, 11. Oktober 2021
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«Verzichten ist auch ein Geben»

Miriam Rizvi und Peter Jans kämpfen beide gegen die Klimakrise: Sie als Aktivistin auf der Strasse, er als Leiter der Technischen Betriebe der Stadt St.Gallen. Sie fordert Klimagerechtigkeit, er setzt auf technische Lösungen. Ein Streitgespräch unter fast Gleichgesinnten.

«Der Staat kann nicht einfach verfügen», sagt Peter Jans. «Unser Hindernis ist der Staat», sagt Miriam Rivzi. (Bilder: Ueli Steingruber)

Saiten: Was tut ihr im Privaten fürs Klima?

Peter Jans: Ich besitze kein Auto. In der Stadt brauche ich keines für den Alltag, da nutze ich den öV und das Velo. Ausserdem esse ich seit über 20 Jahren kein Fleisch mehr. Und wir heizen mit einer Erdsonde – allerdings ein Einfamilienhaus, was fürs Klima bekanntlich nicht ganz optimal ist.

Miriam Rizvi: Ich mag diese Frage nicht, ständig wird sie mir gestellt. Das ist Symptombekämpfung. Wir können die Klimakrise nicht mit persönlichem Engagement bewältigen. Die Probleme sind grösser: strukturell und global.

Dazu kommen wir noch.

MR: Ok. Also: Ich habe kein Auto, fliege nicht und ernähre mich freegan. Das heisst, dass ich keine tierischen Produkte esse, aber auch nicht nein sage, wenn es in unserem WG-Kühlschrank aus irgendeinem Grund plötzlich einmal 20 Eier oder ein paar Liter Milch hat. Food Waste wäre ja auch schlecht. Hauptsache, die Tierindustrie bekommt kein Geld von mir. Diese Ernährungsform habe ich aus ethischen Gründen gewählt, nicht weil es gerade im Trend ist, vegan zu sein.

Nicht nur die Ernährungsindustrie reitet auf der grünen Welle, auch die Automobil-, die Reise-, die Kleider- oder die Beauty-Industrie. Und sie alle werden nicht müde zu betonen, dass Klimaschutz auch ohne Verzicht geht. Das stimmt nicht. Es braucht weniger von allem, gerade in reichen Ländern wie der Schweiz. Einverstanden?

MR: Ja, aber die Definition von Verzicht muss sich ändern. Verzichten ist auch ein Geben. Wenn wir unser Konsumverhalten in der Schweiz bewusst zurücknehmen, geben wir anderen Gesellschaften auf diesem Planeten mehr Freiheiten. Wie bei Corona: Wir schränken uns solidarisch ein, damit andere ihre Freiheiten nicht verlieren. Die ganze Diskussion um den Verzicht ist so negativ aufgeladen, dass der Begriff nicht mehr brauchbar ist im Diskurs über Klimagerechtigkeit. Besser wir arbeiten mit dem Begriff der Solidarität.

Wenn ich meinem Kumpel sage, er soll seinen SUV verkaufen und im Winter zwei Grad weniger heizen, interpretiert er das trotzdem als Verzicht.

MR: Ja, und das ist das Problem: die Rhetorik und das Framing müssen sich ändern, wenn wir einen konstruktiven Dialog wollen. Nehmen wir nochmal das Beispiel der Pandemie: Es gibt einen kleinen und lauten Teil der Gesellschaft, der nicht bereit ist, sich zum Wohle aller ein bisschen einzuschränken. Aber der Grossteil ist dafür und hält sich an die Massnahmen. Dieses solidarische Framing braucht es auch beim Klima. Das können wir aus der Coronapandemie lernen.

Wie stehen Sie zum Thema Verzicht, Peter Jans?

PJ: Ich bin überzeugt, dass mit technischen Lösungen sehr viel erreicht werden kann. Es braucht die Umstellung auf erneuerbare Energien, auf Elektromobilität, nachhaltige Wärmesysteme und so weiter. Aber Technik allein reicht nicht. Denn auch bei den erneuerbaren Energien – so endlos sie scheinen mögen – braucht es einen Aufwand, um sie verfügbar zu machen. Darum müssen wir uns auch auf der Verhaltensebene ändern. Das ist, wie Miriam sagt, nicht so einfach. Verzicht ist nicht vereinbar mit unserer Konditionierung auf «mehr, besser, schneller». Da braucht es einen Werte- und Kulturwandel. Und das benötigt Zeit. Dieser Aspekt macht mir daher mehr Sorgen als der technische Teil. Dort ist schon viel auf dem Weg, man nutzt die neuen Möglichkeiten. Das Bewusstsein reicht heute bis weit in die Wirtschaft, siehe CO2-Gesetz, zu dem wichtige Teile der Wirtschaft «Ja» gesagt haben. Beim Verzicht ist es schwieriger. Das CO2-Gesetz wurde auch abgelehnt, weil gewisse Dinge verteuert worden wären, etwa Fliegen oder Benzin. Wenn es das eigene Portemonnaie betrifft, ist die Hemmschwelle höher.

MR: Das «eigene Portemonnaie» müsste man ohnehin überdenken bzw. den Stellenwert des Eigentums in unserer Gesellschaft. Unser Bedürfnis nach Eigentum ist viel zu gross. Und es ist unfair: Menschen in MAPA- Gebieten – das steht für Most Affected People and Areas – leiden unter unserem Verhalten. Die Impfung zum Beispiel: Europa hortet Impfstoff wie verrückt und in anderen Regionen der Welt haben sie kaum Zugang dazu. Trotzdem zeigt die Pandemie auch die guten Seiten in uns. Viele solidarisieren sich, um andere zu schützen. Bei der Klimakrise ist es leider anders, weil wir das Ausmass der Zerstörung nicht direkt vor Augen haben, anders als bei der Coronapandemie. Das Klima-Thema ist vielen zu abstrakt.

Bei Corona weiss man, wofür man sich solidarisch einschränkt: Weil dann ein Ende in Sicht ist. Beim Klima ist das anders, der Kulturwandel muss endgültig sein.

PJ: Die Frage ist, wie man Verzicht definiert: Ist er freiwillig oder nicht? Wir leben hier in einer freiheitlichen Gesellschaft und entscheiden selber, welche Grenzen der Staat uns setzen kann und darf. Die Chancen, dass sich eine Mehrheit für einen Zwangsverzicht ausspricht, scheinen mir eher gering. Ein begrenztes jährliches CO2-Kontingent für jede Person beispielsweise dürfte kaum mehrheitsfähig sein, wenn es schon ein paar Rappen mehr fürs Benzin oder eine Flugticketabgabe so schwer haben. Ich bin auch der Meinung, dass sich viel schneller etwas ändern muss, aber der Weg in der Schweiz führt realerweise über Diskussionen, Vorbilder, Aufklärung und Mehrheitsbeschlüsse.

Das ist auch eine kommunikative Herausforderung. Miriam Rizvi, euer aktivistisches Wording ist deutlich radikaler als das von öffentlicher Seite.

MR: Das muss es auch sein. Weil es uns nicht primär darum geht, dass der einzelne Mensch Verzicht übt. Sondern darum, dass die global agierenden Unternehmen wie Holcim und der Finanzplatz Schweiz, die extrem viel Emissionen ausstossen und in fossile Energien investieren, endlich zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Hebel ist viel grösser als unser Verhalten als Einzelpersonen.

Und als Chef der Technischen Betriebe einer Stadt: Wie holt man da die Bevölkerung mit ins Boot, selbst wenn es nur um eine Sparbrause geht?

PJ: Öffentlichkeitsarbeit gehört selbstverständlich auch zu unseren Aufgaben, doch die Mittel dafür sind zugegebenermassen beschränkt. Wir müssen mit dem arbeiten, was uns zu Verfügung steht. Wir unterstützen unter anderem den Ökomarkt, den Mobilitätsmarkt oder auch die Blumen- und Gemüsekisten in der Stadt. Solche Projekte dienen der Bewusstseinsbildung und sollen dabei helfen, das Klimathema präsent zu machen und zu Diskussionen anzuregen. Natürlich wäre mit mehr Mitteln noch mehr möglich, allerdings setzt man sich relativ schnell auch dem Vorwurf der Umerziehung aus, was politisch heikel ist.

Öko- oder Mobilitätsmarkt sind niederschwellige Angebote. Erreicht man damit nicht vor allem jene, die sowieso schon ökologisch ticken?

PJ: Solche Anlässe sind ja auch eine Bestärkung. Es tut gut, wenn man sieht, dass man nicht allein ist, dass es eine Community gibt. Und sie haben – das hoffe ich jedenfalls – auch eine Ausstrahlung auf andere Bevölkerungsgruppen. Aber ja, Leute, die sehr weit vom Thema entfernt sind, kann man damit wohl leider nicht erreichen. Der Autofreak wird seinen Wagen wegen dem Mobilitätsmarkt nicht öfters in der Garage lassen. Das wäre illusorisch.

MR: Aber es wäre wichtig! Ich sehe ja ein, dass der gesellschaftliche Wandel Zeit braucht und der Stadtrat nicht einfach durchregieren kann – aber diese Zeit haben wir nicht. Im globalen Vergleich ist St.Gallen eine reiche Stadt, und ich wünsche mir, dass wir stärkere Zeichen setzten und vorwärts machen. Das globale Ziel ist Netto-Null im Jahr 2050, damit die weltweite Erwärmung 1,5 Grad nicht übersteigt. Das heisst nicht, dass die Schweiz erst dann klimaneutral sein soll, sondern schon 2030 bzw. so schnell wie möglich – damit andere Länder wie beispielsweise Afghanistan, wo momentan Krieg herrscht, mehr Zeit und Spielraum haben, um dieses Ziel zu erreichen. Was wir heute machen, hat Auswirkungen auf die ganze Welt.

Peter Jans, beneiden Sie die Aktivistin um die deutlichen Worte? Wären Sie manchmal auch gerne etwas weniger diplomatisch?

PJ: Ich stimme Miriam natürlich zu: Der Zeitfaktor ist extrem und 30 Jahre sind eine lange Zeit für einen Kulturwandel. Aber die Klimadebatte wird nicht erst seit gestern geführt, sondern seit Jahrzehnten. Ich bin auch einverstanden, wenn sie sagt, dass die Debatte aggressiver geführt werden muss, aber der Staat kann diese Rolle nicht übernehmen.

MR: Ja, das sehe ich ein. Darum braucht es uns Aktivist:innen.

Miriam Rizvi, 2001, ist Klimagerechtigkeitsaktivistin aus St.Gallen. Sie hat im Sommer die Matura abgeschlossen und arbeitet derzeit in einer Waldkrippe. Daneben sitzt sie für die Juso im St.Galler Stadtparlament.

PJ: Wir als Regierungsvertreter:innen brauchen den Rückhalt der Bevölkerung. Und wenn wir es übertreiben, dann kommt die Retourkutsche. Bis jetzt steht die Bevölkerung hinter uns, man gewährt uns die Kredite, die wir in Sachen Klima vors Parlament bringen. Das hängt auch damit zusammen, dass in den letzten Jahren viel Sensibilisierungsarbeit geleistet wurde. In der Kindertagesbetreuung und an Schulen beispielsweise werden heute grösstenteils biologische Produkte verarbeitet und es gibt überall Vegi-Menüs. Das ist breit akzeptiert. Wenn man aber gar kein Fleisch mehr anbieten würde, wäre es mit der Akzeptanz vermutlich rasch vorbei. In der Politik geht es immer darum, so viel wie möglich herauszuholen, ohne dass man dabei ausgebremst wird.

Die Klimadebatte wird zwar seit Jahrzehnten geführt, trotzdem haben wir noch nie so viele Klimaabstimmungen gehabt wie in den letzten Jahren. Zeigt nicht gerade die Klimabewegung, dass ein bisschen Radikalität eben doch nützt beim Vorwärtskommen, bei der Wissensbildung und bei der Aufklärung?

PJ: Doch natürlich, und das ist super! Aber radikal zu sein ist nicht die Aufgabe der Exekutiv-Politik.

Peter Jans, 1960, ist seit 2015 Stadtrat in St.Gallen und leitet die Direktion Technische Betriebe. Ausserdem sitzt er für die SP im Kantonsrat. Davor war er Primarlehrer und Sekretär der VCS-Sektion St.Gallen/Appenzell, später selbständiger Rechtsanwalt und ab 2006 Richter am Kreisgericht St.Gallen.

MR: Wir können uns ja auch nur so verhalten, weil wir sehr bewusst ausserparlamentarisch agieren. Das gibt uns eine grosse Freiheit. Unser einziges Hindernis ist der Staat. Nicht in Form von Politiker:innen, sondern in Form der Polizei. Es gehört zum Wesen von aktivistischen Bewegungen, dass die Aktionen immer ein bisschen provokativer sprich öffentlichkeitswirksamer werden müssen. Über den Schulstreik allein würde heute kein Medium mehr berichten. Wenn wir aber eine Bank besetzen, haben wir die Aufmerksamkeit wieder, wenn auch nur für kurze Zeit. Dadurch sind wir gezwungen, immer mehr Grenzen zu überschreiten. Teile der Politik finden das zwar cool und freuen sich, dass wir das tun, was viele Parlamentarier:innen nicht als ihr Handlungsfeld ansehen, aber dann kommt wieder die Polizei und stoppt uns. Ihre Repressionsmassnahmen verhindern weitere Aktionen. Das ist zermürbend. Wenn die aktivistische Komponente so wichtig ist für die politischen Prozesse, muss sie auch ermöglicht werden.

Miriam Rizvi bezeichnet das Netto-Null-Ziel der Stadt bis 2050 als gemütlich und zu wenig ambitioniert, zugeschnitten auf den Erhalt des jetzigen Systems. Peter Jans, was entgegnen Sie?

PJ: Dieser Weg ist überhaupt nicht gemütlich, sondern im Gegenteil: sehr herausfordernd. Energie- und Klimamassnahmen teilen wir ein in zwei grosse Felder: Beschaffung und Konsum einerseits und andererseits energetische Massnahmen, die Wärme, Strom und Mobilität betreffen. Nehmen wir die Heizungen: Man geht davon aus, dass eine Heizung etwa 20 Jahre lebt. Wenn wir wollen, dass im Jahr 2050 keine Öl- und Gasheizungen mehr in Betrieb sind, heisst das, dass wir ab 2030 keine solchen mehr installieren dürfen. Aber: 2018 und 2019 wurden im Schnitt immer noch nur 27 Prozent der alten Heizungen durch eine mit erneuerbaren Energien ersetzt. Diesen Prozentsatz in neun Jahren auf 100 zu heben, ist eine riesige Herausforderung. Weil es kein Gesetz gibt, das den Einbau von Öl- oder Gasheizungen verbietet. Wir als Stadt können das nicht einfach verfügen. Zudem liegt die Hoheit bei den Gebäudevorschriften beim Kanton.

Wie will die Stadt dieses Ziel erreichen?

PJ: Zum Beispiel mit Wärmepumpen, da sind wir auf gutem Weg. Die Erdsonden werden vom Energiefonds gefördert. Doch es gibt auch Leute, denen diese Investition zu hoch ist. Unter anderem, weil man zuerst das Haus isolieren sollte, wenn man mit dieser Form heizt. Ein älteres Paar, das «nur» eine neue Heizung braucht, kann sich das vielleicht nicht leisten. Wir als Stadt können nicht fordern, wir können nur Anreize schaffen. Ein weiterer Weg ist die Fernwärme, aber auch deren Ausbau nimmt Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch. Wenn wir eine neue Fernwärmeleitung ziehen, haben nur jene Anschluss, die in dieser Strasse wohnen. Zwei Strassen weiter braucht es eine eigene Leitung.

MR: Ja, das Haus, in dem meine Mutter wohnt, hätte auch gerne einen Fernwärmeanschluss, aber es gibt dort noch keine Leitung.

PJ: Die Stadtwerke können leider nicht überall zur gleichen Zeit sein. Wir können nur den Ausbau konsequent vorantreiben. Und wir müssen auch neue Wärmequellen erschliessen. Das Kehrichtheizkraftwerk allein reicht nämlich nicht, es braucht über kurz oder lang noch ein Holzkraftwerk, um das ausgebaute Fernwärmenetz zu speisen – und dafür braucht es wiederum einen Kredit und eine Abstimmung. Das alles braucht Zeit. Ich sehe darum nicht, wie wir dieses Ziel um Jahre vorziehen könnten.

MR: Mir ist bewusst, dass die Situation für euch als Stadt nicht einfach ist. Auch weil das System, in dem wir leben, nicht auf die Bewältigung der Klimakrise ausgelegt ist. Es muss angepasst werden, darum fordern wir vom Klimastreik einen Systemwandel. Mögliche Lösungen dafür haben wir im Climate Action Plan festgehalten.

Mehr zum Climate Action Plan:
climatestrike.ch/de/crisis#solutions

Mehr zum Energiekonzept der Stadt St.Gallen: watt-bin-ich.ch

Was würdet ihr Peter Jans denn empfehlen als seine Berater:innen?

MR: Zum Gebäudebereich kann ich nichts sagen. Wichtig ist, dass wir klimagerechte Lösungen entwickeln und den Leuten auch Alternativen aufzeigen. Wenn St.Gallen es zum Beispiel nicht schafft, Netto- Null bis 2030 zu erreichen, um ärmere Gebiete der Welt zu entlasten, dann müssen wir sagen: Ok, tun wir wenigstens etwas dafür, um Menschen zu helfen, die direkt von der Klimakrise betroffen sind. Setzen wir uns zum Beispiel für sichere Fluchtwege ein. Und nehmen Geflüchtete auf. Es gibt viel leerstehenden Wohnraum in St.Gallen.

Als eine Art Kompensation?

MR: Genau. Wenn man wirklich der Meinung ist, dass unser System so ungeeignet ist, um Netto-Null zu erreichen, muss man konsequenterweise solche Kompromisse eingehen, auch wenn es schmerzlich ist. Dann bleibt uns nur der «klimagerechte Weltuntergang». St.Gallen und die Schweiz als Ganzes hätten die Mittel, um MAPA-Areas zu unterstützen.

PJ: Die Rahmenbedingungen sind nicht optimal, das stimmt, aber es gibt Spielraum. Ich hoffe zum Beispiel sehr, dass der Bund eine gute Nachfolgelösung präsentiert fürs abgelehnte CO2-Gesetz. Wir haben nun mal drei Staatsebenen und es ist nicht alles auf die Klimafrage abgestimmt, das ist so. Trotzdem glaube ich, dass vieles machbar ist. Im Gebäudebereich ist das Ziel bis 2050 zu schaffen, da bin ich überzeugt. Wenn wir in den kommenden Jahren 50 Prozent der Stadt an die Fernwärme anschliessen können, ist schon viel abgedeckt. Ausserdem setzen wir auf Photovoltaik. So viel wie möglich. Wir müssen das Tempo der letzten Jahre verdreifachen, damit wir genügend erneuerbare Energie für die Wärmepumpen haben.

Peter Jans, wo sehen Sie nebst der Mobilität und dem Energiebereich, die anderen Hebel im Energiekonzept der Stadt?

PJ: Im Bereich Konsum und Beschaffung gibt es von unserem Handlungsspielraum her gesehen kaum technische Lösungen, darum ist es hier schwieriger. Und es gibt zwei Seiten; die Bevölkerung und die Stadtverwaltung. Eines der Legislaturziele des Stadtrats ist die konsequent nachhaltige Beschaffung von städtischer Infrastruktur – vom Schulcomputer über den VBSG-Bus bis zur Pausenverpflegung und dem Beton fürs neue Schulhaus. Dazu gehören nebst wirtschaftlichen und ökologischen auch soziale Kriterien. Das zu implementieren, ist nicht einfach, denn vieles wird importiert und wir kennen nicht alle Lieferketten. Hier gibt es noch einiges zu tun, das Energiekonzept wird deshalb mit diesen Bereichen ergänzt.

Und was erwarten Sie von uns als Stadtbewohnerinnen im Bereich Beschaffung und Konsum?

PJ: Da sind wir wieder beim Kulturwandel. Wir als Stadt können und wollen Ihnen natürlich nicht vorschreiben, wie viele Kilometer Sie fahren oder wie viel Plastik aus China Sie verbrauchen. Wir können nur animieren, ermuntern, Beispiele aufzeigen, Informationen bereitstellen.

Da haben Sie etwas gemeinsam mit den Klimaaktivistinnen. Aber trotz ihren Bemühungen in der Politik und jenen der Aktivistinnen auf den Strassen haben wir gewisse Kipppunkte bereits überschritten. Die Katastrophe scheint unausweichlich. Was gibt euch Hoffnung, trotzdem weiterzukämpfen?

MR: Ich kämpfe zwar gegen die Klimakrise, aber vor allem für Klimagerechtigkeit. Mit dem heutigen kapitalistischen System ist die Krise nicht zu bewältigen. Darum kämpfe ich auch gegen das Leid, das durch die Krise ausgelöst wird. In den kommenden Jahrzehnten werden Teile der Welt unbewohnbar. Es wird Millionen von Klimaflüchtlingen geben. Sie brauchen Fluchtwege. Bereits jetzt gibt es Verteilkämpfe und soziale Konflikte. Das muss ins gesellschaftliche Bewusstsein, dafür setze ich mich ein. Hoffnung gibt mir, dass ich diesen Kampf nicht allein führe, sondern mit vielen Gleichgesinnten.

PJ: Auch ich bin unsicher, ob die Zeit noch reicht, das Ruder herumzureissen. Aber ich versuche, positiv zu denken. Wir müssen alles dafür tun, die Krise aufzuhalten, denn wir haben nicht das Recht, unsere Lebensgrundlage und die der Generationen nach uns zu zerstören. Hoffnung gibt mir, dass die Menschheit es immer wieder geschafft hat, zu reagieren, wenn auch oft erst im letzten Moment. Vor 50 Jahren zum Beispiel konnte man in den Schweizer Seen nicht baden, weil sie so verschmutzt waren. Dann wurden auf Teufel komm raus Kläranlagen gebaut und heute sind die Seen wieder sauber. Der Unterschied zum Klimawandel ist, dass die Folgen sehr verzögert eintreten. Das ist ein grosses Problem. Aber in den letzten Jahren sind dank der Proteste viele Leute weltweit erwacht, auch in der Wirtschaft und in der Politik. Das macht mir Mut.

MR: Ich hoffe einfach, dass die Krise nicht als Vorwand genutzt wird, um das System zu erhalten. Grüner Kapitalismus ist genauso schlecht wie der jetzige Kapitalismus. Die Krise muss eine Chance sein, das System sozialer zu machen.

PJ: Das wäre zu hoffen, ja.

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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