, 12. März 2019
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Verunsicherung der Vernünftigen

Vor 100 Jahren wollte sich Vorarlberg der Schweiz anschliessen. Die sagte Nein – jetzt kommt die Geschichte des «27. Kantons» in zwei Kurzstücken auf die Bühne des Landestheaters in Bregenz, mit wenig Erkenntnisgewinn allerdings. von Kurt Bracharz

Was, wenn der «Anschluss» gelungen wäre? Szene aus «Lauter vernünftige Leute». (Bilder: Anja Koehler)

Der 27. Kanton ist der Übertitel des Theaterabends. Er vereint zwei Uraufführungen: die Einakter Die Verunsicherung von Thomas Arzt und Lauter vernünftige Leute von Gerhard Meister. Beide Stücke waren Auftragsarbeiten zum Thema 100 Jahre Vorarlberger Volksabstimmung für einen Schweiz-Beitritt. Im Mai 1919 hatten 80,7 Prozent der an die Urne gegangenen Vorarlberger für die Aufnahme von Anschlussverhandlungen gestimmt. Das Resultat ist bekannt: Die Schweiz zeigte dem katholischen Vorarlberg die kalte Schulter, und der Frieden von Saint-Germain 1919 besiegelte dessen Zugehörigkeit zum neu geschaffenen Bundesstaat Österreich.

«Volksstück» mit Schönheitsfehlern

Aus dem vorgegebenen spröden Thema hat der Oberösterreicher und Wahlwiener Thomas Arzt ein «zeitgenössisches Volksstück» gemacht und der in Zürich lebende Emmentaler Gerhard Meister eine Art Kabarettabend. Im Programmheft äussern sich beide im Gespräch mit der Dramaturgin Christa Hohmann über die Österreicher und über die Schweizer, obwohl die Vorarlberger grossen Wert auf ihre Differenz zu Restösterreich legen – und mit den Schweizern bei einer solchen Diskussion immer nur die Ostschweizer gemeint sind.

Volk und «Volksempfänger»: Szene aus «Die Verunsicherung».

In den Stücken merkt man vom Vorarlbergisch-sein-Sollenden vor allem die Missgriffe: Der Gsiberger (David Kopp) würde niemals «Das is’n Ding!» sagen, in Vorarlberg heissen Beizen nicht «Kaiserstüberl» (eine die Regel bestätigende Ausnahme ist das Kaiserzimmer im Dornbirner Gasthof Gütle, weil hier tatsächlich einst der Kaiser zu Besuch war, um die Industrieanlage zu besichtigen), und auch eine nicht als dement gezeichnete Kaiserverehrerin (Bo-Phyllis Strube) ist gewiss kein Typus der Vorarlbergerin. Dem Kaiser Karl I. gab man hier, was des Kaisers war, also 1918 einen Tritt.

Bei Arzts angeblichem Volksstück Die Verunsicherung fragt man sich, warum es nicht im Vorarlberger Dialekt aufgeführt wird, es wird anderswo kaum gespielt werden, wie ja auch Meister versichert, dass die Volksabstimmung 1919 «nicht zum schweizerischen Allgemeinwissen gehört».

Weitere Termine: 12.3., 23.3., 29.3, 7.4., 10.4., 18.4., je 19.30 Uhr, Vorarlberger Landestheater Bregenz. 11.4. 20 Uhr Gastspiel im Reichshofsaal Lustenau

landestheater.org

In Die Verunsicherung geht in Vorarlberg irgend etwas mit Neuvermessungen des Landes vor sich, deren Grund und Auftraggeber unklar bleiben, bis deutlich wird, dass es metaphorisch um den regionalen Widerstand gegen die aktuelle autoritäre Bundesregierung geht.

In Lauter vernünftige Leute wird Vorarlberg tatsächlich zum 27. Kanton, läuft aber während der Nazizeit freiwillig zu den Deutschen über und würde danach von der Schweiz wieder mit offenen Armen aufgenommen – politisch eher jenseitig, als Kabarett ganz lustig, einschliesslich der Österreicherwitze am Beginn.

Ein Überhang an Klischees

Das Bühnenbild (Carolin Mittler) zeigt einen grossen Volksempfänger, im ersten Stück als Barregal, im zweiten als Häuschen, aus dessen Fenster der Schweizer zu den Vorarlberger spricht. Die Inszenierung (Patricia Benecke) beschäftigt die Menschen auf der Bühne in diesen beiden Sprechstücken mit viel Bewegung, wobei nicht nur Rahel Jankowski manchmal auf der Stelle tritt – sie tut es aber gemäss Regieanweisung.

Nur Elke Maria Riedmann hat mit der Volksstück-Figur der dementen alten Frau in Die Verunsicherung eine etwas dankbarere Rolle bekommen, Felix Defèr und Luzian Hirzel bemühen sich, Klischees mit Leben zu füllen. In Lauter vernünftige Leute treten die sechs als Chor auf, da verteilt sich die Publikumssympathie besser.

Zurück ins Reich: das Ensemble in «Lauter vernünftige Leute».

Am Schluss gab es angemessenen Applaus und Bravo-Rufe für die Uraufführungen und Extra-Applaus für die beiden Autoren.

 

 

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