, 20. Mai 2022
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Wachstumskritik: Das Fenster ist wieder offen – zum letzten Mal

Die 1970er-Jahre hätten die Gesellschaft nachhaltig sozialer und ökologischer gestalten können. Sogar die HSG verehrte damals die Popstars der globalen Wachstumskritik. Doch es kam bekanntlich anders. Ein Essay zu 50 Jahre «Grenzen des Wachstums».

Verleihung der Ehrendoktorwürde 1974 an Aurelio Peccei, rechts, durch den damaligen HSG-Rektor Hans Siegwart. (Bild: Archiv HSG)

Das Jahr 1950 markiert den Beginn eines unerwarteten und beispiellosen Wirtschaftswachstums. Das Schweizer Bruttoinlandsprodukt wächst zu jener Zeit jährlich um mindestens vier bis fünf Prozent. Möglich ist das vor allem, weil die Schweiz Güter in benachbarte Länder exportiert, die gerade damit beschäftigt sind, ihre vom Krieg zerstörten Städte wieder aufzubauen. Gleichzeitig deponieren immer mehr Menschen aus dem Ausland ihr Geld auf Schweizer Bankkonten. Gute Zinsen, niedrige Steuern und ein solides Bankgeheimnis machen die Schweiz zu einem Geldparadies.

Es ist eine Welt, in der Arbeitslosigkeit so gut wie nicht existiert. Es herrscht Vollbeschäftigung. Noch heute träumen unverbesserliche Politiker:innen davon, dieser Zustand möge sich nochmals wiederholen. Forget it! Die Löhne im «Wirtschaftswunder» der Nachkriegszeit steigen rascher als die Lebenshaltungskosten. Die Nachkriegsgeneration ist häuslich, brav und angepasst. Familienwerte, Anstand und Fleiss zählen mehr als Selbstverwirklichung. Die Frau gehört hinter den Herd, dafür kauft ihr der Mann von seinem Gehalt einen Kühlschrank. Und sich selbst ein Auto. Eine ziemlich heile und sorglose Welt, in der unsere Eltern- und Grosselterngeneration gelebt hat?

Bis in die frühen 1970er-Jahre ändert sich – ausser der Form der Autos und dem Genre der Musik von Rock’n’Roll zu Punk – nicht viel. Alles ist erschwinglich und relativ billig. Fast täglich kommen neue Produkte auf den Markt, die es zuvor nicht gegeben hat. Die Industrie kann mit der Nachfrage kaum Schritt halten. Konsum, Konsum, Konsum. Und Wachstum, Wachstum, Wachstum ohne Ende. Fast ohne Ende.

Die Vernichtung der Ökosysteme

Das ungehemmte Wirtschaftswachstum der «Golden Age»-Generation hat bekanntlich krasse und deutlich sichtbare Spuren in der Umwelt hinterlassen. Weil sich immer mehr Leute eine Reise mit dem Flugzeug leisten konnten, stiegen zu jener Zeit auch Fluglärm und CO2-Ausstoss sprunghaft an. Und einen Tag nach der ersten Mondlandung im Sommer 1969 wurde in der Schweiz das erste AKW hochgefahren. Endlich Billigstrom zum Versauen.

Damit nicht genug. Chemikalienverseuchte Bäche und Flüsse schäumten weiss. Wälder und Felder dienten als wilde Müllkippen. Unternehmen entsorgten Giftfässer in den Ozeanen, und sogar der «kleine Mann» versenkte schon mal völlig ungehemmt sein Auto in einem See. Die Natur als Abfallhalde erzeugte bei einer zunehmenden Anzahl Menschen aber auch die Einsicht, dass etwas nicht mehr stimmt. Der ungebremste Fortschritt und das zügellose Wachstum hatten einen hohen Preis.

Erstmals literarisch auf den Zusammenhang von industriellem Wachstum und Umwelt aufmerksam machte 1962 die amerikanische Biologin Rachel Carson. Ihr Buch Silent Spring zeigte der Weltöffentlichkeit schonungslos, wie still es im Frühling wird, wenn Vögel aufhören zu pfeifen, weil sie Würmer fressen, die durch landwirtschaftliche Pestizide vergiftet sind. Es war ein erstes, aber deutliches Signal an die Welt: So kann es nicht weitergehen.

Progressive Umweltkritik an der HSG

Um 1970 taucht erstmals das Wort «Umweltschutz» in der öffentlichen Debatte auf und löst allmählich den aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriff Naturschutz ab. Im kanadischen Vancouver verbünden sich 1971 Atomkraftgegner:innen und Leute aus der Anti-Vietnam-Bewegung zu einer kleinen Organisation mit dem Namen Greenpeace.

Überall auf der Welt entstehen in den frühen 1970er-Jahren Initiativen und Umwelt-Konferenzen, die in den folgenden Jahren in der Anti-AKW-Bewegung ihren Höhepunkt finden sollten. In Stockholm kommt es 1972 zum ersten Umweltgipfel der UNO, dem Vorläufer der heutigen Klimakonferenzen.

Auch ein Studentenkomittee der Hochschule St.Gallen organisiert zwischen 1971 und 1981 insgesamt acht hochkarätige Konferenzen zu den Auswirkungen der Wirtschaft auf die Umwelt. Die erste Konferenz trägt den Titel: «Wie gestalten wir die wachsende Wirtschaft umweltkonform? – Allgemeine Bestandsaufnahme der Umweltproblematik». Bemerkenswert für die damalige Zeit und für eine bürgerlich orientierte Wirtschaftsuniversität ist auch der Titel der zweiten Konferenz vom Oktober 1972: «Umwelt, Wachstum, Wettbewerb – Zusammenstellung pro und contra Wachstumsbegrenzung».

Das planetare Grundlagenwerk des 20. Jahrhunderts

Wachstumskritik war 1972 etwa gleich chic, wie unter den damals aufkommenden Discokugeln zu tanzen. Im Frühling des gleichen Jahres – exakt vor 50 Jahren – erschien das Buch Limits to Growth, eine rund 200-seitige Studie, herausgegeben vom Club of Rome, den der italienische Industrielle Aurelio Peccei 1968 gegründet hatte.

Mit dem Club of Rome wollte Peccei, der damals in Führungspositionen bei Fiat und Olivetti war, die Auswirkungen von Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Atomkraft oder steigenden Geburtenraten auf die Ökosysteme und die Menschheit erstmals global untersuchen. Der Club of Rome war die erste internationale Organisation, die sich Gedanken um die Zukunft des Planeten machte.

1970 reist der damals 62-jährige Peccei mit einigen der Clubmitglieder von Rom an die Ostküste der USA. Die Gruppe möchte am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, einen Wissenschaftler treffen, der angeblich mit einem Computer komplexe Szenarien berechnen kann. Der Mann heisst Dennis Meadows. Er ist Ökonom und zu diesem Zeitpunkt gerade mal 30 Jahre alt. Peccei beauftragt Meadows mit nichts Geringerem als einer weltweiten Studie über die Zukunft der Menschheit.

Zwei Jahre Forschung für ein deprimierendes Ergebnis

Zusammen mit seiner Frau, der Biophysikerin Donella Meadows, dem norwegischen Ökonomen Jorgen Randers sowie mehreren Student:innen aus sechs verschiedenen Ländern und 800’000 Dollar Kapital von der Volkswagenstiftung, welche die Club of Rome-Studie finanzierte, füttert Meadows zwei Jahre lang seinen Computer mit Daten: Weltbevölkerung, Nahrungsmittel pro Kopf, Industrieprodukte, verfügbare natürliche Ressourcen und Umweltverschmutzung, alles Daten, die in den vorangehenden Jahren aus unterschiedlichsten Quellen gesammelt wurden.

Die vernichtende Kernaussage des Buches nach zwei Jahren Forschung: Wenn die Wirtschaft und die Weltbevölkerung im gleichen Tempo wachsen wie bisher, sind die natürlichen Ressourcen der Erde in wenigen Jahrzehnten erschöpft. Mit anderen Worten: Der Kollaps ist unvermeidlich.

Gesamtdarstellung des Weltmodells: Das Weltmodell ist hier als Flussdiagramm dargestellt, wie das für dynamische Systeme üblich ist. Physikalische Grössen, die direkt messbar sind, sogenannte Pegel, sind durch Rechtecke symbolisiert; Raten, die diese Pegel beeinflussen, durch Ventilsymbole; zusätzliche Variabeln, welche die Raten beeinflussen, durch Kreise. Zeitverzögerungen werden durch Kombinationen von Rechtecken gekennzeichnet. Reale Bewegungen von Menschen, Gütern, Geld sind mit durchgezogenenen Pfeilen, kausale Beziehungen mit gestrichelten Pfeilen angegeben, die keine Wirkung auf das Modellverhalten ausüben. (Quelle: Dennis Meadows et al.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1973)

Das Buch mit dem Deutschen Titel Die Grenzen des Wachstums löst weltweit ein enormes Echo aus. Auch unter den Student:innen und Professoren auf dem Rosenberg. Aurelio Peccei wird im Sommer 1972 deshalb gleich an die HSG eingeladen, um seine Studie «Limits to Growth» exklusiv im deutschsprachigen Raum zu präsentieren.

Die Arbeit dient der Wissenschaft bis heute als Grundlage für Forschungen jeglicher Art. Peccei und Meadows wollten mit ihrem Bericht einen globalen «Change», einen Umdenkprozess bei den Menschen einleiten und bewusst machen, dass Ressourcen und Ökosysteme kollabieren können, wenn sie übernutzt werden. Heute sprechen wir auch von planetaren Grenzen und von Kipppunkten, die, einmal erreicht, ein Ökosystem unwiederbringlich kippen und zerstören können.

Kritik und unrealistische Szenarien

Neben vielen bis heute realistischen Szenarien weist die Studie aber auch einige Irrtümer auf. Beispielsweise beim Hauptfokus des Buches, der Bevölkerungsentwicklung: «Falls nicht die Sterblichkeit sehr stark ansteigt, was die Menschheit sicherlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern versuchen wird, haben wir in 30 Jahren mit einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden zu rechnen. Und wenn wir weiterhin soviel Erfolg mit unseren Bemühungen haben, die Sterblichkeit zu senken, und so erfolglos bleiben bei der Geburtenbeschränkung, gibt es in 60 Jahren für jeden heute lebenden Menschen vier andere», heisst es auf Seite 30 des Büchleins.

Gemäss dieser Berechnung müssten 2032 mehr als 15 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Das ist natürlich nicht der Fall. Meadows und sein Team konnten vor 50 Jahren nicht wissen, dass Staaten genau aufgrund solcher Prognosen in der Folge die Geburten regulieren würden, beispielsweise China mit seiner Ein-Kind-Politik.

In einem weiteren Kapitel geht es um die Endlichkeit von Rohstoffen. Gemäss Meadows’ Computersimulationen von 1972 hätten verschiedene Rohstoffe bereits in naher Zukunft erschöpft sein sollen: Zinn 1987, Blei 1991, Kupfer 1992 und Erdgas 1994. Seit wenigen Jahren wissen wir hingegen, dass es noch sehr viel mehr Rohstoffe in der Erde gibt. Alleine das Rohöl würde wohl nochmals für weitere 200 Jahre Industrialisierung reichen, der sogenannte «Peak Oil» ist bei weitem nicht erreicht. Heute stellt sich uns deshalb viel eher die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, die gesamten Rohstoffe zu verbrauchen? Gerade CO2-intensive fossile Rohstoffe wie Öl lassen wir wohl besser im Boden.

Wirtschaftsuniversität ehrt Popstars der Wachstumskritik

Auch wenn einige Szenarien falsch waren oder zumindest nicht eingetroffen sind, wurde die Studie in den Grundannahmen in den darauffolgenden Jahren immer wieder wissenschaftlich bestätigt. Auch der im Buch beschriebene Kollaps der Ökosysteme ist mit fortschreitender Klimaerwärmung und dem Artenverlust wohl nur noch eine Frage der Zeit.

Limits to Growth ist ein Grundlagenwerk der modernen Ökologie- und Post-Wachstumsbewegung. Um die Bedeutung der Studie zu verdeutlichen, hat die Universität St.Gallen Peccei 1974 die Ehrendoktorwürde verliehen für seine «grossen Verdienste um die Menschheit mit aufsehenerregenden Resultaten, mit denen er das Weltgewissen aufrüttelt», wie es in den Akten aus dem Archiv heisst.

Auch Co-Autor Dennis Meadows wurde nach St.Gallen eingeladen. 1973 hat er am dritten Umwelt-Symposium über «Strategien der Wachstumsbegrenzung» referiert. Wie visionär Meadows als Forscher bereits damals war, macht sein Vorschlag an die Organisator:innen deutlich. Er schlug vor, während der Konferenz ein Panel zum Thema «Wie soll die Schweiz im Jahre 2000 aussehen?» abzuhalten. «An einem solchen Thema könnte man konkret Zielsetzung, Konsequenz und Problematik der Umweltgestaltung aufhängen», so Meadows damals gegenüber den Hochschul-Verantwortlichen.

2050 ist für uns heute genauso weit weg, wie das Jahr 2000 für Meadows damals. Eine breite öffentliche Diskussion darüber, wie unsere Welt 2050 und darüber hinaus aussehen soll, findet heute weder in den Medien noch in der Politik statt. Das ist schlecht, weil eine grobe Vorstellung unserer Zukunft wichtiger ist als jemals zuvor.

Nochmal ein «Window of Opportunity»?

In den 1970er-Jahren war der Zeitgeist für soziale und ökologische Veränderung nicht nur an der HSG, sondern weltweit progressiv. Es war das Jahrzehnt, in dem ein Fenster der Möglichkeiten offenstand. Ein «Window of Opportunity», in dem im Prinzip alles möglich gewesen wäre. In den USA, aber auch in Europa entstanden unzählige politische Bewegungen, die in den darauffolgenden Jahren grosse Teile der Bevölkerung auf den Strassen mobilisierten.

Das Hauptziel der meisten Bewegungen aus dieser Zeit bestand darin, die negativen Folgen des industriellen Wachstums abzuwenden sowie die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Reaganomics und neoliberale Denkschulen in der Ökonomie ab den frühen 1980er-Jahren setzten der sozial-ökologischen Revolution der 70er aber ein jähes Ende.

Nach einer Pause von fünf Jahren versuchte 1986 auch an der HSG eine neue Generation von Student:innen einen Wiederbelebungsversuch der Umwelt-Symposien. Bereits ein Jahr später gab es jedoch die letzte Veranstaltung dieser Art. Der Wind hatte längstens gedreht. Die Klimaprobleme wären heute wohl weit weniger dramatisch, wäre die grüne 1970er-Revolution weitergelaufen.

Die «Grenzen des Wachstums» wurden aufgrund der düsteren Zukunftsszenarien – oder der nicht eingetroffenen Szenarien – in der Vergangenheit aber auch oft als Panikmache abgewertet. Gleichzeitig ist es paradox, dass wir seit der Veröffentlichung vor 50 Jahren über einen möglichen Kollaps des Planeten Bescheid wissen und dennoch bis heute nicht wirklich engagiert handeln, um die Erderwärmung unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Zumal wir heute sogar über ein Billionenfaches mehr an Daten verfügen und auch leistungsstärkere Computer für Modellrechnungen haben.

Gleichzeitig hat sich leider auch der Glaube als Irrtum erwiesen, je mehr wir die Zusammenhänge der Ökosysteme verstehen und über je mehr Daten wir verfügen würden, desto eher würden wir unser Verhalten ändern und damit die Klimakrise stoppen. Das ist deprimierend, vor allem für jüngere und klimapolitisch engagierte Generationen. Dennoch bietet sich unserer Generation ein neues «Window of Opportunity», das uns noch einige wenige Jahre Zeit gibt, den ökologischen und sozialen Wandel zu schaffen. Wahrscheinlich steht das Fenster dieses Mal aber zum letzten Mal so weit offen, bevor es sich für immer schliesst.

Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten.

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