, 3. März 2020
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Toggenburg matters

Was hält eine Community zusammen? Was kann in Lichtensteig noch besser werden und wie geht es 2035 im «Städtli» zu und her? Begegnung mit einem Ort im Aufbruch.

Lichtensteig und seine Kreuzung – wo Waren, aber auch Ideen aus aller Welt ein- und ausgekarrt wurden. (Bild: Thi My Lien Nguyen)

«Auto, ledig, sucht…» steht auf dem Postauto nach Dietfurt, das am Bahnhof Lichtensteig wartet. Der Chauffeur winkt den Leuten zu, die aus dem Zug aussteigen, auch mir, obwohl ich hier fremd bin. Der Lichtensteiger Bahnhof liegt auf Wattwiler Boden, etwas unterhalb des mittelalterlichen Städtlis, über dem ein auffälliger brutalistischer Bau thront, die katholische Kirche. Der Weg hinauf führt über die Eisenbahnbrücke, unter der ein grosszügiger Spielplatz liegt, man kommt an Antifa- und Klimastreik-Stickern vorbei und an einem Infoblatt des «Städtli-Clean-Teams», das die Raucher daran erinnert, dass ihre Sucht auch für die Umwelt schädlich ist und sie ihre Stummel bitte korrekt entsorgen sollen.

Gar nicht so übel auf den ersten Blick. Als Stadtbewohnerin, auch wenns nur Klein-St.Gallen ist, hat frau natürlich Vorurteile gegenüber «dem Land». Dort wirds eng in den Köpfen und Herzen. Die Abstimmung gegen im Februar hat es einmal mehr gezeigt: Das Toggenburg ist, ähnlich wie das flache Chancental auf der anderen Kantonsseite, ein Unland, siehe zum Beispiel die Resultate in Moslig (Mosnang) oder Bütschwil-Ganterschwil. Hier regieren die Betonköpfe, die Ewiggestrigen, die sturen Böcke und der Toni. Immerhin: In Lichtensteig haben die Leute mehrheitlich ein «Ja zum Schutz vor Hass» in die Urne gelegt.

Jetzt, am Valentinsfreitag, nach einer prallen Woche in Lichtensteig mit vielen lohnenden Begegnungen und Entdeckungen, sitzen wir im «Soul Kitchen», einem der Stammlokale der hiesigen Jazztage, auf dem Sofa und hören Live-Musik von einem Künstler aus Ungarn. Er spielt Metallicas Nothing Else Matters in einer Akustik-Version und ich bin fast ein bisschen wehmütig, dass diese Woche, in der nichts als Lichtensteig gezählt hat, nun vorbei ist.

 

Wir sind schon am Vorabend hier verhockt, der sardische Rotwein und die guten Gespräche waren schuld. Vorhin ist ein Gast mit einer Rose reingeschneit und hat der Barkeeperin Alexandra damit ein breites Lachen ins Gesicht gepflanzt. Im Kronen-Saal über dem «Soul» halten die Toggenburger Jäger gerade ihre Hauptversammlung ab – alle im schönsten Janker, so heisst die grüne Jagdtracht, die Frauen im Dirndl. Draussen beim Rauchen trifft man sich. Einer von ihnen bietet mir gutgelaunt ein Kägifret an. «Ihr Frauen habt ja so gern Süsses, gäll!» Er erklärt mir noch eine ganze Weile, wie «die Frauen» so ticken.

Ganz so arg wie eingangs beschrieben waren meine Vorurteile nicht. Auch in sehr urbanen Gegenden hausen Betonköpfe und sture Böcke. Zudem müssen wir nicht mehr in Tsüri oder Basel leben, um nah an der Welt zu sein. Wir müssen auch nicht einsam auf einer Alp vor uns hinbauern, um uns abgeschieden und in Ruhe gelassen zu fühlen. Die Welt ist überall und nirgends, so auch im Toggenburg. Hier brauchen gewisse Dinge einfach etwas länger.

Marktort und Ideenhort

Anfang Woche habe ich Roland «Waldi» Walther getroffen. Er ist im Solothurnischen aufgewachsen, hat in Basel studiert und ist nach diversen Stationen 2010 mit seiner damaligen Partnerin von Salmsach nach Lichtensteig gezogen. 32 Jahre hat er im Suchtbereich gearbeitet, zehn Jahre lang die Alkoholtherapiestation am Spital Wattwil geleitet. 2016 hat er sich frühpensionieren lassen und die Psychiatrische Spitex gegründet, einen mobilen Betreuungsdienst für die Region. Ausserdem ist Waldi Gemeinderat und Kulturminister von Lichtensteig, nebst anderen Projekten. Eines davon ist die KISS, die Nachbarschaftshilfe Toggenburg.

Roland «Waldi» Walther fühlt sich im «Soul Kitchen» zuhause. (Portraits: Sascha Erni)

«Lichtensteig ist einfach geil», sagt Waldi. «Die Arbeitsumgebung passt, die Netzwerke funktionieren und der Städtli-Groove ist super. Hier ist man etwas liberaler und sozialer als im übrigen Toggenburg. Das hat auch mit der Geschichte zu tun.»

Wir stehen auf der Kreuzung mitten in Lichtensteig, die das Städtli zu dem gemacht hat, was es lange war und wieder werden will: ein weltoffener, prosperierender Marktort, wo Waren, aber auch Ideen aus aller Welt ein- und ausgekarrt wurden. Das Wegkreuz existiert seit dem 13.Jahrhundert. Es verbindet Lichtensteig mit dem Fürstenland, mit St.Gallen und Appenzell, mit dem Rheintal und dem Zürcher Oberland.

Die stürmische Sabine fegt auch durch Lichtensteig, aber Waldi scheinen Wind und Graupel nichts auszumachen. Mit offener Lederjacke und einem «Held der Arbeit»-T-Shirt führt er mich geschichtskundig durch den Ort, vorbei an der 1402 gegründeten ersten Schule, vorbei am «Löwen», der Stammbeiz des Weiberhelden und Deserteurs Ueli Bräker, vorbei an der Spanischen Weinhalle, am Goldenen Boden und an den pompösen Häusern im Städtli mit ihren Lukarnen, wo man früher die Waren per Seilzug hinauffugte, da die Keller zu feucht waren für die Lagerung. Wir sehen uns auch das erste Spital in der Region an. Es wurde direkt in die Stadtmauer gebaut, was ungewöhnlich ist für die damalige Zeit, da man die Armen und Kranken lieber auf Distanz hielt. Im 19.Jahrhundert wurden hier die ersten Operationen am offenen Herzen ausgeführt.

Lichtensteig war eine Gründung der Grafen von Toggenburg. Diethelm der Erste war ein armer Graf, konnte sich nur einen Wohnturm leisten, keine Burg. Bedienstete hatte er aber, und diese brauchten auch Wohnraum – so entstand um 1228 die Siedlung. Sein Sohn Diethelm der Zweite war wohlhabender und baute 1270 die «Toggenburg» auf der Wasserfluh. Er war ein weitsichtiger Graf, erkannte die Bedeutung des Wegkreuzes als Warenumschlagplatz, und so erhielt Lichtensteig um 1400 von Graf Donat von Toggenburg das Stadtrecht, welches auch das Marktrecht, eine Gerichtsbarkeit, Zölle und eigene Münzen mit sich brachte. Lichtensteig wurde zum blühenden Marktort, vor allem Baumwolle, Leinen, Getreide und Schmalz wurden gehandelt.

Mit der Industrialisierung um 1870 kam auch die Eisenbahn ins Toggenburg. Sie wurde von spanischen Gastarbeitern gebaut, und da die jungen Chrampfer abends oft Heimweh hatten, gründete ein gewisser Herr Gomez kurzerhand die Spanische Weinhalle, eine Mini-Heimat, wo es importierten Wein, Musik und Mandarinen gab. Später hat sich die Industrialisierung ins Tal verlegt, doch der Markt ist in Lichtensteig geblieben. Bis 2005 gab es hier noch den Kalber- und Viehmarkt. In dieser Zeit hatte es im Ort noch etwa 40 Beizen. Tagsüber verkauften die Bauern ihre Tiere, nachts haben sie getrunken. Heute gibt es in Lichtensteig nur noch etwa sieben bis zehn Beizen – «je nach Definition», wie Waldi sagt. Etwa die Hälfte davon wird von Frauen geführt.

Wege aus der Durststrecke

Diese geschrumpfte Beizenkultur ist auch eine Folge des Niedergangs der Toggenburger Industrie, der Lichtensteig und der ganzen Region in den letzten Jahrzehnten ordentlich zu schaffen machte. Gemeinsam will man diese Durststrecke nun überwinden. Zum Beispiel im Rathaus für Kultur, das auch die Dogo-Residenz für Neue Kunst samt Kunstschule für die Kleinen beherbergt. Der Atelier- und Veranstaltungsort im ehemaligen Lichtensteiger Verwaltungsgebäude, der viele nationale und internationale Kunstschaffende anzieht, ist ein Glücksfall für die Region und floriert, nicht nur wegen der drei Meter hohen Palme im Eingangsbereich. An die Eröffnung vor einem Jahr kamen über 300 Gäste, am 7. März wird das Einjährige gefeiert.

Ich treffe Sirkka Ammann und Marcel Hörler in der grosszügigen Rathaus-Stube. Sirkka ist in Wattwil aufgewachsen, Marcel im ausserrhodischen Stein. Beide wohnen in Zürich, pendeln aber mehrmals pro Woche nach Lichtensteig – «weil es wichtig ist, ab und zu rauszukommen und der Aussenblick immer gut tut».

7. März, 19 Uhr: Ein Jahr Rathaus für Kultur, mit Znacht, Plakatausstellung und Musik von Daif, MoreEats, den KulturKonsumenten und DJ Nexus

20. März, 21 Uhr: Slamlesung «aus dem Leben von Dominik Muheim», Rathaus Stube Lichtensteig

27. März, 21 Uhr: Dogo Talks #4 – Reden über Kunst, 19:15 Uhr, Projektraum Rathaus für Kultur, Konzert Elio Ricca, Rathauskeller

Dogo Kunstschule: jeden Dienstagabend, 16:30 bis 18 Uhr

rathausfuerkultur.ch
dogoresidenz.ch

Apropos Aussenblick: Von März bis Juni 2019 war Julianna Johnston aus Baltimore in der Dogo-Residenz zu Gast. Ihre Installation [H.E.R.D.]: an educational tool ist aus einer Reihe von Besuchen in der Schafzucht von Franz und Silvia Ruoss in Wattwil hervorgegangen. Sie war oft mit Franz unterwegs, filmte seine Schafe und liess sich von ihm ihre Charakterzüge erklären und wie er die einzelnen Tiere unterscheidet. Daraus ist eine Art poetisches Gesichtserkennungssystem für Schafe entstanden. Franz kam voller stolz zur Vernissage und auch an die anderen Events, wo Julianna involviert war.

Das Rathaus und die Residenz sind eine Folge des Projekts Arthur Junior, das früher an wechselnden Orten in der Region Kunstprojekte auf die Beine gestellt hat. «Das war super», sagt Marcel, «aber wir wollten nicht ständig auf Wanderschaft sein». Die Gruppe träumte von einem fixen Haus für Kunstschaffende und begann zu suchen. «Wir haben uns etwas Abbruchmässiges vorgestellt, im kleinen Stil», sagt Sirkka und lacht. «Als uns Stadtpräsident Mathias Müller dann das ehemalige Rathaus angeboten hat, waren wir zuerst etwas erschlagen, dachten dann aber grösser.» Eine Win-Win-Situation: Die Kunst bekam eine offene, niederschwellige Plattform und die ohnehin finanzschwache Gemeinde musste das Haus nicht teuer umbauen.

Ständig zwischen Zürich und Lichtensteig: Sirkka Ammann.

Zu Beginn mussten die Rathäusler trotzdem Überzeugungsarbeit leisten. Es gab Gegenwind, Fragen und auch böse Mails. Sinngemäss: Ich kann dieser ganzen Kultur nichts abgewinnen, es hat sogar Hunde in dieser Rathaus-Stube, das ist mir zu ungepflegt und wenn das Kultur sein soll, verstehe ich nichts davon. Darum komme ich gar nicht erst vorbei.

Die Rathaus-Clique, bestehend aus Sirkka, Marcel, Hanes Sturzenegger, Maura Kressig, Fabian Müller, Pit Lewalter und Maurin Gregorin, hat sich diese Spitzen nicht allzu fest zu Herzen genommen. «Die Leute können es blöd finden, aber immerhin wird jetzt über Kunst gesprochen», sagt Marcel. Zudem habe langsam ein Normalisierungsprozess stattgefunden, weil man laufend Kunst produziere, zeige und auch den Diskurs suche. «Und mittlerweile sind die Lichtensteiger echt stolz aufs Rathaus», ergänzt Sirkka. «Es ist ein Symbol für den Aufbruch und den Willen, die Zukunft mitzugestalten. Hier haben wir Möglichkeiten, die man anderswo nicht hat, weniger Hürden. In Zürich würde mir niemand das ehemalige Rathaus anbieten und sagen: ‹Los, mach!›»

Ganz so einfach ist es aber nicht: Die Rathäusler müssen jedes Jahr von Neuem Geld beschaffen, beim Kanton, der Gemeinde und bei Stiftungen anklopfen. Das Rathaus hat ein Jahresbudget von knapp 150’000 Franken, Dogo rechnet mit 127’000 Franken. Für die Zukunft wünschen sie sich darum längerfristige Finanzierungsstrategien, weniger Abhängigkeiten und mehr Austausch mit der Bevölkerung. Und am liebsten: jemanden aus dem Dorf, der oder die auch eine Residency machen will bei Dogo. Sirkka und Marcel hoffen, dass Dogo dereinst zu einer wichtigen Adresse in Sachen Nachwuchsförderung der Schweizer Kunstszene wird und die Dogo Totale, die grosse Jahresausstellung, ein fixer Termin im nationalen Kunstkalender wird. Das Rathaus soll, wie das Palace in St.Gallen, zu einem etablierten Kulturzentrum in der Ostschweiz heranwachsen.

Abwanderung und Vorurteile

Später am Abend treffe ich Jürg Stauffer von der Musikgesellschaft Lichtensteig (MGL). Eigentlich wollten wir ins Café Huber mit dem ominösen Aquarium und dem lustigen Wifi-Passwort, aber es hat schon geschlossen, also geht es zurück ins «Soul», wo wieder einige Jäger vor der Tür stehen und Stumpen rauchen. Man kennt sich, man grüsst sich. Auch mich, denn ich war am Nachmittag schon am Fell- und Pelzmarkt in der Kalberhalle. Dort konnte man Fuchs- und Rotwildfelle in rauen Mengen kaufen, aber auch Jagdausrüstung, Dörrfrüchte oder Murmelifett. Und natürlich Bier und Wein, damit es sich ringer tanzen lässt zu den Klängen der Gupfbuebe Unterägeri.

Die Deko der Kalberhalle war eher überraschend, denn der Jägermarkt fiel genau in die Fasnachtszeit und an den Wänden hingen überall Plakate zum Motto «All Stars»: Super Mario, Fussballspieler, Filmstars. Die Präsidentin der Fasnachtsgesellschaft ist übrigens auch eine Frau, und wie Waldi sagt: «eine richtige Macherin, die gefühlt nie schläft.»

Jürg spielt Trompete und ist seit zwei Jahren Präsident der MGL. Aufgewachsen ist er im Fürstenland, in Lenggenwil. Seit 15 Jahren lebt er mit seiner Familie zwischen Lichtensteig und Steigrüti. Er leitet die Gefängnisschreinerei im Massnahmenzentrum Bitzi, trägt ein Beret und ein helles Ziegenbärtchen, bezeichnet sich als «Mann der Mitte». Sein Verein hat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie der Rest der Region: Abwanderung und Vorurteile. Oder wie Jürg sagt: Missverständnisse.

Aktuell hat die MGL 28 Aktivmitglieder und einige freie – was zu wenig ist für eine Harmonie. Früher war das anders. Um die Jahrtausendwende waren die Lichtensteiger DIE Musikgesellschaft im Toggenburg, hatten zeitweise fast 50 Mitglieder. Heute dringend gesucht: tiefes Blech, Klarinette, Saxophon, Horn – ein bisschen von allem. Und Nachwuchs. Probetag ist der Freitag.

«Wir kämpfen mit dem Image», sagt Jürg. «Die Leute denken oft, Blasmusik sei nur Bum-Tätärä, aber bei uns hat sich viel verändert, auch dank unserem Dirigenten Urs Weiland. Wir machen heute beides: das Traditionelle – Marschmusik, Polkas und so weiter –, aber wir spielen auch viele moderne Stücke, zum Beispiel von Queen.» Um wieder neue Mitglieder zu finden, will die MGL ihren «Killerinstinkt» reaktivieren, «wieder aktiver rausgehen und an möglichst vielen geeigneten Orten spielen». Zum Beispiel unter den Städtli-Arkaden am Lampionumzug Anfang März, am langen Tisch der «Wilden Weiber» im Juni oder auf der Ständchen-Tournee vor und nach den Sommerferien, wo die Band jeweils betagte Lichtensteigerinnen und Lichtensteiger in der Umgebung besucht, mit ihnen grillt und zusammenhockt. Zudem stehen 2020 der Kreismusiktag in Mosnang an und – im jährlichen Wechsel mit dem Kirchenkonzert – ein Unterhaltungskonzert.

Jürgs Wunsch für die MGL ist bescheiden: «Im Minimum den Stand halten.» Es brauche wieder neue Mitglieder, klar, aber diese Entwicklung müsse auch nachhaltig sein. «Es darf den Verein nicht zerreissen. Darum müssen wir sowohl bei den Jungen investieren als auch bei den älteren Semestern.» In der Jugendarbeit ist der Verein bereits auf gutem Weg. Er kann aus der Jugendmusik Lichtensteig und Umgebung rekrutieren, arbeitet eng mit der Musikschule Toggenburg zusammen und bildet auch selber Junge aus.

Zukunft in den Kinderschuhen

Mit ein bisschen Geduld wird sich Jürgs Nachwuchsproblem vielleicht lösen. Am Donnerstagnachmittag im Familienzentrum Lichtensteig (FazLi), das sich neben der Mütter- und Väterberatung im Dachstock der Gemeindeverwaltung befindet, trifft man jedenfalls ganz viele Kids. Ab 15 Uhr findet hier die Fasnachtstauschbörse statt. Viel getauscht wird zwar noch nicht, dafür bauen die Kleinen fleissig Hütten, spielen Verkäuferlis, Verkleidis, Pöstlerin oder verkriechen sich in der Einbau-Höhle ganz hinten im Spielzimmer Nummer zwei.

Eröffnet wurde das FazLi im Januar 2018, die Räumlichkeiten werden von der Gemeinde zur Verfügung gestellt: ein kostenloser Ort des Austauschs, der Vernetzung und Elternbildung. Hier treffe ich Sarah von Niederhäusern, Betreiberin der Tagesstätte Chinderhuus Haselmuus und Präsidentin des Familienzentrums, und Nicole Gressbach, die im Familien-Café hilft und ihre zehnmonatige Tochter dabei hat. Während wir reden, gibt es Brei für die Kleine und für die Grossen den bisher besten Kaffee im Städtli.

«Wenn Toggenburg, dann Lichtensteig», sagt Sarah von Niederhäusern.

Sarah ist in Wattwil aufgewachsen, hat später in St.Gallen gelebt und zog vor gut zwei Jahren nach Lichtensteig. Weil hier ein passendes Haus mit Stall freistand, wo sie ihre naturpädagogische Kita samt Geissen und Eseln eröffnen konnte und weil ihr Partner in Lichtensteig aufgewachsen und verankert ist. «Wenn Toggenburg, dann Lichtensteig», sagt sie. «Ich fühle mich durch und durch als Lichtensteigerin. Wattwil ist zwar viel grösser, aber auch viel toter.» Lichtensteig hingegen sei eine Oase, habe einen «guten Vibe» und biete denen Hand, die etwas bewegen und mitgestalten wollen. «Der Zusammenhalt ist gross, aber nicht geschlossen. Ich mag die weltoffene Stimmung, die für eine ländliche Region nicht selbstverständlich ist.»

Nicole geht es ähnlich. Sie hat ein Jahr in Wattwil gelebt, fühlte sich aber anonym dort und kulturell unterfordert. Im Städli, wo sie jetzt wohnt, hat es nur wenige Kleinkinder und keinen optimalen Spielraum, darum schätzt sie das FazLi sehr. «Hier gibt es andere Spielsachen, andere Kinder, auch Mütter aus den umliegenden Gemeinden, ein saisonales Programm, Bastel- und Singnachmittage und einen Kindercoiffeur.» Und bald hat das Zentrum sogar ein eigenes Maskottchen: Vor Weihnachten veranstalteten die Betreiberinnen einen Zeichnungswettbewerb für die Kinder. Das schönste Fabelwesen wird nun in ein Stofftier verwandelt und von einer sozialen Institution in mehrfacher Ausführung produziert.

Beide Frauen sind grundsätzlich sehr zufrieden mit den Entwicklungen im Städtli. Fürs FazLi wünschen sich die beiden noch ein bisschen mehr Papis, fürs Städtli mehr junge Leute und Familien – «damit es so lebendig und vielfältig bleibt. Und vielleicht haben wir hier ja eines Tages sogar eine alternative Schule oder einen Waldkindergarten. Das wäre eine schöne Ergänzung.»

«Immer diese englischen Begriffe»

Das geht nur, wenn es in der Region auch attraktive Arbeitsplätze gibt – die Mission von Tobias Kobelt. Er trägt Business Casual, wohnt im nahegelegenen Ulisbach, ist Geschäftsführer der Lösungsstube und Mitinitiant des Macherzentrums in der ehemaligen Post, die nun einen Co-Working-Space beherbergt. «Die Post war ein Opfer der Digitalisierung, unser Co-Working-Space ist ein Kind der Digitalisierung», sagt er beim Kafi-Kägifret. «Wir sind aber nicht bloss eine Bürogemeinschaft, wir sind auch eine Plattform für Austausch und Vernetzung.» Sein Ziel: das Unternehmertum und den Innovationsgeist in der Region fördern. Aus Lichtensteig heraus wirken, aber für die ganze Region denken.

5. März, 19 Uhr: Inputreferat Corinne Dickenmann «Entscheide dich! Entscheiden unter Risiko und Unsicherheit im Unternehmen», Macherzentrum Lichtensteig

macherzentrum.ch

Die Idee dazu wurde 2016 im Gemeinderat angestossen. 2017 startete ein Pop-Up-Pilotversuch, im August 2018 wurde der Betrieb offiziell eröffnet und ist mittlerweile selbsttragend. Aktuell teilen sich knapp zehn feste Nutzer die alte Schalterhalle und das Drumherum im Erdgeschoss, darunter ein Typograf, ein Programmierer, ein Ingenieur, ein Treuhänder und ein älterer Jungunternehmer aus Düsseldorf. In den letzten Monaten sei es sehr gut gelaufen, sagt Tobias, darum wollen die Macher bald umbauen, ein zweites Sitzungszimmer und weitere Arbeitsplätze schaffen. Und sie wollen ein Toggenburger Mentoring-Programm, ein Götti-System aufbauen.

Auch Tobias muss viel Aufklärungsarbeit leisten. Der erste Vorwurf: Immer diese englischen Begriffe! «Aber ‹gemeinschaftlicher Arbeitsraum› tönt ja auch irgendwie komisch», sagt er und lacht. «Viele konnten sich nicht recht vorstellen, was wir hier machen, mittlerweile hat sich das teilweise geändert.» Er vertraut auf den «progressiven, liberalen Geist» des Städtchens und hofft, dass es bald wieder der bevölkerte Marktort wird, den er von alten Fotos her kennt, ein Innovationszentrum – «oder noch besser: ein Silicon Valley der Ideen mit Macher-Fabriken, die aus allen Nähten platzen». Was es dafür noch braucht? «Noch mehr Dichte, noch mehr Menschen, damit all die Projekte, die jetzt entstehen, weiter wachsen können.»

Die Drittels-Gesellschaft

Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit leisten. Davon ist oft die Rede während dieser Woche in Lichtensteig. Waldi erklärt es ganz treffend: «Es ist bei jedem Projekt ähnlich: Ein Drittel findet es super, ein Drittel interessiert sich nicht dafür und das dritte Drittel ist dagegen. Je nach Angelegenheit wechselt es.» Laut sei dieser Widerstand aber nicht. Es gebe nur einige wenige, die versuchen, «dem Müller wirklich die Hölle heiss zu machen», mit Mails und Anrufen. «Das ist aber kein lichtensteigisches Problem, es gibt überall Leute, die sich nicht ins Boot holen lassen wollen. Das muss man respektieren. Veränderungen brauchen Zeit und Geduld.»

Sein Wunsch für Lichtensteig: weiter machen, am Puls bleiben, die Leute ab- und ins Boot holen, sich ob all der Historie nicht der Neuzeit verwehren und für die ganze Region denken. Das deckt sich ziemlich mit dem, was ich von den anderen gehört habe. In vielen Ecken riecht es nach Aufbruchsstimmung, kritische Stimmen äussern sich selten öffentlich. Die Lichtensteigerinnen und Lichtensteiger scheinen stolz zu sein auf ihren Städtli-Groove, ihren Eigensinn und ihre Eigenheiten. Und auf das Kägifret. Diese süsse Vergangenheit ist hier omnipräsent.

Das erinnert mich wieder an den Metallica-Schlager, der schon von den Wiener Sängerknaben, Shakira und unzähligen anderen gecovert wurde. Ursprünglich wurde Nothing Else Matters als Liebeslied komponiert, aber laut Metallica-Frontmann James Hettfield steht er auch für die Brüderlichkeit und den Zusammenhalt in der Band. Sie wurde damals auch angefeindet für ihre Neuausrichtung.

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.

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