, 27. Mai 2021
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Vom Bürgertempel zum Dritten Ort

Mitten in der Stickereikrise beschloss die St.Galler Ortsbürgergemeinde den Bau des Historischen und Völkerkunde­museums. Jetzt, wieder in einer Krise, feiert das Haus sein 100-jähriges Bestehen – an diesem Wochenende eröffnet die Jubiläumsausstellung. Und es gibt Ideen für die Zukunft.

Das Historische und Völkerkundemuseum St.Gallen. (Bild: pd)

Ein interessantes Stück der Jubiläumsausstellung ist ein sehr altes Militärguetzli. Ein kleines Wunder, dass das fast quadratische «Feldbrot» mit sechsmal sechs Stupflöchern seit 1871 überdauert hat. Sicherlich heute ungeniessbar, weil nahezu versteinert, ist es ein Symbol der vielbesungenen schweizerisch-humanitären Tradition.

Mit der Flucht der Bourbaki-Armee vor den Preussen gelangten damals innert dreier eisiger Wintertage 87ʼ000 französische Soldaten in die Schweiz, wo sie plus 12ʼ000 Reittiere notdürftig versorgt und wenn nötig gepflegt wurden. Derartige logistische Anstrengungen sind mittlerweile höchstens noch bei vergnüglichen Grossanlässen denkbar. Der Bundesrat verteilt seine Guetzli an Vertriebene heute lieber «vor Ort».

Jubiläumsausstellungen im HVM:

«Klimt und Freunde»: bis 25. Juli

«Entdeckungen – Highlights der Sammlung»: bis 27. Februar 2022

HVM-Jubiläumsfest «Willkommen 1921!»: 19. und 20. Juni, Ausflüge in die 1920er-Jahre inkl. Attraktionen und ­Überraschungen, Festwirtschaft (je nach bundesrätlichem Massnahmenplan), Eintritt frei

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Dabei haben gerade die drei Sonderausstellungen zu Flucht und Holocaust 2019 im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen (HVM) gezeigt, dass die Thematik nach wie vor breite Teile der Gesellschaft bewegt. Kaum eine Ausstellung hat mehr Publikum, auch überregionales, ins Museum im Stadtpark gelockt. Man wünscht es den Macherinnen der aktuellen Jubiläumsausstellung zum 100-Jährigen, die am 29. Mai eröffnet wurde, dass sie auf ebenso grosses Interesse stösst.

Schon die Fülle an Sammlungsschätzen von nah und fern lädt zur Entdeckungsreise. Und es zeigt sich, was ein Museum wie keine andere Bildungseinrichtung kann: einem banalen Objekt wie einem vertrockneten Gebäck eine Geschichte entlocken, die zum Denken und Reflektieren anregt.

Verkopfen soll man sich aber nicht im Museum, die Ausstellung soll auch emotional etwas auslösen. Zugänglichkeit für alle Alters- und Bildungsklassen ist Monika Mähr, der langjährigen Kuratorin für Kulturgeschichte, wichtig. Die stellvertretende HVM-Direktorin, die das Amt vom im Dezember überraschend verstorbenen Achim Schäfer übernommen hat, hat die Ausstellung «Entdeckungen» mit weit über 100 Sammlungshighlights, die sich teils auch in der Dauerausstellung finden, kuratiert.

«Man soll sich im Museum nicht verkopfen»: Monika Mähr, Kulturgeschichtskuratorin und stellvertretende HVM-Direktorin, vor dem ältesten Porträt einer St.Gallerin, der 21-jährigenMargaretha Zili 1590. (Bilder: Ueli Steingruber)

Ausstellungskatalog

Wie die Ausstellung «Entdeckungen – Highlights der Sammlung» zum Rundgang lockt, lädt der Ausstellungskatalog, ­herausgegeben von Monika Mähr und Peter Müller, zum Schmökern ein. Sie und ihre Teamkolleg:innen Achim Schäfer, Sara Allemann, Jeanne Fichtner-Egloff, Victor Manser, Jolanda Schärli, Daniel Studer und Isabella Studer-Geisser ­haben aus den Objekten der Jubiläumsausstellung nochmals die 100 Interessantesten herausgepflückt und beschreibe sie wissenschaftlich fundiert und leicht bekömmlich. Der Katalog funktioniert unabhängig von der Ausstellung, die Zeit beim Durchblättern vergeht im Flug.

Monika Mähr, Peter Müller (Hrsg.): ObjektWelten. 100 Entdeckungen. FormatOst, Schwellbrunn 2021, 38.–

Das Thema erlaubte Mähr und ihrem Team, frei und spartenübergreifend aus den über 70ʼ000 Objekten der HVM-Sammlungen zu wählen. Gleichzeitig sollte dennoch ein roter Faden erkennbar bleiben, weshalb man die Ausstellung räumlich wie konzeptuell in vier Kategorien eingeteilt hat: Vorgestellt werden die wertvollsten, seltensten, ältesten und lustigsten Objekte des Museums, ergänzt mit einigen der schönsten, überraschendsten, gruslig­sten und kleinsten Stücke. Jeder Ausstellungsbereich erzählt zudem etwas zur Sammlungsgeschichte der vier Abteilungen des Hauses: Völkerkunde, Geschichte, Archäologie und Kindermuseum. «Die Auswahl der 100 Top-Highlights für den Ausstellungskatalog wurde im Team besprochen – es hätten ebenso gut 100 andere Objekte sein können», sagt Kuratorin Monika Mähr.

Die «ruhmreiche Vergangenheit»

Auch das Publikum ist eingeladen, den Zufall spielen zu lassen. Im abgedunkelten Eingangsbereich, dem Zentrum der Sonderausstellung, hat Ausstellungsbauer Erwin Bosshart ein Glücksrad installiert, das anzeigt, welchen der vier Räume man als nächstes betreten soll. LED-Bänder, die in den Boden eingelassen sind, weisen den Weg strahlenförmig weg vom zentralen Objekt, das die Dunkelkammer beherrscht: eine eiserne Schwertklinge, die einem Grab aus dem 7. Jahrhundert in Sorntal zwischen Waldkirch und Niederbüren entnommen wurde. Die Klinge markiert zusammen mit weiteren frühmittelalterlichen Artefakten den Ursprung der Sammlung des Historischen Vereins des Kantons St.Gallen, die wiederum die Grundlage der historischen Sammlung des HVM bildet.

Und damit ist eigentlich schon klar, dass das HVM nicht bloss ein städtisches Museum ist, sondern für die gesamte Region eine Bedeutung hat. Auch wenn das Stadtmodell, das die Situation von 1642 nachbildet, nach wie vor zu einem der beliebtesten Stücke der Dauerausstellung zählt. Die Stadt trägt immer noch das Gros der Museumskosten. Die Frage nach mehr kantonaler Bedeutung wird immer mal wieder thematisiert, scheitert aber meist an regionalpolitischen Realitäten. Separat geregelt ist die Finanzierung der Archäologie, die alleine vom Kanton getragen wird.

In den Sammlungen finden sich denn auch etliche Trouvaillen aus dem ganzen Kantonsgebiet. Beispielsweise die volkstümlichen Masken aus dem Oberland, mehrere ins Museum eingebaute Zimmer, der Feuerstein aus dem Drachenloch oder die Bernsteinkette vom Montlingerberg aus vorrömischer Zeit. Das Rohmaterial dafür gelangte aller Wahrscheinlichkeit nach von der Ostsee nach Italien, wo es zum Schmuckstück verarbeitet wurde, bevor es schliesslich im Ostschweizer Boden verschwand und erst 1913 bei Steinbrucharbeiten wieder zum Vorschein kam. Ebenso wie die Kette belegt die etwas jüngere Sarganser Bronzestatuette mit etruskischem Helm, dass das Rheintal schon vor weit über 2000 Jahren Verkehrsknotenpunkt eines paneuropäischen Handelsnetzes war. Zum regionalen Rückschritt in die Provinzialität kam es so gesehen erst vor Kurzem.

Festschrift

Die Quellenlage bis in die 1970er-Jahre ist nicht berauschend. Umso erstaunlicher, was Peter Müller für die 220-seitige ­Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum des HVM alles zu Tage gefördert hat. Zuerst zu nennen wäre das erstmals systema-
tisch zusammengetragene, rare Bildmaterial aus alten Tagen: die Völkerkundesammlung im Stadthaus bis 1917 oder die ­historische Sammlung im «Alten Museum», dem heutigen Kunstmuseum, dann aber auch die Stadtpark- und Innenansichten von 1921. Hübsch sind auch die historischen Quellentexte: Amüsant und aufschlussreich etwa die Betrachtungen von 1932, in denen Hans Krucker, damals Leiter der Völkerkundeabteilung, die Museumsbesucher:innen typologisiert. Oder der weitgereiste Wilhelm Zollikofer, der noch als 80-jähriger in Aufseheruniform durch die Säle schlurft, 1961 in der «Ostschweiz» rührend porträtiert vom legendären Lokalredaktor Hermann Bauer. Herausgegeben ist die kurzweilige Festschrift von Peter Müller. Sie enthält Textbeiträge von ihm und elf weiteren Autor:innen, darunter etwa Jeanne Fichtner-­Egloffs Gedanken zur «Welt in der Vitrine» oder Louis Speckers Plädoyer für mehr Alltagsgeschichte im Museum.

Peter Müller (Hrsg.): MuseumsWelten. 100 Jahre. FormatOst, Schwellbrunn 2021, 38.-

Man hat 1914 noch nicht geahnt, dass der anstehende Grosse Krieg in Europa so lange und so verheerend wüten würde. Dass gleichzeitig das Fundament sanktgallischen Reichtums, die Stickereiindustrie, im Niedergang begriffen war, wollte und konnte man nicht wahrhaben. Dennoch waren die Aussichten getrübt. Und was wäre «geeigneter, dem gefährdeten Glauben an die Zukunft wieder aufzuhelfen als ein Blick in eine ruhmreiche Vergangenheit?» So beschreibt Louis Specker, 1980 bis 2004 Leiter des Historischen Museums, in der aktuellen Festschrift die damalige Gemütslage.

Mit 248 zu 0 Stimmen beschloss die versammelte Ortsbürgergemeinde also an jenem verhängnisvollen 28. Juni 1914, dem Tag des Attentats von Sarajevo, St.Gallen mit einem musealen Neubau zu beglücken. Den kulturhistorischen und völkerkundlichen Sammlungen sollte damit Raum und dem Kunklerbau weiter vorne im Stadtpark wieder mehr Luft für Kunst und Naturhistorisches verschafft werden. Die Finanzierung war zwar noch nicht vollständig gesichert, aber man wollte mit den Aufträgen nicht länger zuwarten.

Neoklassizistischer Bürgertempel

Gerade weil die Kriegswirren ja bald überstanden sein würden und die Stickerei wieder zu alter Blüte finden sollte, St.Gallen also Weltstadt bleiben würde, liess man sich beim Neubau nicht lumpen. Bescheidener fiel die Eröffnung nach sechsjähriger Bauzeit im Frühling 1921 aus, wie die NZZ meldete: «Die Eröffnung des Museums erfolgte in einfachster Form am 31. März. St.Gallen steht heute unter dem schweren Druck einer noch nie dagewesenen Baisse der Stickereiindustrie und deshalb hätte ein lautes Fest keine laute Freude auslösen können.» So hat man eben nur die Crème der St.Galler Gesellschaft eingeladen, um nicht noch eventuell gierige Volksmäuler abspeisen zu müssen. Es hätte einfach nicht gepasst.

Wie es sich für das Bürgertum des ausgegangenen 19. Jahrhunderts ziemte, ist ein monumentales, leicht überdimensioniertes Bauwerk entstanden, im selben Geist wie das Hauptgebäude des Bahnhofs (1913) oder die Hauptpost (1915). Heute sind die sechs ehrfurchtgebietenden Säulen mit ionischen Abschlüssen an der Front des neoklassizistischen Baus in jubilierendes Gold gefasst. Ganz nach dem Geschmack von Daniel Studer, HVM-Direktor und Jugendstil-Experte, der jetzt nach 19 Jahren sein Zepter an den Zürcher Archäologen und Südamerikakenner Peter Fux übergeben wird.

Die opulente Museumsarchitektur strahlt bildungsbürgerliches Selbstbewusstsein aus, für St.Galler Geschmäcker vielleicht einen Tick zu viel. Der Historismus hat originale und nachempfundene barocke Elemente im Gebäudeinnern verschmelzen lassen. Heute würde man das klarer trennen. Auch die unverrückbaren, mittlerweile denkmalgeschützten Glasvitrinen in der Völkerkundeabteilung sind architektonischer Klotz am Bein dynamischer Ausstellungsgestaltung und zeitgemässer Vermittlungsarbeit. Sie haben heute höchstens noch einen Wert als eigenständige Museumsobjekte, die bezeugen, welcher Blick auf das Andere, das Fremde und angeblich Rückständige einst gepflegt wurde: getrennt durch eine Scheibe in zurückhaltender Distanziertheit vor allzu viel fremdländischer Unmittelbarkeit.

Ein wenig sehnsüchtig schrieb Geograf Hans Krucker, der die völkerkundliche Sammlung 1928 bis 1969 betreute, an einen Schweizer Tierhändler in Tansania: «Hier in der Ostschweiz draussen sind wir an einem ruhigen (zu ruhigen) Fleck Erde zuhause, als dass uns viel passieren könnte, wogegen den Herren Überseern immer wieder allerhand in den Weg kommen kann.»

Kulturpessimist Krucker verstand die ethnografische Sammlung, die aus jener der 1878 gegründeten Geographisch-Commerciellen Gesellschaft hervorging, stets als Dokumentationsstelle untergegangener oder zumindest dem Untergang geweihter Kulturen. Ähnlich konservatorisch motiviert hat beispielsweise Textilmulti Hans Bäumler für die «Arche Noah», sein 2019 eröffnetes Privatmuseum in Hohenems, bedrohte Alpen- und Savannentiere geschossen und ausgestopft.

Kolonialware: Vonwillers Ansage, Schäfers Verdienst

Eigentlich sind solche Zeiten längst vorbei. Die Völkerschau «Sam’s Negerdorf», die 1904 in St.Gallen gastierte und mit einem echten Neugeborenen erfolgreich um die Gunst des Publikums buhlte, wäre schon 50 Jahre später kaum mehr denkbar gewesen. Das HVM hat früh differenziert, wenn auch in zeitgeistiger Weise. Robert Vonwiller, der erste Leiter der Völkerkundeabteilung, sagte schon 1917 in seiner Rede anlässlich der Schenkung der völkerkundlichen Sammlung an die Ortsbürgergemeinde: «Indem die Völkerkunde den Blick weitet und uns die andersfarbigen Mitmenschen richtig einschätzen lehrt, stellt sie sich in den Dienst der Gerechtigkeit und hat, richtig erfasst, die ethische Wirkung, den europäischen Hochmut nach dieser Seite hin zu korrigieren.»

Das HVM hat nun längst erkannt, dass es seine kulissenhaften, rassistischen Schaufiguren, die sogenannten Umlauff-Figuren, höchstens noch korrekt kontextualisiert zeigen kann. So zum Beispiel in der aktuellen Jubiläumsaustellung jene Herero-Frau in traditioneller Ledertracht, die an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Volksgruppen der Herero und der Nama 1904 bis 1908 erinnert. Die Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland über den Umgang mit diesem Kolonialverbrechen stehen kurz vor dem Abschluss.
Bestimmt lagern mit den Tausenden geschenkten und zugekauften Objekten aus Afrika, Asien, Amerika und Ozeanien auch zahlreiche museologisch-koloniale Leichen im Keller des HVM. Peter Müller, der hier die Provenienzen seit über zehn Jahren erforscht, räumt in einem Beitrag im Sammlungskatalog zur Jubiläumsausstellung (siehe Anmerkungen) ein, dass in vielen Fällen nicht dokumentiert sei, auf welch verschlungenen Pfaden die ethnografischen Objekte in europäische Hände gelangten.

«Wir müssen uns vom Expertengedanken verabschieden»: Jeanne Fichtner, Asienkuratorin.

Auch wenn es einigen Kritikern zu lange dauert und zu wenig offensiv kommuniziert respektive im Museum vermittelt wird: Das HVM macht keinen Hehl daraus, wenn es einmal problematische Objekte aussondiert hat. Achim Schäfer war es zu verdanken, dass zwei Silberpokale – Naziraubkunst, die in den 1960er-Jahren als Schenkung ins HVM gelangten – 2017 den rechtmässigen Besitzern zurückgegeben werden konnten.

Und bis zuletzt hat sich Schäfer als Leiter der Afrikasammlung auch um einen fairen Dialog über die umstrittenen Benin-Bronzen bemüht. Sogar eine Restitution hat er nicht von vornherein ausgeschlossen. Diesen Frühling hat sich das HVM der Benin-Initiative des Rietberg-Museums angeschlossen. Das ethnografische Museum in Zürich führt nun Gespräche mit nigerianischen Fachleuten im Namen aller beteiligten Schweizer Museen, die britisches Raubgut aus dem alten Edo-Königreich in ihren Katalogen führen.

Dem Salzdieb auf der Spur

Auch Kunst- und Kulturhistorikerin Jeanne Fichtner-Egloff, Asienkuratorin des HVM, ist sich der Problematik des kolonialistischen Blicks bewusst. Gleichzeitig betont sie die Schwierigkeit, die ethnografische Sammlung à jour zu halten, um auch aktuelle Lebenswelten abbilden zu können. Mit der Stickereikrise brachen die alten St.Galler Handelsbeziehungen ab, womit auch der Zustrom kolonialer Objekte versiegte. «So wurden aus zeitgenössischen Sammlungen plötzlich historische», sagt die Japanologin.

Der Zugang über kulturübergreifende Einzelthemen erleichtert den Umgang mit historischen Sammlungen. Wie das funktionieren kann, hat Fichtner-Egloff mit der Neugestaltung der Dauerausstellung im Asiensaal gezeigt. In fünf Jahren Konzeptions- und Aufbauarbeit hat sie die Sammlungen vom grössten Kontinent unter dem Thema «Spiel der Kulturen» zusammengefasst. Darin schwingt ein Interesse an konkreten Spielpraktiken einzelner Kulturen ebenso mit wie die Faszination für die Verflechtungen der asiatischen Kulturen über die Jahrtausende hinweg.

Die Objekte sind damit nicht mehr nur vermeintlich repräsentative Artefakte für ein isoliert betrachtetes «Volk», sondern Zeugen gegenseitiger Beeinflussung von Menschen, die schon immer in irgendeiner Weise miteinander in Kontakt traten und nebst Schwerthieben immer auch kulturelles Wissen austauschten.
Es reicht heute nicht mehr, die Gegenstände für sich alleine ins Museum zu stellen. Es gilt, ihre kulturelle Vernetzung bis ins Hier und Jetzt museal abzubilden. «Kuratieren heisst Vermitteln», sagt Jeanne Fichtner-Egloff. «Wir müssen uns vom Expertengedanken verabschieden. Nur als Team kann es uns gelingen.»

Zuständig für Vermittlung und Bildung im HVM ist Jolanda Schärli. Ihr 50-Prozent-Pensum wirkt schmörzelig, verglichen etwa mit dem sechsköpfigen Vermittlungsteam, das sich das Vorarlbergmuseum in Bregenz leistet. Eine aktive Beziehung zum Publikum aufzubauen und zu pflegen, wird immer wichtiger. Schärli arbeitet für drei, attestieren ihr die Teamkolleginnen, und Bregenz ist ihr heimliches Vorbild. Einst zuständig für die klassischen Schulführungen, organisiert sie mittlerweile auch Workshops für alle Generationen: Kochen wie im Mittelalter, Mangazeichnen für Jugendliche und gerade aktuell Stoffdruck. In Zusammenarbeit mit dem Solihaus hat sie auch schon spielerisch-museale Deutschkurse für Geflüchtete konzipiert – ein Angebot, das sie gerne wieder beleben möchte.

«Das Museum sollte auch rausgehen, hin zur Bevölkerung und in die Quartiere»: Jolanda Schärli, Vermittlerin im HVM.

Im Moment arbeitet Schärli zusammen mit Rafael Huber, einem Geschichtsstudenten mit Pfadierfahrung, an einem mittelalterlichen Break Out-Spiel (Escape Room ist ein geschützter Markenname). Dabei lösen die Besucherinnen und Besucher mehrere Rätsel um die Geschichte eines Salzdiebs, einer Hebamme und eines Baders. Die Informationen zu den historischen Figuren basieren auf Briefen aus dem Stadtarchiv, die ebenfalls in der Ausstellung «Mittelalter am Bodensee» gezeigt werden. Ausstellungsbeginn ist der 1. Oktober 2021. Im Weiteren ist eine Publikation in der «Guides à pattes»-Reihe in Arbeit, ein reich illustriertes Sachbüchlein, das Kindern das frühmittelalterliche St.Gallen näherbringen soll – vom Klosterleben über den Steinsarkophag bis zum Mordopfer.

Der Dritte Ort

«Das Museum sollte auch rausgehen, hin zur Bevölkerung und in die Quartiere», findet Schärli. Denkbar sei beispielsweise ein Container im Bachareal in St.Fiden. Schon konkretisiert ist das Archäomobil, das verschiedene Ostschweizer Kantone lanciert haben und der Bevölkerung die Archäologie näherbringen soll. Am Stadtfestwochenende wird es vor der Hauptpost stehen. Das Museum könnte sich so auch als «Dritten Ort» positionieren, ein Ort zwischen Privatem und Öffentlichem, wo Leute sich ungezwungen austauschen und gerne Zeit verbringen. Dazu gehörte auch ein ausgebautes gastronomisches Angebot.

Aber eben: Vermittlung ist sehr aufwändig und somit teuer. Die stellvertretende Direktorin Monika Mähr legt ihr kuratorisches Augenmerk auf das Kerngebiet des Museums: die Gestaltung von Ausstellungen. «Die Zielgruppen müssen im Zentrum stehen. Und bei der Planung einer Ausstellung muss die Vermittlung natürlich von Anfang an mit im Boot sein.» Die Nähe und die Interaktion mit dem Publikum sei wichtig. Beispielsweise könnten über Lichtkonzepte, Farben oder spezielle Präsentationsformen auch die Emotionen angesprochen werden. Das Museum müsse nicht belehren, sondern dürfe auch einfach mal Fragen aufwerfen – und im besten Fall Antworten finden.

So geschehen bei einem kuriosen gläsernen Objekt, das ebenfalls in der Jubiläumsausstellung zu sehen ist. Es ist vor einigen Jahren als Teil einer Schenkung von mehreren Bananenschachteln voller Christbaumschmuck ins Museum gelangt. Es sieht ein bisschen aus wie eine Birne mit Fensterchen oder ein kleines U-Boot. Bei einer Führung klärte ein begeisterter Besucher die Kuratorin auf: Es handle sich um den Rumpf einer Do X, eines Verkehrsflugschiffs, das Deutschland Ende der 1920er-Jahre im Dornierwerk in Altenrhein bauen liess, um die Versailler Verträge zu umgehen.

Monika Mähr sieht in der Mehrspartigkeit des Hauses weniger ein Hindernis als vielmehr eine Chance, einzelne Themen in grössere Zusammenhänge zu stellen. Ein besonderes Anliegen bleibt die Stadtgeschichte. Ihr schwebt etwa eine Ausstellung unter dem Titel «Kindheit in St.Gallen» vor, eine Steilvorlage für die Vermittlung, das Publikum schon bei der Recherche einzubeziehen.

Die knapp 20-jährige Ära Studer war kunstgeschichtlich geprägt. Wo die Reise im zweiten HVM-Jahrhundert hinführt, ist noch offen. Der neue Direktor Peter Fux, Anhänger einer philosophischen Anthropologie und eines ganzheitlichen Blicks auf die Menschen in ihrem Wirken in der Welt, wollte sich bisher noch nicht in die Karten blicken lassen. Etwas mehr lokale Zeitgeschichte dürfte es sein, findet Monika Mähr. «Zur jüngeren Stadtgeschichte haben wir aber noch zu wenig Objekte. Da müssen wir unsere Sammlungsstrategie noch etwas schärfen, vielleicht auch wieder hin zum Alltäglichen.» Denn im Grunde könne, auf dem musealen Sockel inszeniert, alles zum Kulturschatz erhoben werden und eine Geschichte erzählen. Sogar ein 150-jähriges Guetzli.

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