, 15. September 2016
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Wahlen II: Keine Stimme für Herrn Meier

Die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Keine Angst, das werden sie auch mit den städtischen Wahlen vom 25. September nicht tun. Aber die Redewendung ist trotzdem ein Ärger – ein Generalpass für den Stillstand.

Im Herbst 2016 schlägt sie unüberhörbar, die Stunde der Pragmatiker. Rondomm. Sogar der Newsletter No 1 des jubilierenden St.Galler Kulturlokals Palace ist, wenn auch mutmasslich ironisch, vom Geist des «Erwartbaren» infiziert und verspricht: «Selbstverständlich wollen auch wir uns diesem Zeitgeist nicht verwehren. Zum guten Glück wurden all die Sehnsüchte nach Aufbrüchen in der Ostschweiz kürzlich in ein historisches Jahrbuch verbannt, und gerne diskutieren wir weiter über unser einziges Stammtischthema Autoverkehr, bis die Polkappen geschmolzen sein werden. Als wir vor zehn Jahren das Palace gründeten, wollten wir noch widerständig sein. Mittlerweile sind aber auch wir zur Einsicht gelangt, dass es in dieser Stadt am wichtigsten ist, Verlässlichkeit und Erwartbarkeit zu garantieren. Bloss keine Aufregung! Wir versehen deshalb das Programm unserer ersten Woche der neuen Saison mit den Etiketten ‚tipptopp‘, ‚isch recht so‘ und ‚weisch no?‘. Allfällige Einwände, Widersprüche und Verrücktheiten bitten wir, an der Garderobe abzugeben.»

Politik der Selbstbescheidung

Das St.Galler Tagblatt (zwar in neuem Layout, das aber in erster Linie seinerseits pragmatisch ist, nämlich: um künftig mit der Luzerner Zeitung reibungslos kooperieren zu können) erklärt in Leitartikel und Vor-Wahl-Serie die bisherigen fünf Stadträte samt Stadtpräsident allesamt bereits als wiedergewählt. Trotz Kampfkandidaturen. Stadtpräsident Thomas Scheitlin wird dabei, stellvertretend für alle, in der jüngsten Ausgabe als «fortschrittlicher Pragmatiker» angepriesen, als «sicherer Wert» und als einer, der weiss, dass in seiner Stadt «die Bäume nicht in den Himmel wachsen».

Das haben sie zwar noch nie getan. Und wie es um die Bäume am Union steht, falls die dortige Tiefgarage bewilligt werden sollte vom jetzt zu wählenden Stadtrat, weiss man auch: Sie müssten fallen statt in den Himmel wachsen. Doch so schief das Sprachbild ist, so beliebt ist es bei den Anhängern des «S’isch scho immer eso gsii» und «Dö chönnt jo jede cho» und «Isch recht so». Eine andere, viel beschworene Qualität ist die «Bodenhaftung». Politik mit Saugnäpfen…

Die bewahrerische Tonalität steht für eine Haltung der Selbstgenügsamkeit, des Nicht-zuviel-Wollens und der mentalen Selbstbescheidung, wie sie St.Gallens jüngere Vergangenheit kennzeichnet. Ein Kritiker dieser Haltung (ausführlicher nachzulesen im kommenden Oktoberheft von Saiten) sagt es heftig: Er habe erst in der Stadt St.Gallen das Wort «brötig» kennengelernt – aus dem Mund der Städter selber, die es sich solange einreden, bis sie selber und alle anderen dran glauben…

Ideenlos in die Wahl

Klar: Politik ist die Kunst des Aushandelns, der Austarierung gegensätzlicher Ansprüche, der Suche nach dem gemeinsamen Nenner und dem mehrheitstauglichen Machbaren. In diesem bedächtigen Prozess haben Visionen und «grosse Würfe» einen schweren Stand. Und ebenso klar: Manchmal ist es besser, nichts zu machen als das Falsche – das wäre jedenfalls die Devise bei der übelsten städtischen Anti-Vision: dem Plan eines neuen Autobahnzubringers mitten in der Stadt, beim Güterbahnhof.

In diesem Wahlkampf sind bisher denn auch – ausser der frischfröhlichen, aber eher unpolitischen «Lattich»-Zwischennutzung im Güterbahnhof – keine neuen Ideen aufgetaucht. Und wenn, dann solche, die das Alte halten wollen: die sogenannte Mobilitätsinitiative, die dem Auto die Bahn frei machen will, sowie die Schuldenbremse, das beste Mittel gegen Entwicklung überhaupt. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die jungen Grünen ihrerseits auf die Bremse, mit ihrer Doppelinitiative zum Schutz des Grünen Rings und zum verdichteten Bauen – Anliegen, die immerhin mit der Angst vor weiterer Zersiedelung gut begründbar sind.

Schutz für den Grünen Ring hier – freie Bahn fürs Privatauto dort: Dahinter stehen sich, in der Stadt St.Gallen wie vielerorts sonst auch, gegensätzliche Entwicklungsperspektiven und Nutzungskonflikte gegenüber. Visionär wird man beide nicht nennen wollen, dennoch: Welche dieser raumplanerischen Positionen man politisch stärken will, auch das kann man am 25. September mit dem Wahlzettel kundtun, fürs Stadtparlament wie für den Stadtrat. Dieser ist, entgegen den Präventivprognosen des «Tagblatts», ebenfalls erst am Wahlsonntag gewählt.

Ludwig Hohls «ewiger Hemmschuh»

Den Wahlzettel auszufüllen könnte aber auch mehr als das heissen. Es könnte Anlass sein, sich zu überlegen, wem man eine Politik zutraut, welche die Stadt in der näheren Zukunft lebenswert und menschenfreundlich macht. Ohne solche Perspektive, ohne Zukunftsfunken ist der Mensch nur ein halber Mensch. Und die Stadt nur eine halbe Stadt. Es braucht zumindest einen Hauch an freiem Denken, es braucht Fantasien, wohin es mit uns und mit der Stadt gehen soll. «Isch recht so» ist keine inspirierende Antwort darauf.

Der Schriftsteller Ludwig Hohl hat in seinen «Notizen» und anderen Texten ein Leben lang gegen die Vertreter des «Isch recht so» angeschrieben, gegen Leute wie den «Apotheker» oder «Herrn Meier», wie er sie nannte: «Herr Meier, das ewige Loch und der breiige Abgrund, der ewige Hemmschuh, beschäftigt mit seiner Lieblingsidee, dass, wie es immer war, so es sein soll» (aus Hohls Text Von den hereinbrechenden Rändern, in dem im übrigen auch der Satz steht: «Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern»).

Der Mensch, davon war Hohl überzeugt und daran kann man auch in Wahlzeiten wieder einmal erinnern, ist das Wesen, das über sich hinauswachsen will – zumindest ein Stück weit. Bis in den Himmel muss es ja nicht sein.

Bild: hansuelistettler.ch

 

 

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