dannzumal wiedereröffneten Theatergebäude, in der Lokremise – und in der Stadt und der Region.

Die heutige Mitteilung des Verwaltungsrats ging gleichzeitig wie an die Medien an die Belegschaft des Theaters. Dort sei eine intensive Diskussion im Gang, sagt ein Mitglied der Belegschaft auf Anfrage; man bereite eine Stellungnahme an den Verwaltungsrat vor.

 

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