, 14. August 2018
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«…und nehmen Sie den richtigen Zug»

Der St.Galler Autor Christoph Keller, lange Jahre in New York lebend, schreibt seit einiger Zeit Kurzgeschichten auf Englisch. Eine Auswahl, teils mit Übersetzung ins Deutsche, ist am Donnerstag im Parterre 33 in St.Gallen zu hören.

«Sinkholes are everywhere now»: So endet einer von Christoph Kellers jüngsten Texten, einer Sammlung von Kurzgeschichten mit poetischem Tonfall, manchmal irritierend, meistens mit überraschender Wendung. Der St.Galler Autor war bis zu diesem Sommer 20 Jahre lang in New York wohnhaft und ist jetzt dauerhaft nach St.Gallen zurückgekehrt. Seine Kurzgeschichten schreibt er auf Englisch. Erschienen sind sie in Indien auf Englisch und Bengali, das Buch trägt den Titel A Meaningful Life 2.0 with Primal Matter I-IX.

Primal Matter: Das sind die Fotos von Christoph Keller, zum Beispiel dieses:

Christoph Keller: Primal Matter (Moon/Son)

Das Buch zeigt gemäss Ankündigung, was die Jahre in den USA bei Christoph Keller an Inspirationen, aber auch Befürchtungen ausgelöst haben – letzteres insbesondere seit Donald Trump Präsident geworden ist: «Sinkholes», Dolinen oder Schlucklöcher drohen jetzt überall. Als Rollstuhlfahrer ist Keller darin Experte.

Donnerstag, 16. August, 19.30 Uhr, Parterre 33 St.Gallen (Reservation obligatorisch)

parterre33.ch

Im Kulturraum Parterre 33 in St.Gallen liest Keller diese Woche aus dem Buch, zusammen mit seiner Frau Jan Heller Levi und seinen Übersetzern Florian Vetsch and Clemens Umbricht. Nachstehend zwei Texte, je mit Übersetzung.

Europe During the Rain

You do know your papers are not in order, don’t you? the customs officer said. The painter nodded. He had spent a year in five different internment camps, and now he hoped to escape to America. It was May 1, 1941. His paintings were lined up along the walls of a small French-Spanish border train station. Naked women, their skin overgrown with grass and moss, stems and branches growing heads with sharp-toothed mouths and sad eyes, birds marching determinedly on human legs. If your papers were in order, you could take the train to Spain, the customs officer said. My duty, however, is to make you board the other train, the one that’ll take you back. You do have talent though, he added, watching more and more people gather, losing themselves in the paintings. Go now. Go—and chose the right train.

Europa im Regen

Sie wissen, dass Ihre Papiere nicht in Ordnung sind, oder?, sagte der Zollbeamte. Der Maler nickte. Er hatte ein Jahr in fünf verschiedenen Internierungslagern hinter sich und hoffte jetzt, nach Amerika fliehen zu können. Man schrieb den 1. Mai 1941. Seine Bilder lehnten an den Mauern eines kleinen Bahnhofs an der französisch-spanischen Grenze. Nackte Frauen, ihre Haut überwachsen von Gras und Moos, Baumstämme und Äste, aus denen Köpfe mit scharfzahnigen Mündern und traurigen Augen wuchsen, Vögel, die resolut auf menschlichen Beinen stolzierten. Wenn Ihre Papiere in Ordnung wären, könnten Sie den Zug nach Spanien nehmen, sagte der Zollbeamte. Meine Pflicht allerdings ist es, Sie in den anderen Zug steigen zu lassen, der Sie zurückbringen wird. Obschon, Sie haben Talent, fügte er hinzu, während er beobachtete, wie sich mehr und mehr Leute ansammelten, um sich im Anschauen der Bilder zu verlieren. Gehen Sie jetzt. Gehen Sie – und nehmen Sie den richtigen Zug.

(übersetzt von Florian Vetsch)

The 18th Constitutional Crisis

We talked so much about the possibility of a constitutional crisis that when the country’s 17th constitutional crisis finally arrived, we were relieved. We actually liked it. We grew to understand that it was a great one. It still is. The president declared it the #1 constitutional crisis, the best ever. Coming from the man to whom we already owe sixteen constitutional crises, that’s big. Further proof how ironclad our democracy is, and reason to celebrate. Fourth of July has been moved to July 17th and renamed Constitution Crisis Day, Memorial and Labor Day Weekends has been packed together as Constitution Crisis Weekends I & II, and May, September and October, the most beautiful months of the year, have been declared Constitutional Crises Appreciation Months. It’s gotten even better since the SEPCC (State of Emergency to Protect the Constitutional Crisis) went into effect. It was then that the president had the genius idea to run for reelection on the platform of a constitutional crisis within the ongoing and likely permanent 17th Constitutional Crisis. He is expected to win by a landslide seventeen weeks before the polls open. It is all we talk about.

Die 18. Verfassungskrise

Wir sprachen so viel über die Möglichkeit einer Verfassungskrise, dass wir, als die 17. Verfassungskrise des Landes endlich eingetroffen war, erleichtert waren. Tatsächlich mochten wir sie. Wir kamen zu der Überzeugung, dass sie eine grossartige war. Und es noch immer ist. Der Präsident erklärte sie zur Verfassungskrise Nummer 1, der besten aller Zeiten. Wenn das der Mann sagt, dem wir bereits sechzehn Verfassungskrisen verdanken, dann ist das eine wirklich grosse Sache. Ein weiterer Beweis dafür, wie niet- und nagelfest unsere Demokratie ist, und ein Grund zum Feiern. Der 4. Juli wurde auf den 17. Juli verlegt und in «Tag der Verfassungskrise» umbenannt, die Memorial- und Labor Day-Wochenenden wurden in «Verfassungskrisen-Wochenenden» I & II zusammengepackt, und Mai, September und Oktober, die schönsten Monate des Jahres, wurden zu «Verfassungskrisen-Wertschätzungs-Monaten» erklärt. Es ist sogar noch besser geworden, seit der AzSdVK (Ausnahmezustand zum Schutz der Verfassungskrise) in Kraft getreten ist. Damals hatte der Präsident die geniale Idee, für die Wiederwahl auf der Bühne einer Verfassungskrise innerhalb der andauernden und wahrscheinlich permanenten 17. Verfassungskrise zu kandidieren. Es wird erwartet, dass er siebzehn Wochen vor Wahlbeginn mit einem Erdrutschsieg gewinnen wird. Es ist alles, worüber wir sprechen.

(übersetzt von Clemens Umbricht)

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