Vorher/Nachher
Erinnerungen an den 24. Februar 2022
von Liliia MatviivIch stehe hier und beobachte, wie die frostige Sonne die Baumkronen schmückt. Die grünen St.Galler Hügel sind mit Schnee bedeckt. Langsam werden sie golden und der Himmel über ihnen ist so rosa. Morgendlicher Raureif.
Diese Landschaft, still, friedlich und so ruhig, ist meine persönliche Meditation. Ich nehme einen Schluck Kaffee und versuche mir selbst zu sagen: Na, hallo, du. Du bist hier und du bist jetzt. Dieser Morgen, diese Stille und ein weisses Blatt Papier – sie wecken mich aus meinem Traum, in dem es so etwas wie einen Krieg gab.
Noch ein Tag, sage ich mir, und die grünen Berge nicken.
Wahrscheinlich erinnern sich alle, die am 24. Februar 2022 die Nachrichten gelesen haben, wie der Krieg für sie angefangen hat. Der im heutigen Europa unmenschlichste Krieg, den man kaum für möglich gehalten hätte. Für manche begann der Krieg mit angsteinflössenden Nachrichten auf ihren Handys. Ich war zu der Zeit sozusagen jenseits der Barrikaden. Anfangs dachte ich sogar, es würde mir später schwerfallen, mich an alles zu erinnern. Aber nein, den Tag, an dem alles anfing, kann ich bis in die Sekunden festhalten. Und das wahrscheinlich für immer.
Ich will euch erzählen, wie mein Leben, samt einem aufgebauten Häuschen, einem geilen Job, Kollegen und Alltag, eines Tages gekippt ist. Und das nicht einfach mal so, sondern wegen der absurdesten Sache, die man sich vorstellen kann. Vielleicht werden irgendwann viele Filme und Bücher davon handeln. Aber jetzt müssen wir uns erstmal noch erholen.
Dieser Tag. Glaubt ihr, dass wir darauf vorbereitet waren? Dass wir Journalist:innen die Nachrichten verfolgt, uns Sorgen gemacht und in Eile unsere Sachen gepackt haben? Ganz und gar nicht. Ehrlich gesagt wollten viele das bis zum Letzten nicht glauben. Auch später nicht, nachdem es längst losgegangen war.
Ich bin an diesem Tag früh aufgewacht, weil mich etwas im Schlaf gestört hat. Etwas hat gesummt. Ganz laut. So ein ekelhaftes Geräusch hatte ich noch nie gehört. Die Nacht war hart, ich hatte lange gegrübelt, denn am Morgen um 11 Uhr sollte ich zu einer wichtigen Sitzung. Darauf wollte ich mich noch vorbereiten – und wehe ich würde verschlafen.
Das Geräusch hörte nicht auf. Draussen dröhnte es, als würde die Welt untergehen. Ich deckte mich wieder zu und versuchte, weiterzuschlafen.
Am Morgen um 10 Uhr schrieb mir mein Arbeitskollege, der Krieg sei ausgebrochen. Ich war so erschöpft, dachte, das sei ein Witz. Und dass die bevorstehende Sitzung der schlimmste Grund sei, um aufzustehen. Oder dass ich noch träumen musste.
«Nein», sagte er, «tatsächlich Krieg. Wir haben Kyiv verlassen und sind schon seit gut fünf Stunden auf dem Weg Richtung Westukraine. Es gibt Explosionen.»
Auf einmal kam mir mein gemütliches Zimmer mit Schreibtisch und Balkon ganz seltsam vor. Ich ging auf den Balkon hinaus. Schaute zum Himmel hinauf. Ich dachte, er habe sich verändert. Explosionen. Was sollte das denn heissen, dachte ich mir, würde man etwa vom Himmel aus auf uns schiessen? Ich, eine vernünftige, gebildete junge Frau, weigerte mich, so einen Unsinn zu glauben.
Doch etwas lief schief. Es wurde mir klar, als das Dröhnen vom Morgen jetzt wesentlich lauter wurde. Es war eine Luftangriffswarnung. Der allerschlimmste Klang auf Erden. Man vergisst ihn nie wieder, selbst wenn nur einmal gehört. Da habe ich endlich verstanden, dass es kein Traum war. Etwas Schreckliches war vorgefallen.
Im Nachhinein erinnere ich mich an verschiedene Ereignisse, aber es war jene Sirene auf dem Balkon, die mein Leben für immer verändert hat. Es sind weder die Morde noch die Evakuierungen noch die Panik, an die ich mich zuerst erinnere. Krieg ist ein Klang. So kam er in mein Leben.
Wir machten ein Arbeitstreffen, online. Jemand stand unter Schock. Jemand sagte, er sei bereits in die Karpaten gegangen. Jemand war auf dem Weg in meine Heimatstadt Lviv, also eröffneten wir ein Büro für Flüchtlinge, für den Fall, dass noch andere hier eine Unterkunft oder eine Tasse Tee oder Kaffee brauchten. Damals wussten wir noch nicht, dass es bald unmöglich sein würde, das Büro zu betreten. Ich stand immer noch unter Schock und dachte: Was ist das für ein Krieg? Ist das ein Film? Freeze.
Gegen Mittag wurde ich hungrig. An dem Tag habe ich aber weder gegessen noch getrunken. Ich sass regungslos in meinem Sessel, während mein Handy platzte. Ich telefonierte mit einem Kollegen, der meinte «das geht nicht vorbei» und «wird geschossen, leg dich auf den Boden». Ich beschloss, die Nachrichten nun doch zu lesen in der Hoffnung, dass das alles am nächsten Tag vielleicht aufhört.
Ich blickte zu meinen Fenstern. Wer bitte schön sollte denn auf meine kleine, unordentliche Wohnung im zweitobersten Geschoss schiessen!? Damals wusste ich noch nicht, dass man das später tatsächlich tun würde, und zwar in der Strasse nebenan, nahe dem Flughafen.
Na dann, Zeit, Nachrichten zu lesen. Jede Nachricht übertraf die vorherige – überall Hinweise, wie man sich unter Beschuss zu verhalten hat, was zu tun ist, wenn man mit dieser oder jener Munition beschossen wird. Danach wollte ich mir nur noch einen Tee kochen und mich unter der Decke verkriechen.
Besonders spannend fand ich die Meldung, wie man einen sogenannten Angstrucksack – manche sagen auch Notfallkoffer – packt. Was soll das für ein Rucksack sein, hat er etwa Angst? Angst hatte man doch auch ohne genug. In diesen Rucksack gehörten also meine Dokumente, die nötigsten Sachen, Wasser und Kleider. Als ich so überlegte, was ich in einen solchen Rucksack packen könnte, der nicht für eine Bergwanderung gedacht ist, rief ich meine Eltern an.
Meine Mutter war gerade in der Apotheke und wollte mir irgendeinen Druckverband besorgen. Und Watte. Ich war mit allem einverstanden. Das Handy blinkte ununterbrochen von den Nachrichten in den Messenger-Apps. Wir hatten alle Angst, uns lief die Zeit davon.
Ich habe immer noch nicht verstanden, wie es sein kann, dass man eines Tages aufwacht und jemand auf einen schiessen will. Es war beängstigend, in den Himmel zu schauen. Meine Freund:innen haben bereits hunderte Male gefragt, ob ich nun endlich meinen Rucksack gepackt habe und aus dem Haus raus bin. Wo soll ich hinrennen? Hauptsache raus aus meinem Haus.
Wieder las ich die Nachrichten. Ich sass einfach nur da und las. Ungefähr bei dem Artikel, der davon handelte, wie man richtig auf den Boden fällt, um sich vor Artilleriebeschuss zu schützen, habe ich verstanden, dass ich handeln muss. Aber mein Körper hat nicht auf mich gehört. Ich war eingefroren, sass bewegungslos da. Und inzwischen standen andere bereits Schlange vor der polnischen Grenze.
Panik verspürte ich erstaunlicherweise nicht. Auch keine anderen Gefühle. Alles war sehr surreal. Als wäre ich in einem absurden Theater. Übrigens heute, also zwei Jahre später, wenn ich hier im gemütlichen Zimmer auf sicherem St. Gallen Boden sitze und draussen ein Flugzeug vorbeifliegt, wisst ihr, was ich dann mache? Ich schaue aus dem Fenster.
Aber kommen wir zu «dem Tag» zurück. Man sagt, an dem Tag standen alle Schlange vor den Läden und Geldautomaten. Doch ich war einfach zu Hause. Um mich herum wogte sich das wilde Meer, und es gab so viele andere Menschen wie mich. Als wären wir auf einsamen Inseln.
In den Nachrichten hiess es, dass es nachts Beschuss geben würde. Was ist zu tun, wenn man eine Luftangriffswarnung hört? Man zieht sich an, nimmt seinen Rucksack und verlässt das Haus, um Schutz zu suchen. Das ist leichter gesagt als getan, wenn es Nacht ist und überall Schnee liegt.
Und dann kam ja noch das Abenteuer mit der Suche nach einem Schutzraum – so etwas gab es nämlich in meinem Haus überhaupt nicht. Nicht einmal eine Garage. Nur einen muffigen Keller, in dem man Gemüsekonserven und ein paar alte Sachen aufbewahrt. Wenn ich mich also verstecken sollte, musste ich mir gut überlegen, ob ich zur Kirche in der Nähe rennen soll, die einen Schutzraum hatte, oder zu den benachbarten Wohnblocks, die zumindest eine Tiefgarage hatten. Und ich hatte nur zwei bis fünf Minuten Zeit, mich zu verstecken. Es gefiel mir immer weniger.
Das Filmgefühl verschwand, jedoch trat auch kein Realitätsgefühl ein. Während ich mir überlegte, dass ich mein Haus gleich verlassen und irgendwohin in die Nacht losrennen würde, wurde es langsam dunkel. Mir wurde nach und nach klarer, dass dieser Tag, an dem jede einzelne Sekunde endlos schien, nicht zu Hause in meinem Bett enden würde.
Meinen Freund:innen und Bekannten ging es ähnlich. Unsere Familie beschloss, sich zu treffen, obwohl wir in verschiedenen Teilen der Stadt wohnten. Aber es sah immer noch nach einer Art Plan B aus. Inzwischen war es dunkel. Die Nacht vor dem Fenster schien unheilvoll und gefährlich. Auch weil in den Nachrichten ständig von Artilleriebeschuss die Rede war.
Dann las ich, dass der Flughafen bei Iwano-Frankiwsk beschossen wurde. Das ist ganz in der Nähe von Lviv, meiner Stadt. Und ich wohnte direkt neben diesem Flughafen. In diesem Moment hatte ich eine Art erste Bewusstseinsmanifestation und ich begann schlagartig, meinen Rucksack zu packen. Ich hatte weder Wasser noch etwas zu essen da, also nahm ich das mit, was ich in der «Unterkunft» zu brauchen glaubte – Bücher, Dokumente, Pullover.
Die Ausgangssperre näherte sich, eine weitere Neuerung. Niemand durfte sich ab 22 Uhr mehr draussen aufhalten. Bis dahin blieb nur noch wenig Zeit, und ich musste zu dem Ort laufen, an dem meine Eltern wohnten und zu dem meine Schwester bereits unterwegs war.
Die öffentlichen Verkehrsmittel funktionierten nicht. Ein weiterer «Bonus». Also musste ich zu Fuss gehen. In der Nacht. Weg von zuhause. Irgendwohin. Weil jemand es auf mein Zuhause abgesehen hatte.
An diesem Punkt schienen sich alle meine Sinne auf einmal wieder einzuschalten, und ich erinnere mich, dass ich den Rucksack mit einer Wut packte, wie ich sie in meinem Leben noch nie empfunden hatte. Ich warf wahllos Sachen hinein, fluchte und stellte mir vor, dass es Putin war, wegen dem ich nachts im Winter irgendwohin in die Ungewissheit rennen musste.
Und dann rannte ich. Durch die apokalyptischen nächtlichen Strassen, die ganze Zeit zum Himmel schauend, durch den Schnee, in die bedrohliche Stille. Offenbar habe ich es geschafft, zehn Minuten vor der Ausgangssperre zum Haus meiner Eltern zu kommen, wo das Licht noch an war. Ab 22 Uhr musste es ausgeschaltet sein. Die Häuser mussten zu dieser Zeit dunkel sein, damit sie nicht zur Zielscheibe von Drohnen oder Ähnlichem wurden.
Beim Rennen durch völlige Finsternis, lediglich mit ein paar Unterlagen und Pullis im Rucksack, durch eine leere Stadt, in der auf einmal nichts mehr geöffnet hatte und nichts mehr leuchtete, begriff ich, dass das friedliche Leben nun für immer vergangen sein würde, auch wenn wir die Nacht überleben.
Seither könnte ich ein Buch oder noch besser ein Drehbuch über meine Erlebnisse schreiben. Oder viele Bücher. Doch ich bin nun hier, gehe durch die Strassen der Stadt, die zu meinem neuen Zuhause wurde und die meinem liebsten Lviv so ähnlich ist, und erst langsam empfinde ich mich als einen Teil dieses Raums. Nicht einmal das – ich fange an, es zu spüren.
General Saluschnyj sagte in einem Interview mit dem «Economist», die Ukraine brauche für den Sieg Reserven, Minenräumung, die neusten Waffen, Drohnen und die Luftwaffe. Das könne ganz lange dauern oder ganz schnell gehen.
Keiner weiss, wie man der Welt zur Harmonie, Entwicklung und Frieden verhilft. Doch da bin ich nun, schreite über den sicheren St.Galler Boden. Und erkenne, dass menschliches Leben der allergrösste Wert ist. Das mögen sehr einfache oder sogar prätentiöse Worte sein für all jene, die noch nie erfahren mussten, was es bedeutet, einen Angstrucksack zu packen. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich eines Tages alles aus diesem Blickwinkel betrachten würde. Es gibt dich und es gibt jemanden, der gekommen ist, um dich zu töten. Buchstäblich oder moralisch. Und dass sich so etwas nicht nur im Kino abspielt.
Nun sind zwei Jahre vergangen, seitdem der grösste Kampf zwischen zwei UN-Mitgliedstaaten seit dem Zweiten Weltkrieg ausgebrochen ist. Mitten im Herzen Europas. In den ersten Tagen der grossangelegten Invasion zogen Tausende von Ukrainer:innen vom Osten in den Westen des Landes und dann ins Ausland. Manche blieben zurück, manche meldeten sich freiwillig zum Kampf.
Die terroristische Aggression der Russischen Föderation gegen die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine erfolgt unter entsetzlicher Verletzung aller Regeln und Kriegsgesetze, durch Angriffe auf friedliche Städte, Dörfer, Schulen, Museen und Kindergärten. In der Silvesternacht wurde zum Beispiel ein Museum in Lviv bombardiert, wo ich oft war. Es ist ein Wunder, dass das Klavier dort nicht niedergebrannt ist.
Die Welt hat sich verändert. Es scheint, als müssten wieder einmal die Mächte des Guten das Reich des Bösen besiegen, um die Harmonie wiederherzustellen – und das ist leider kein Drehbuch für einen neuen Tolkien-Film, sondern eine Realität in der internationalen Geopolitik. Und in dieser Realität lernt man wieder zu leben, lerne ich, wieder zu leben.
Ich schnappe mir einen Becher Kaffee «to go» und ein leckeres Sandwich. In St. Gallen schaue ich oft zum Himmel hinauf. Es ist so wichtig, dass er friedlich ist.
Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin hat einen Master in internationalem Journalismus. In den letzten 15 Jahren hat sie für eine internationale NGO, verschiedene Magazine und Fernsehformate gearbeitet sowie ein Medien-Startup gegründet. Sie ist vor eineinhalb Jahren in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St. Gallen. Ol’ha Gneupel hat den Text übersetzt.