, 29. Januar 2017
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Vor den Schranken des Theaters

In der St.Galler Lokremise wird Gericht gehalten. Darf man Menschen töten, um viele andere zu retten? Das Bestseller-Stück «Terror» von Ferdinand von Schirach ist differenzierter als die plakative Schuldfrage. Sebastian Ryser berichtet.

(Bilder: Tanja Dorendorf)

In Ferdinand von Schirachs Stück Terror, das am Donnerstag am Theater St.Gallen Premiere hatte, wird auf der Bühne ein fiktiver Gerichtsfall durchgespielt. Angeklagt ist der Militärpilot Lars Koch (Tobias Graupner), der ein Personenflugzeug mit 164 Personen an Bord abgeschossen hat. Die Crux: Das Flugzeug wurde zuvor von Terroristen entführt, die es in ein vollbesetztes Fussballstadion hätten stürzen lassen, in dem sich 70’000 Menschen befanden.

Darf man Menschenleben opfern, um eine grössere Anzahl Menschenleben zu retten? Diese Frage wird im zweistündigen Stück von einem Richter (Tim Kramer), einem Staatsanwalt (Bruno Riedl), einem Strafverteidiger (Matthias Albold) und zwei Zeugen (Hansjürg Müller, Jeanne Devos) verhandelt. Der Clou: Am Ende wird den Zuschauerinnen und Zuschauern die Entscheidung über das Urteil der Gerichtsverhandlung übertragen.

Diese Form der Partizipation scheint einen Nerv zu treffen: Terror wurde in den letzten beiden Saisons auf deutschsprachigen Bühnen rauf- und runtergespielt. Und die Fernsehadaption lockte im vergangenen Oktober ein Millionenpublikum vor den Fernseher.

Die Theatralität des Gerichts

Anders als durch die Möglichkeit zur Partizipation lässt sich der Erfolg von Terror aber kaum erklären. Denn der Text ist nicht wirklich theatralisch, sondern folgt der steifen Dramaturgie einer realen Gerichtsverhandlung. Das Stück läuft deshalb Gefahr, trotz geschliffener Sprache zu einem trockenen juristischen Lehrstück zu werden.

Das Plädoyer des Staatsanwalts.

Nicht aber bei Regisseur Manuel Bürgin, der das Stück nun in der Lokremise inszeniert hat: Er hat die schwierige Vorlage nicht nur geknackt, sondern arbeitet zusammen mit seinem – an diesem Abend ausserordentlich starken ­– Ensemble eine neue Dimension aus dem Text heraus. Er lässt das Gericht und das Theater in Dialog treten. Bürgin interessieren nicht in erster Linie die Plädoyers, Argumente und Befragungen, sondern das Gericht als Raum, als Dispositiv, als Geräuschkulisse. So zeigt seine Inszenierung die Gerichtsverhandlung und lässt dabei gleichzeitig die Künstlichkeit des theatralen Settings permanent durchscheinen.

Bühnenbildnerin Beate Fassnacht hat die Lokremise in drei Ebenen unterteilt und so in ein transparentes Gericht verwandelt. Der Zeugenstand, der Gerichtssaal und das Vorzimmer stapeln sich hintereinander, wobei in allen drei Räumen synchron gespielt wird: Während der Staatsanwalt vorne ein Plädoyer hält, ist die Gerichtsschreiberin (Souffleuse Dorothea Gilgen) mit ihrem Computer beschäftigt, und hinten tigert die Zeugin auf und ab.

Besonders bestechend sind die Klangdetails, die Sounddesigner Martin Hofstetter konzipiert hat. Durch versteckte Mikrophone, die über die Bühne verteilt sind, werden in präzise festgelegten Momenten typische Geräusche des Gerichts verstärkt hörbar: das Klappern einer Tastatur, das Anzünden eines Feuerzeugs, ein Husten, das Verschliessen einer Kaffeekanne, ein Schnäuzen, das Ausdrücken einer Zigarette. Diese Details fügen sich zu einem subtilen Klangteppich und strukturieren den Text. Es ist hohe Präzisionsarbeit, mit der Bürgin und sein Team das Stück erarbeitet haben.

Die Pflicht des Gerichts

Am Ende folgt dann nach zwei Stunden Befragungen, Zeugenaussagen und Plädoyers die Abstimmung. Das Publikum ist gefragt. Aber nachdem auf der Bühne eine differenzierte Debatte in ihrer ganzen Komplexität entfaltet worden ist, will man weder hinter einem klaren «schuldig» noch hinter einem klaren «unschuldig» stehen. Diese Zuspitzung kommt einer argen Vereinfachung gleich. Das Publikum wird an einen Punkt gebracht, an dem «gesunder Menschenverstand» gegen rechtsstaatliche Prinzipien in Stellung gebracht wird.

Zeugin, Angeklagter und Verteidiger.

Das St.Galler Premierenpublikum fällt zwar ein Urteil: Freispruch, mit 72 gegen 46 Stimmen. Es liegt damit auf der Linie sämtlicher deutschsprachiger Theater, die das Stück bisher inszeniert haben, wie der Theaterverlag Gustav Kiepenheuer fortlaufend dokumentiert: In rund zwanzig Städten gab es ausschliesslich Freisprüche, in etwa gleich vielen Städten resultierte in einzelnen Vorstellungen ein Schuldspruch, an ebenfalls rund zwanzig Spielorten kommt das Stück erst noch auf den Spielplan, so auch (ab Mai) in Konstanz. Einzig in Japan hiess es, bei vier Vorstellungen, viermal «schuldig». 258’000 Menschen haben bisher Richter gespielt, 60 Prozent sprachen den Piloten frei.

Aber das Unbehagen bleibt. Bauchgefühl statt Rechtsphilosophie: Ganz so einfach ist es nun mal nicht! Man wünschte sich, die Pointe von Schirachs Stücks wäre so subtil wie die Inszenierung an diesem Abend.

Weitere Vorstellungen bis 22. Februar, Theater St.Gallen

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