Verschwundene Mädchen, gelegte Brände

1986 – Ein Requiem: Der neue Thurgau-Roman von Christian Rechsteiner.
Von  Roman Hertler

Das Polizeifoto der achtjährigen Edith Trittenbass geistert noch heute durchs Internet, als verblassende Erinnerung an ein Jahrzehnt, in dem in der Schweiz ungewöhnlich viele Kinder verschwanden. Von einigen fehlt bis heute jede Spur. Auch in der Ostschweiz gab es solche Fälle, im Thurgau und im Toggenburg etwa. Hier setzt der neue Roman 1986 – Ein Requiem des Thurgauer Autors Christian Rechsteiner an, der mangels Verlag bislang nur als Podcast erschienen ist.

Der fiktive, namenlose Ich-Erzähler, ein aus Zürich in den Thurgau zurückgekehrter, erfolgloser Schriftsteller, beginnt seine Geschichte allerdings nicht beim Mädchen aus Wetzikon TG, das im Mai 1986 auf seinem Schulweg nach Wolfikon spurlos verschwand, sondern fast 40 Jahre später in der Gegenwart bei der Beerdigung der eigenen Mutter. Dort trifft er auf seine zwei besten Freunde von damals, als sie zehn waren und mit einem Mädchen zur Schule gingen, das im Roman kurze Zeit nach der realen Edith Trittenbass ebenfalls verschwindet. Nach einer durchzechten Nacht voller «Weisch no»-Gespräche beschliesst der Erzähler, diese Geschichte, oder eher: die Geschichten von damals – die Geschehnisse um das plötzlich vermisste Schulgspänli, mysteriöse Brände im Dorf und vor allem seine persönlichen Eindrücke von 1986 – endlich aufzuschreiben, nachdem er früher mehrfach daran scheiterte.

Von allem etwas, wie die Popkultur

1986 spielt im fiktiven W., «mein zufälliges W.», wie der Ich-Erzähler es nennt, das aber ebenso gut Wetzikon oder Wolfikon sein könnte. Er handelt in erster Linie vom Erinnern an eine beschwert-unbeschwerte Kindheit, in der die Sommer endlos schienen, an einen muffigen Feuerwehrtümpel, an dem sich die Kinder trafen, um zu baden, Nielen zu rauchen und sich zu raufen, an abgründige Familiengeschichten, an gemeinsames Kassettenhören, Video- und Fernsehschauen, an schrullige Archetypen des Dorflebens, wie es sie überall gab.

Christian Rechsteiner: 1986 – Ein Requiem. Eigenverlag, 2024. Eingelesen von Marc Baumeler, zu hören als Podcast auf Spotify (wöchentlich erscheint ein weiteres Kapitel)

1986einrequiem.ch

Oft sind popkulturelle Bezüge eingestreut (Ghost Dog, Madonna, Vamos a la playa und – natürlich – Falcos Jeanny) und es schwingt, wenn der Autor nicht gerade über philosophische Wahrheitsbegriffe oder die heute längst entschwundene Allgegenwärtigkeit von Tabakqualm schwadroniert, auch viel düstere Spannung à la Stephen King mit, vielleicht mehr The Body als Pet Sematary (dessen Verfilmung im Verlauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird) – Blutegel am juvenilen Sack inklusive. Und über allem schwebt das ständig drohende Unheil von aussen, ob radioaktiv (Tschernobyl), pyromanisch oder pädokriminell.

1986 bleibt eine erfundene Geschichte – bei allen Parallelen zur tatsächlichen, aber letztlich immer imaginierten Wirklichkeit, auch zur Lebenswirklichkeit des Autors: Rechsteiner ist selber Jahrgang 1976, Edith Trittenbass verschwand nur wenige Kilometer entfernt vom Weiler, in dem er aufwuchs. Es ist weder Coming-of-Age-Novel noch Heimatroman (auch nicht Antiheimatroman) und auch kein Lokalkrimi oder eine historische Reportage, hat aber von allem etwas.

Ein Hoch auf die Fiktion

Nebst den True-Crime-Elementen könnte vor allem die eingehende Beschreibung von Durchschnittskindheit und -jugend im Thurgau der 80er dem Autor den Vorwurf einbringen, literarisch mit dem Strom zu schwimmen. Das Erinnern an diese Zeit feierte zuletzt in der Popkultur Hochkonjunktur (Mode, Frisuren, 80er-Synth-Musik, Stranger Things auf Netflix etc.). Mit seiner nüchternen, trocken-ironischen, stellenweise leicht derben, aber stets unaufgeregten Sprache, die sich flott liest respektive hört (im Gegensatz zu seinem doch recht sperrigen Erstling Das Weinberger-Archiv), entspricht Rechsteiners Roman aber definitiv nicht dem aktuellen Mainstream, wo gern gekünstelt mit Sprache experimentiert wird. Rechsteiner nimmt sich in seinem Schreiben bescheidener aus.

Im Gespräch mit Saiten betont der Autor, dass 1986 für ihn persönlich auch eine Abrechnung mit dem zeitgeistigen Hang oder sogar Zwang des gegenwärtigen Literaturbetriebs zur Autofiktion sei, wonach Autor:innen nur dann über etwas schreiben dürfen, wenn sie es genauso – quasi am eigenen Leib – selbst erlebt haben, ansonsten ein Text als unauthentisch gelte. Das ist doch mal – wenn man denn dem Begriff etwas Gutes abgewinnen will – erfrischend konservativ. Apropos Zeitgeist: Rechsteiner verwendet in seinem Roman konsequent den genderneutralen Plural mit Doppelpunkt.