, 15. Februar 2021
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Veränderung: Wir können das

«Es gehört dazu, dass ein Wort normal wird: Wir tatschen es an, wir jonglieren damit, wir hauen es auf den Boden und schauen, ob es zurückspickt», sagt unsere Kolumnistin Anna Rosenwasser – und glaubt daran, dass wir von Schönem erst recht was lernen können. Ihr Beitrag aus dem Februarheft.

So. Jetzt ist es also etwa ein Jahr her, seit wir ein neues Wort lernen mussten. Das Wort gab es schon vorher, aber viele kannten es noch nicht. Dann lernten wir alle, es zu benutzen. Die Boomer schickten sich gegenseitig Corona-Karikaturen, wir Millenials posteten unsere Memes, und die Jüngsten machten irgendwas auf Tiktok.

Das gehört dazu, dass ein Wort normal wird: Wir tatschen es an, wir jonglieren damit, wir hauen es auf den Boden und schauen, ob es zurückspickt. Die meisten Wörter spicken nämlich zurück. Weil sie eine Realität beschreiben, die existiert. Dafür gibt es Sprache.

Und darum war «Corona» auch schlegelaweggen in unserem Wortschatz. Wir können das. Unsere Hirne, Ohren und Münder können das: neue Wörter lernen, um die Realität zu beschreiben.

Anna Rosenwasser, 1990 geboren und in Schaffhausen aufgewachsen, wohnt in Zürich. Sie arbeitet für die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und als freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)

Wundersam, dass das ausgerechnet mit denjenigen Wörtern nicht funktioniert, die mit queeren Identitäten zu tun haben. Ja, «queer» ist ein Anglizismus, aber das sind «Computer», «Blog» und «Selfie» auch.

Diese Wörter haben wir erstaunlich schnell gelernt. «LGBTQ» ist eine Abkürzung, klar, aber das ist «WLAN» auch. Da weiss niemand, wofür die einzelnen Buchstaben stehen, und trotzdem haben wir alle ein grobes Konzept, worum es geht. Und wer jetzt sagt, «LGBTQ» sei zu lang: Das Wort «heterosexuell» hat mehr Silben, und das kennen auch alle.

Man könnte fast meinen, dass es nicht darum geht, wie schwierig Wörter sind, sondern darum, ob man die Realität akzeptieren will oder nicht. Wenn dir das Wort «queer» zuwider ist, dann frage dich, ob es daran liegt, dass dir Queers zuwider sind.

Auch Journalist*innen weigern sich oft, LGBTQ oder Queers in Schlagzeilen zu nennen. Dann steht statt «Queere Demonstration» plötzlich «Schwulen-Demo». Weil die Lesenden den Begriff «queer» nicht verstehen würden. Das ist tragikomisch, denn ein Wort lernt man ja unter anderem dadurch, dass man es in Verwendung sieht. Zum Beispiel in Schlagzeilen. Himmel, ich wüsste bis heute nicht, was die Finma ist, wenn sie nicht dauernd in irgendeiner Zeitung stehen würde!

Aber es gibt sie halt, und die Abkürzung ist einfacher als «Eidgenössische Finanzmarktaufsicht». Genau so, wie «LGBTQ» halt kürzer ist als «Lesbisch, gay, bisexuell, trans und queer». Du könntest der un-queerste Jörg der ganzen Ostschweiz sein und trotzdem ein grobes Konzept haben davon, was «queer» ist. Und wenn mans nicht weiss, sieht mans halt nach. Mach ich mit der Finma auch etwa zweimal im Jahr.

Es ist verlockend, zu schreiben: Das ist doch nicht so schwer. Aber das schreibe ich nicht. Denn es ist schwer – nicht neue Wörter. Aber Veränderung. Veränderung ist schwer, sie nimmt uns Halt weg und die Sicherheit. Meine Partnerin sagt seit einem Jahr «Desi» statt «Desinfektionsmittel», und ich wurde monatelang immer hässig, wenn sie das tat.

Dann merkte ich langsam, dass ich gar nicht hässig war auf das Wort. Ich war hässig darauf, wie allgegenwärtig Desinfektionsmittel ist in meinem Leben, und mir machte die Veränderung Angst.

Vielleicht, denke ich manchmal, geht es manchen Menschen so mit «queer». Aber wenn wir Wörter von Unschönem lernen können, wie vor einem Jahr, dann glaube ich auch fest daran, dass wir das bei Schönem hinkriegen.

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