In einer der ersten Szenen von It Was Just an Accident geschieht der titelgebende Unfall: ein Hund wird auf einer Landstrasse überfahren. Ein daraus resultierender Riss des Keilriemens zwingt Vahid, den Fahrer des Unfallautos, dieses in einer Werkstatt reparieren zu lassen. Dort glaubt Vahid in einem der Angestellten die Stimme (und das Holzbein) jenes Mannes zu erkennen, der ihn Jahre zuvor im Gefängnis regelmässig gefoltert hatte. Allerdings hatte er damals den Mann nie zu Gesicht bekommen, weil ihm stets die Augen verbunden waren. Kurzerhand entführt Vahid den Mann, sperrt ihn in eine Holzkiste, fährt in die Wüste und will den Mann dort lebendig begraben.
Als der Entführte darauf besteht, dass es sich um einen Irrtum handle, bricht Vahid sein Vorhaben vorerst ab, sperrt den Mann wieder in die Kiste und fährt zurück in die Stadt. Dort sucht er vier ehemalige Leidensgenoss:innen aus der Gefängniszeit auf. Zwar können diese Vahids Zweifel an der Identität des Entführten ausräumen, beginnen dann aber bald heftig darüber zu streiten, ob der Mann nun wirklich den Tod verdiene. Die vier Menschen, die Vahid begleiten, gehören unterschiedlichen sozialen Schichten an: eine Hochzeitsfotografin, ein Brautpaar, das am nächsten Tag heiraten will, und ein Arbeitsloser.
Filmidee im Gefängnis entstanden
Jafar Panahi drehte den preisgekrönten Film, wie auch die Vorgängerfilme, heimlich. Über die Entstehungsgeschichte von It Was Just an Accident sagte der Regisseur am Filmfestival Locarno im vergangenen August: «Ich war von Juli 2022 bis Februar 2023 im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert. Die meiste Zeit war ich in einer Zelle zusammen mit meinem Freund und Filmemacherkollegen Mohammad Rasoulof, wobei wir uns dauernd über Filme und Filmideen austauschten. Wir waren auch oft mit vielen anderen Gefangenen zusammen und hörten deren Geschichten.» Jedes Mal, wenn man ihn zum Verhör geholt habe, seien ihm die Augen verbunden worden. Insofern sei die Idee für die Figur des Vahid von seinen eigenen Erfahrungen inspiriert gewesen.
Die andern vier Figuren seien teils direkt aus den Geschichten der erwähnten Mitgefangenen entstanden, aber auch aus Erfahrungsberichten, die er gehört habe, als er wieder in Freiheit gewesen sei. Dabei repräsentierten alle fünf Protagonist:innen im Film eine bestimmte Gruppe der heutigen iranischen Gesellschaft. «Und diese spaltet sich in zwei Teile auf: jene, die an die Notwendigkeit von Gewalt glaubt und jene, die für einen friedlichen Umgang miteinander plädiert. Und ich versuche in meinem Film zu zeigen, dass zwischen diesen zwei Teilen der Gesellschaft ein Dialog stattfinden muss.»
Brutale Realität wird spürbar
Zu den eindrücklichsten Momenten im Film gehören jene, in denen erfahrbar wird, wie traumatisiert die fünf Personen sind, durch ihre Erfahrungen von Folter und den Haftbedingungen . Und wie sie dabei unterschiedlich getriggert werden. So rastet etwa der Arbeitslose völlig aus, als er erstmals das Holzbein des Entführten berührt. Ein Holzbein, das von einer Verletzung herrührt, die der Mann seinerzeit im «Heiligen Krieg» gegen den Irak erlitten hatte. Der Entführte war damals voller Überzeugung in diesen Krieg gezogen und scheint immer noch stolz darauf zu sein. Der Begriff «Heiliger Krieg» ist es, der bei der Hochzeitsfotografin schreckliche Erinnerungen wachruft. Es stockt einem als Zuschauer:in der Atem, als die Frau von ihrer Scheinhinrichtung samt angekündigter Gruppenvergewaltigung erzählt. Denn derartiger Horror ist nicht Jafar Panahis Fantasie entsprungen, sondern brutale Realität in den Gefängnissen des Iran. Eines Landes, das, gemäss kürzlich veröffentlichter Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen, den weltweiten Spitzenplatz einnimmt, wenn es um die Anzahl Hinrichtungen geht.
Wie Panahi am Filmfestival Locarno erzählte, hat dabei die Repression seit den israelisch-amerikanischen Angriffen auf den Iran vom vergangenen Juni nochmals zugenommen. Auf die Frage, ob der Film seit seiner Weltpremiere vom Mai in Cannes nun nach diesem 12-Tage-Krieg möglicherweise anders wahrgenommen werde, war Panahis Antwort so klar wie vielsagend: «Diese Bombardierungen waren eine Katastrophe. Aber jede Diktatur braucht für ihren Fortbestand die Katastrophen.»
It Was Just an Accident: ab 31. Oktober, Kinok, St.Gallen; ab 1. November, Kino Rosental, Heiden; ab 4. November, Kino Roxy, Romanshorn.