, 28. Januar 2022
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Tierische Prozession

Die St.Galler Stiftsbibliothek ist momentan ein Zoo. Die Künstlerin Marlies Pekarek hat tierisch-menschliche Figuren aus Wachs oder Gips in die Bücherregale geschmuggelt. Die Arten kreuzen sich wie wild, die Kulturen ebenso.

«Parade» mit der römischen Löwin. (Bilder: Christa Schaffert)

In einem der Regale tummeln sich ein Hase mit Eselskopf, ein Murmeltier mit Hasenkopf, ein Gimpel mit dem Kopf einer Madonna. Anderswo tragen Terriers den Kopfschmuck der ägyptischen Nofretete, aus einem Reiherschnabel ragt das Gebiss eines Krokodils, ein Wolf trägt Stiefel, der Körper eines Kentaurs ist durch ein Bambi ersetzt. Man wird nicht fertig mit Schauen und manchmal auch mit Schaudern.

Ihr seltsames Bestiarium nennt die St.Galler Künstlerin Marlies Pekarek «Paraden und Prozessionen». Rund um den barocken Prunksaal der Stiftsbibliothek herum hat sie jeweils auf Augenhöhe die Bücher aus den Regalen geräumt und durch Tierfigürchen ersetzt.

Bücher und Mischwesen hinter Gittern: Blick in die Stiftsbibliothek.

Weiss oder schwarz und manchmal beides, aus Gips, aus Wachs, Seife oder Silikon gegossen, zieht die gespenstische Prozession durch den Raum, halb Arche Noah, halb Alpaufzug – einmal paradiert ein ganzes Rudel Wölfe vorbei, der Kapitolinischen Wölfin mit Romulus und Remus nachgebildet, mitten drin Rotkäppchen als ihre Hirtin.

Aus «Low» wird «High»

Marlies Pekarek interessieren solche Transformationen und Verrückungen. Legenden, Märchen, Mythen, Überlieferungen aller Art sind das kulturgeschichtliche Material, aus dem sie ihre Kreationen schöpft. Das andere Material ist ganz konkret: Nippes, Souvenirs, Kitschgegenstände, die sie von überall her zusammenträgt und neu zusammensetzt.

Das können Holzschnitzereien aus Brienz sein, britische Kaminhunde aus Keramik, ägyptische Pharaonen oder Madonnen aus Einsiedeln. Meist stammten die «Originale» aus billiger Massenproduktion, ihr kultureller Kontext oder ihre archaische Fetisch-Funktion sei verloren gegangen, sagt die Künstlerin. Indem sie die Vorlagen für eine Neuinterpretation nutzt, werden sie mit Bedeutung neu aufgeladen, schaffen unerwartete Bezüge und erhalten wieder die Würde eines Originals zurück.

Hirschgeweih trifft Nofretete. (Bild: Tobias Garcia)

Ein Prozess, der nicht ohne Tücken ist, wie Marlies Pekarek sagt. Sie kennt das Misstrauen, das ihren Sujets manchmal entgegengebracht wird, weil sie aus kommerziellen oder touristischen und damit kunstfernen Alltagskontexten stammen. Zuletzt zeigte sie in Schaan Ende 2021 «Schaufensterkunst». Und wohl das bekannteste Beispiel dieser grenzgängerischen Position sind Pekareks Madonnen aus Seife.

«Madonnas, Queens and other Heroes» hiess eine Publikation, die sie zusammen mit der englischen Zeichnerin Geraldine Searles 2010 realisierte. Marlies Pekarek kenne keine Berührungsängste, schrieb Roland Wäspe, Direktor des St.Galler Kunstmuseums, damals im Buch: «Der Graben zwischen High und Low ist zugeschüttet.»

Marlies Pekarek und die ägyptische Barke im Vorraum der Stiftsbibliothek. (Bild: Su.)

Dazu passt, dass Marlies Pekarek ihre Madonnen nicht in einer konventionellen Ausstellung, sondern in einem «Klosterladen» zeigte. Diesem liess sie nach einem Kairoaufenthalt 2016 einen «Ägyptischen Basar» folgen – das vollständig aus Seife gegossene Egypt Boat, schwer beladen mit mythologischen Figuren, erinnert daran und weist jetzt im Korridor den Weg zur Stiftsbibliothek.

Kewpie kommt zu neuen Ehren

Mit ihrem «Low»-Zugriff ist Pekareks Kunst einerseits direkt verständlich, spricht unmittelbar an und kann auch ohne Kenntnis der kulturgeschichtlichen Referenzen bestaunt werden. Andrerseits interessierten sie aber genau diese Kontexte, aus denen die Objekte herstammen, brennend, sagt Marlies Pekarek. Typisch dafür ist ein Figürchen, das in unterschiedlicher Kombination immer wieder auftaucht in der tierischen Prozession: Kewpie.

Kewpie in geflügelter Gesellschaft.

Das glatzköpfige Püppchen, das die US-Zeichnerin Rose O’Neill erfunden und nach dem römischen Gott Cupido benannt hat, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst in Deutschland produziert, gelangte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Japan und brachte es dort als Maskottchen der japanischen Kewpie-Mayonnaise zu grosser Popularität. Jetzt ist der Kewpie-Kopf auf Tierkörpern in einen wieder ganz anderen, konsumkritischeren Kontext geraten.

Neben solchen Pop-ups aus der Alltagswelt hat sich die Künstlerin aber auch von Tierdarstellungen in mittelalterlichen Schriften inspirieren lassen. Ihnen ist die aktuelle Ausstellung in der Stiftsbibliothek gewidmet – auf Bordüren in alten Handschriften hat Pekarek Vögel, ein  Eichhörnchen oder den Fuchs mit der Gans im Maul entdeckt und in ihre «Prozession» übernommen, die sich ihrerseits wie eine Verzierung um die ganze Bibliothek herum ausdehnt.

«Tiere. Fremde und Freunde», bis 6. März, täglich 10-17 Uhr, Stiftsbibliothek St.Gallen

Katalog, hrsg. von Franziska Schnoor, Verlag am Klosterhof St.Gallen 2021, Fr. 32.90

stiftsbezirk.ch

Tiere, darüber gibt die ausführliche Begleitpublikation der Stiftsbibliothek Auskunft, waren einerseits seit Aristoteles geringgeschätzt, weil ihnen die menschliche Vernunft fehle, und wurden häufig dämonisiert. Ob sie eine Seele haben, war ein religiöses Dauerthema. Andrerseits verehrte man sie als Krafttiere. Die Evangelisten sind von den Symboltieren Löwe, Adler und Stier begleitet. Und in einer mittelalterlichen Schrift findet sich das Rezept einer «Löwenarznei»:  wirksam gegen «Trugbilder, Dämonen, Ohrenleiden, Schlangenbisse, Empfängnis, Erkältung, Zahnweh oder Augenleiden».

Eine solche umfassende Heilwirkung hat das Pekarek’sche Bestiarium vielleicht nicht. Aber es öffnet die Augen und feiert mit seinen fantastischen Mischwesen die Kunst der unablässigen Verwandlung.

 

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