, 27. Februar 2015
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Tivoli goes transcendental – Freiraum verschwindet

Der vielleicht authentischste Offspace St.Gallens schliesst seine Türen per Ende März. Ein himmeltrauriger Abgesang und eine wehmütige Würdigung.

Beim ersten Hinhören ist es zumindest eine weitere Tragödie im nicht übermässig grossen Feld der Freiräume St.Gallens. Die Liegenschaft am Tivoliweg 5 wechselte den Eigentümer, einhergehend damit muss das stadtbekannte Variété Tivoli weichen. Laut Informationen der Mieterin und Variété-Direktorin Nadine Wismer will der neue Besitzer schnellstmöglich zu bauen beginnen, damit dürfte eine kulturelle Nutzung zu vergleichbaren Konditionen unmöglich werden.

Mit der Kündigung verliert die Alte Mühle am Wiesenbach deren Seele. Das Tivoli war Stube, Museum, Werkstatt, Proberaum, Musikschule, Wohnung und regelmässig die Bühne, die der Stadt zuvor fehlte, und bald – schmerzlich – wieder fehlen wird. Aber das Tivoli war auch eine Philosophie, eine Ästhetik, wenn auch eine prekäre: Nunmehr sechs Jahre arbeitete die Künstlerin unermüdlich für das Kulturleben, niemals ging es ihr um Profit, einzig interessierte sie «Wert» so ganz fern vom Ökonomischen; die sozialen, kulturellen Inventionen, die unsere Existenzen schlussendlich überhaupt erst interessant machen.

Eine Wechselausstellung ohne solche Betitelung trug viel zum Ambiente bei: unverhofft findet man sich zwischen Wismers Malerei, Skulpturen, Objets trouvés und originalgraphischen Plakaten staunend gefangen auf einer faustrollschen Expedition. Gleichermassen auf der Abfahrt in eine andere Welt wie ankommend von irgendwo liess das Tivoli die Vernunft kapitulieren und das Wahnsinnige, Anormale brillieren – unentschieden ob Beklemmung oder Euphorie obsiegen wird bei der Rezeption dieser ungewohnten Freiheit. Dieser zu entkommen war wohl die einzige Unmöglichkeit in diesem so andersartigen Raum.

Die radikale Unbestimmtheit bedeutet der Kunst einen maximal fruchtbaren Boden, wobei diese Metapher fälschlicherweise einen festen Halt suggeriert, dabei sollte aber eher an ein wellenreiches Substrat gedacht werden: durchaus tragend, aber referierend an die klimatische Umgebung und demnach keineswegs ungefährlich. Doch Sicherheitsdenken ist der Kunst ohnehin spinnefeind.

Unzählige Artist_innen bespielten die Tivolibühne und schufen in Kommunikation mit dieser raren Umgebung Unvergessliches: magische Lieder-, Musik-, Tanz-, Theater-, und (natürlich) Zaubereiabende. Schmelztiegel, Kulminationspunkt und Manifestation dieser schieren Vielheit waren die verrückten Variété-Abende, bei welchen ohne falsche Rücksicht Kategorien und Grenzen gesprengt wurden, regelmässig auch die zwischen Act und Publikum.

Eine Ära geht also zu Ende. Den Heimatlosen geht mit dem Tivoli ihre Zuflucht verloren, den Narren ihr Schiff, der Poesie ein Herz und der Stadt einer ihrer kreativsten und wichtigsten Orte. Beruhigend ist daran einzig, dass die Künstlerin «Nada» künftig ohne fixe Ortsgebundenheit wirken kann. Eine Institution verschwindet, wann und wo und für wie lange sich das Raum- und Zeitschiff wieder materialisieren wird, davon darf man sich überraschen lassen.

 

Der letzte Variété-Abend findet als «Grande Finale» am Samstagabend statt.
Das Märzprogramm ist hier zu finden.

Bild: Nadine Wismer

1 Kommentar zu Tivoli goes transcendental – Freiraum verschwindet

  • jeannot Haupt sagt:

    alles wird durch Habgier und Geldgeilheit zu Grunde gehen,
    solange in den oberen Etage Millionen gemacht werden und damit viel Kultur wegradiert wird um noch mehr Millionen zu
    machen Geldgeile Schweiz . So schade für das Tivoli wehmütig denke ich an die schönen Stunden erlebt hatte jeannot

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